Freiblog für alle

Irgendlink schenkt Deutschland 41 Millionen Blogeinträge

Tag 92. Frühmorgendliche Mail aus der Kunstzwerg-Zentrale: das Festival, das letztes Jahr auf dem einsamen Gehöft stattgefunden hat, wird in diesem Jahr vom 3. bis 5. August stattfinden. Mister Oberverpeiler Irgendlink hatte das Ereignis mit Performance und anderen schrägen Künsten für Ende August in Erinnerung. Das bringt Sorge. Mir wird die Zeitknappheit bewusst. Ich kann nicht gleichzeitig durch die Weltgeschichte radeln und in meinem Atelier ein interdisziplinäres Kulturfestival veranstalten.

Graue kalte Wirklichkeit, durch die es sich plötzlich ganz anders radelt. Der Takt. Der Arbeitstakt. Die strenge Verzahnung multipler Menschenleben. In sich verschränkte Sphären verschiedener Interessen. Ich trete ordentlich rein auf der Strecke ab Tating bis Sankt Peter Ording. Widerliche Touristengemeinde. Ich kann kaum verstehen, einmal „dazu“ gehört zu haben, es genossen zu haben, Eis leckend an T-Shirt-Läden vorbei flaniert zu sein. Der zwölf Kilometer lange und bis zu zwei Kilometer breite Sandstrand, der in meiner Touristenkarte als die größte Sandkiste der Welt bezeichnet wird, verbirgt sich hinter einer Phalanx aus Pensionen und Hotels. An der Wand eines glänzenden Bettenpalasts steht in Großbuchstaben EMPFANG. Willkommen fremder Gast, willkommen Kunstbübchen.

Ich fühle mich unwohl unter den Regenkleiderwurstähnlichen Wesen. Satzfetzen zwischen Fußball und wie wird das Wetter schwirren durch die Luft. Eine fette Limousine mit Münchner Kennzeichen spuckt einen braun gebrannten Kerl aus. Poloshirt, Sonnenbrille auf Haartransplantat.

Diese Zeilen sollten eigentlich gar nicht geschrieben sein. Ich hatte sie begonnen, nachdem Ray und ich über Sankt P.-O bei strömendem Regen bis Meldorf geradelt waren, klatschnass nach achzig Kilometern in den Zug gestiegen sind und für 9€ die letzten fünfunddreißig Kilometer bis Itzehoe überbrückt hatten. Kommentator Stefan, mit dem ich mich für den Abend verabredet hatte, erwartete uns am Bahnhof. Aufzug außer Betrieb. Willkommen Deutsche Bahn. Der Takt. Schon kann ich ihn deutlich spüren. Die Reise endet. Monatelanges Nichts, Unformat und Leere gehen nahtlos zurück in die getaktete Welt. Schwer zu erklären, wovon ich rede, vielleicht muss man „da draußen“ gewesen sein, das erlebt haben, was ich erlebt habe, um das Dasein im verzahnten deutschen Land als unangenehm eng zu empfinden. Stefan lotst uns per Hase und Igel-Technik durch die Stadt zu seiner Wohnung, indem er ein Stück Weg erklärt durch die Fußgängerzone, das er per Auto nicht durchqueren kann, uns am anderen Ende erwartet, aus dem Wagen steigt, das nächste Wegstück erklärt, wieder an einer Ecke wartet und das letzte Stück erklärt. Immer steht er igelhaft an einer Straßenkreuzung und wartet auf uns. Im Garten bauen wir die Zelte auf.

Die nassen Kleider zum Trocknen auf den Dachboden. Ein Problem sind die Schuhe. Trotz Neoprenüberziehern völlig durchweicht. Die müssen ausgestopft werden. Stefan erinnert sich, dass er kürzlich seine erste Bildzeitung im Briefkasten hatte. Deutschlands meist weggeworfene Tageszeitung – es dürfte auf der Hand liegen, dass ein Produkt, das als das meist genutzte gilt, in unserer hochgradig auf Konsum getrimmten Gesellschaft, auch gleichzeitig das meist weggeworfene Produkt ist.

Zum sechzigsten Geburtstag hatte das Blatt sich etwas ganz besonderes ausgedacht, jeder Haushalt des Landes sollte ein Exemplar des Blatts im Briefkasten haben. Zum Ausstopfen der Schuhe taugt es vorzüglich. Freibild für Alle. Das erklärt den Titel dieses Artikels, den ich gestern irgendwann begonnen habe, wegen Speedlifes und Stadtspaziergang und Kommunizieren aber nicht zu Ende geschrieben habe.

Vorhin, kurz nach drei soll sich das ändern. Die Nachbarn kommen heim, stratzvoll und feiern in der Wohnung über dem Garten weiter. So säuselt schon bald Reggaemusik, nicht unangenehm, aber wie das so ist, mit Saufgelagen, sie werden nach und nach lauter, man singt letztlich mit, wenn es heißt Stand up for your right dumdidelda, dumdieldei.

Nun bin ich vollends zurück im Lautleben Deutschland, wird mir klar. Ich überlege, aufzustehen für mein Recht auf Schlaf, beschließe stattdessen, den Artikel fertig zu schreiben und mir Gedanken zu machen, wie ich das bevor stehende Speedleben wieder bremse. Dass ich auch das Kunstzwergfestival vergessen konnte – als Gastgeber und Atelier-zur-Verfügung-Steller, muss ich vor Ort sein. Erstmals auf der Reise muss ich Zeit einteilen. Es dient nur Deiner Resozialisierung, genau wie die laute Musik der Nachbarn. Ha. Mit Gedanken über die vielfache Interpretierbarkeit des Begriffs Rücksicht, döse ich gegen sechs Uhr wieder ein. Der Arbeitnehmerstadtlärm übertönt nun Pink Floyd, welches seit Reggae sphärisch säuselt. Versteh einer das Nachtvolk, versteh einer das Tagvolk. Am besten ist, man hält sich von beidem fern. Ich werde die nächsten Tage alleine weiterradeln, um meinen Takt wieder zu finden. Die Kunstmaschine ist erheblich gestört.

Erstaunlich, wie wenig es braucht, dass es so weit kommt. Mein Plan ist, bis Oldenburg zu radeln, Freund S. zu besuchen, das Gepäck dort zu lassen, 10 Tage Urlaub mit der geliebten SoSo in Hamburg zu machen, und anschließend von Oldenburg bis Boulogne zu radeln, wo mich hoffentlich ein Komitee aus Zweibrücken abholt. Die Strechtlimousine des Oberbürgermeisters wäre mir gerade gut genug, mit Champagner, Blondinen – streich die Blondinen, das könnte SoSo verletzen (aber das gehört doch rein in das Klischee der Stretchlimo) –, Ausschweifungen, Eimer Koks auf Spiegel … stop, stop, stop! Zurück zu Reggae und Pink Floyd.

Ein Gespräch mit Stefan über den Wert der Dinge oder die Welt der Dinge, wäre erwähnenswert und der grandiose Besuch auf Planet Alsen – allein, ich bin nicht in der Lage, das in Worte zu fassen, ja, insbesondere die Sache mit dem Wert der Dinge, würde prima in den Artikel zum Thema Mangel passen, ungeschrieben, eine Blogleiche, an die ich mich nicht heranwage. Das Liveschreiben hat eindeutig seine Grenzen, wenn es darum geht, komplexere Themen auszuarbeiten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 93 – Day off in Itzehoe

Nach dem ausgiebigen Frühstück im Musikcafé habe ich lange nichts mehr von den Jungs aus Itzehoe vernommen.

Die drei Männer waren am Pizzabacken, als ich die nächste fürs Blog relevante Nachricht las. Und ich vermute, das Blog muss einfach mal ohne neue Nachrichten von Irgendlink auskommen. Pause ist immer mal gut. Und schon bald – vom 5.7. bis am 15.7. – wird es sogar eine längere geben. Da werden sich Irgendlink und Sofasophia nämlich ein wenig zurückziehen und den Norden Deutschlands kennenlernen.

>>> Day off: heute gibt es keinen Streckenlink :-)

Tag 92 – Bild

Sitzen in nem Musikcafé beim Frühstück. Zum Texten gerade keine Zeit, schrieb Irgendlink heute Vormittag.

Bitte nicht meckern, denn statt eines Blogartikels mailte er uns dies hier. Aufgenommen gestern bei St. Peter.

 

Tag 92 – die Strecke

Klatschnass in Meldorf, schreibt Irgendlink um neunzehn Uhr. Ohjemine, denke ich. Und: Das könnte ein Filmtitel sein!

Sind im Zug nach Itzehoe. Stefan holt uns vom Bahnhof ab, lese ich um viertel nach acht.

Kaum zu glauben, dass es woanders so regnet kann, wo wir hier und heute an der Sonne fast geschmolzen sind. :-)

>>> Tating – Itzehoe: zum heutigen Kartenausschnitt (inkl. Eisenbahn): bitte hier klicken!

The Eiderdaus Eider Nordwand Witzwort Ouh

Nordstrand ist tatsächlich größer geworden, seit ich 1992 hier campiert hatte. Nördlich des Fahrdamms ist ein riesiges Naturschutzgebiet „gewonnen“ worden, als man bei Deicherneuerungsarbeiten einfach die Abkürzung Richtung Hamburger Hallig genommen hatte, anstatt kurvenreich den alten Deich zu sanieren, erklärt mir Campingplatzbesitzer Paulsen. Vor einer Landkarte stehen wir und reden über die Gegend. Wieder einmal wird mir klar, wie flexibel das Spiel zwischen Mensch und Natur ist. Ich muss an die Überreste der alten Eselspfade im Jossefjord denken, die sich fragmentarisch, mit maroden Seilen markiert an den Steilwänden erhalten hatten; an all die Pyrenäen- und Alpenstraßen, die ich erradelt habe. In den Tälern sieht man eine vertikale Projektion menschlichen Ringens mit der Natur, hier im Flachland sieht man es in der Regel nur von oben. Es sei denn, der Mensch setzt Denkmäler. Oft sieht man Hochwassermarken an Häusern, kleine Striche mit Datum. In Husum, welches Ray und ich gegen 14 Uhr erreichen, hat man vor einem Museum mit einer Sonderausstellung zum Deichbau eine blaue Linie gemalt, die den Wasserstand zur Sturmflut, ich glaube von 1962, markiert. Zwei Meter hoch bis in den ersten Stock. Letzten Endes werden wir verlieren, denke ich und das Meer gewinnt. Das Meer ist einfach mehr, scherze ich, Wind auf zwei Uhr, keuchend durch die nicht sehr schöne Gegend raus aus Husum.

Sechseinhalb Kilometer später steht das erste „üwerzwerche“ Radwegeschild Deutschlands. Schräg zeigt es über einen Deich, auf dem eine Straße verläuft, in ein Privatgelände. Die Trasse durchquert den Hof und mündet in ein fünfzig Zentimeter breites Stück Pflasterweg, gesäumt von hohem Gras. Dem Deutschen fehlt offenbar das Grasmäh-Gen, das den Dänen allsommerlich hinter die Rasenmäher zwingt. Eine Simulation von Urwald, Orientierungslosigkeit. Hinter einer Hecke duckt sich ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Witzwort“. Laut Karte liegt dieses Dorf fünf Kilometer abseits der Nordseeroute. Aus Mangel an Alternativen folgen wir dem Pfad, stoßen immer wieder auf Witzwort-Hinweisschilder, so dass ich Ray von meinen Verkehrsministern erzähle, denen ich auf flapsige Weise allen Bockmist anhänge, den die Kollegen Radwegebauer in den jeweiligen Ländern verzappt habe. Von einer Dynastie aus tollpatschigen Typen erzähle ich, deren Stammbaum sich zurück verfolgen lässt bis zu Marco Polo oder Odysseus – in Schweden habe ich den Verkehrsminister glaube ich Björn K. getauft, in Norwegen war es Sverre K. Die dänische Verkerhsministerin heißt Ulla K. Sie ist die einzig Helle in der Familie. Sie hat ihre Aufgabe gut gemacht. Bei den dänischen Radwegen gibt es nichts zu beanstanden, sind wir uns einig.

Nun Deutschland. Der Nordseeküstenradweg ist okay. Die Beschilderung könnte besser sein, insbesondere in den Städten. Witzwort vier Kilometer. Der deutsche Verkehrsminister heißt Dr. Karl Theodor August zu K., skizziere ich am offenen Herzen der flapsig erradelten Liveliteratur. Wir passieren schon wieder ein Witzwort-Schild, was mich auf die Idee bringt, eine Geschichte zu schreiben, in der der kleine, naseweise, K. T. August zu K., kaum des Namenschreibens mächtig, von einem schmeichelnden bösen Onkel überredet wird, seinen Namen unter ein Dokument zu setzen, alleine mit der Verlockung, na, mein Kleiner, kannst Du denn schon deinen Namen schreiben? Das Dokument ist nichts anderes, als die Bestellung für 666 Witzwort-Fahrradweg-Hinweisschilder. Machen wir uns nichts vor, Witzwort ist ein Kaff wie jedes andere in Deutschland. Nur ein naives Kind würde 666 Fahrradweg-Hinweisschilder kaufen, die auf ein Dorf mit vielleicht 500 Einwohnern hinweisen.

Kilometerweit radeln wir durch die Wiesen auf einem geklinkerten Pfad und finden nur Witzwort-Schilder, bis zu einer Kreuzung vor Uelvesbüll, wo der Herr Dr. sich erbarmt und ein einzelnes, verlorenes Nordseeküstenradwegschild aufgestellt hat. Kurz hinter Uelvesbüll stehen wir wieder im Nichts, fragen zwei Rentner, die gerade vorbei kommen, nach dem Radweg. Sie zucken die Schultern, schauen vor, zurück, rechts, links, kratzen sich am Kopf und zeigen Richtung Osten: Da fahren sie am besten die Straße runter, dann rechts nach Witzwort … Neeeeeiiiiin! Obwohl es im Flachland kein Echo gibt, hat ein imaginärer Toningenieur in diesen live geschriebenen Blogartikel ein gellendes Neeeeiiiin! eingebastelt.

K.T. August zu K. ist nun schlachtreif. Schnell skizziere ich vor Ray ein Szenario, in dem der deutsche Zweig der Familie K. sich im Krieg 1870-1871 in Frankreich das „zu“ im Namen verdient hatte, indem der alte Unteroffizier Ferdinand K., nur bewaffnet mit einem rostigen Bajonett, eine Kompanie Franzosen festgenommen hat. Vom Kaiser höchstpersönlich wurde der Kriegsheld ausgezeichnet und ein zweites T im Nachnamen hat er sich auch verdient.

Ray schaut mich fassungslos an, so als radele er neben einem Spinner, der ihm phantastische Lügengeschichten erzählt. Macht er ja auch. Wie heißt der schottische Verkehrsminister, fragt er. Den gibt es leider nicht. Die Idee mit den Verkehrsministern kam mir erst, als ich mich in Norwegen und Schweden über die miserable Radwegbeschilderung geärgert habe.
Hach, die Tücken der Liveliteratur. Wenn ich an einem „echten“ Buch arbeiten würde, könnte ich jetzt prima noch eine Maggie K. für England erfinden, eine toughe, unnahbare Lady, die ein strenges Konzept durchsetzt, das zwar das Land in den Ruin treibt, aber wenigstens einen perfekt beschilderten Radweg hervorbringt, die Nummer 1, das Aushängeschild. Den Schotten würde ich Willie nennen und er hätte einen Bart. Frankreich ganz klar Francois, in Belgien und Luxemburg bin ich noch unschlüssig, aber hey, so ist das nun Mal, ich kann nicht an dieser Stelle des Buchs einfach zurückgehen, und wild irgendwelche Lügengeschichten einflicken.

Kannst du nicht?, fragt Ray.
Der Wind trägt unser beider Gedanken davon, während wir nach Westen radeln, hinaus auf die Halbinsel Eidersted.

Ich kann nicht erklären warum, aber aus einer eher mäßig betrachtenswerten Gegend voller Wiesen, Getreide- und Maisfelder, die von Deichen durchzogen sind, wird mit einem Mal ein wahres Wunderland, dessen Friede sich auf die Seele legt. Ich muss an Kommentatorin Szintilla denken, die geschrieben hat, dass das ihre Wahlheimat war für lange Jahre. Ist es diese Nuance anders, dieser knapp ein Meter hohe Hügel dort links, kurz vor Garding, der es ausmacht, dass plötzlich alles wunderschön ist?

Irgendwo nördlich liegt Augustenkoog. Die Wiege der Clowns? Weiter südlich liegt ein Ort namens Welt. Ha. Wenn man sich sputet, kann man in ein paar Stunden Welt umrunden, einfach dem Radweg Richtung Sankt Peter-Ording folgen, ein bisschen in der größten Sandkiste der Welt, so heißt es im Touristenprospekt, spielen, dann auf der Südseite des Eidersted zurück, vorbei am Katinger Watt (vermutlich den Schildern Richtung Witzwort folgen).

In Garding um 19 Uhr ein Zwischenstopp, bisschen Fotografieren. Vielleicht kriege ich ja eine Szintilla-Bildtafel zusammen. Was schwer ist. Das Flachland hat, rein fotografisch gesehen, seine Tücken. Also zieht es mich automatisch dorthin, wo es Vertikales gibt. Häuser, Kirchen, Denkmäler. Garding wird saniert. Baumaschinen, Kopfsteinpflaster, aufgerissene Straßen. Abendstille. Tolle Türen und Hausnummern haben sie, und der strenge Mommsen starrt von seinem Sockel. Neunzehnhundertnochwas hat er den Literaturnobelpreis gekriegt, lerne ich. Ob es damals leichter war, den Preis zu erhalten, als heute? Wie lange es wohl dauert, bis ein Blogger, eine Bloggerin den Literaturnobelpreis erhält? Ich stell mich mal an.