Tag 66 – die Strecke

Ich baue mein Zelt hinter dem Bedehaus (Gebetshaus) in Laget bei Risør auf, direkt am Fluss, schreibt Irgendlink kurz nach halb acht.

Auch heute wieder der aktuelle Ausschnitt auf der OpenStreetMap: bitte hier klicken!

>>> Nähe Wasserreservoir bei Grimstad – Laget bei Risør: zum Kartenausschnitt mit der heutigen Etappe: bitte hier klicken!

Das gelben Guugl-Männchen zeigt uns Irgendlinks Wildzeltplatz: dazu hier klicken. In der Nähe der Bank steht sein Zelt, mit Blick auf die Brücke. Nur ist es heute nicht ganz so schön wie auf dem Bild. Es hat sogar geregnet.

Konzern der Bettler

Ich darf mir nichts vormachen. In Åros Feriensenter bin ich eindeutig fehl am Platz. Es ist ein gutbürgerlicher Hüttenpark mit Minigolf, Swimingpool. Etwas für Urlauber, nicht für Reisende. Dennoch war ich froh, mich mal wieder duschen und rasieren zu können. Den Zwischenakku lasse ich über Nacht in der Rezeption an der Steckdose. Morgens ist es nicht einfach, ihn wieder zu bekommen. Niemand weiß, wie das Ding mit den vier blauen Lichtchen aussieht und es ist auch nicht leicht, es der polnischen Putzkolonne zu beschreiben. Die Rezeptionistin vom Abend, die es an die Steckdose gestöpselt hatte, wird erst mittags wieder vor Ort sein. In einem heiden Kabelsalat finde ich das Ding schließlich, proppenvoll.

Bis Kristiansand verirre ich mich. Stadt voller Sommermenschen auf Einkaufsbummel in der Fußgängerzone. Die E39 endet am Hafen mit einem Hinweisschild Richtung Dänemark. Skandinavisch klares Licht wirft skandinavisch scharfe Schatten in die Rechteckstadt. Alle Straßen sind parallel zueinander, laufen senkrecht aufeinander zu. Karomuster. Grausam blecken Preise: ein T-Shirt für 500 Kronen, Tilbud, Sonderangebot, Hosen und andere Klamotten, Sonnebrillen ab 300, teile es durch 7,5 und dir wird angst und bange. Im Kontrast dazu sitzen Kopftuch und Rock tragende Frauen vor den nach Plan an jeder Straßenkreuzung aufgestellten Mülltonnen. Mit dem Oberkörper wippend schwingen sie einen Pappbecher, in dem Münzen klingen. Flehender Blick. Eingekeilt zwischen Schickimicki und totarm schleicht der Europenner durch die Gassen. Eine Kalkulation ergibt, wenn ich jeder der Frauen nur fünf Kronen gebe, gehe ich als armer Mann aus Kristiansand. Spalier der Bettler, genau wie in Santiago im Dezember 2010.

Vor der Kirche, die in der Sonne strahlt, ducke ich mich in den Schatten eines zweistöckigen Cafés, checke Mails, mache ein Foto. Ein dicker Junge spricht mich an, versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln, wackelt mit einem Pappbecher. Der Eindruck Bettelbande, den ich bei den fast wie Zehnlinge wirkenden Frauen mit den Kopftüchern hatte, verstärkt sich. Der Junge schielt in meine offene Lenkertasche. Sündhaft teure Nikon, darunter der Geldbeutel und ein komisches, wertvoll wirkendes Ding mit vier blauen Lichtern. Wenn er jetzt zulangt und abhaut, hat er gute Karten, ein Schnäppchen zu machen. Er ist lästig, ich wimmele ihn ab, gebe ihm nichts, was sonst nicht meine Art ist.

Ich glaube, das kumulierte penetrante Becherwinken ist schuld daran, dass ich so ärgerlich bin über diese Lästigen. Der Eindruck Bettelbande bleibt als Bild für Kristiansand. Auf dem Weg stadtauswärts versuche ich mir vorzustellen, wie es hinter den Kulissen der Bettelei aussieht. Dieser Bettelei. Mir ist klar, dass es sich bei dem, was ich gesehen habe, nicht um Einzelschicksale handelt. Zu sehr waren Kleidung und Gehabe der armen Teufel einander ähnlich, als dass es ein Zufall sein könnte. Gerne wüsste ich mehr über sie, woher sie kommen, wie sie leben – schon in Zweibrücken auf dem Lebende-Statuen-Strich ist mir aufgefallen, dass es sich bei den drei vier in der Stadt postierten Jungs, die sich mal barock, mal ganz in weiß gekleidet, als Statuen zum Betteln aufgestellt haben, um eine Gruppe handelt. Ich habe sie in ihrer Mittagspause erwischt, in der sie alle zusammen vergnügt schmatzend an einer sonnigen Ecke gesessen haben. Reicht es also, wenn man der Armee der Bettler beim ersten Posten ein Fünfkronestück gibt, das dann in die gemeinsame Kasse fließt?

Über die Varoddbrücke überquere ich den Topdalsfjord. Nicht schön entlang der E18, die vierspurig nach Oslo führt. Die Weltwirtschaft neigt dazu, aus vielen unabhängigen Kleinen wenige, mächtige Große zu bilden. Findet in der Bettelei eine Art Konzernbildung statt? Ist dies vielleicht sogar nötig? Wenn du in einem bitterarmen Land ohne Hoffnung lebst, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Probleme … freiwillig verlässt niemand die Heimat. Es muss einen dringenden Grund geben. Freiwillig entblößt auch niemand seine missliche materielle Situation auf offener Straße im Schmutz vor überquellenden Mülleimern (btw: streikt in Norwegen auch die Müllabfuhr? Die Tonnen Kristianstadts waren allesamt überlaufend voll). Es muss einen Grund dafür geben, dass Menschen so „tief“ sinken. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz. Wir „Reichen“ in den fetten Ländern sind nur durch das Ungleichgewicht, das sich im Laufe der Zeit in jeden Wirtschaftskreislauf einschleicht, so reich und die „Armen“ in unseren Produktionssklavenländern sind aus eben diesem Grund zu Armen geworden. Wie Schatten und Sonne in Kristiansand. Wirtschaftsbübchenexpertenhaft vor mich hin brabbelnd radele ich weiter.

Ko hatte mir empfohlen, statt der Radlerroute über Birkeland die alte E18 zu benutzen, die nicht so stark befahren sei, die neue vierspurige Trasse führe über Brücken und Tunnel den ganzen Verkehr ab. Eine Weile beobachte ich die Abzweigung an einem Kreisverkehr: Kolonne von neun Autos hinter zwei Schwerlastern. Alle fahren auf die alte E18, eine weitere Kolonne ebenso. Weshalb ich die Radelroute nehme, die knapp 15 km länger ist, aber durchs Tal der Tovdalselva idyllisch pur ist. Gekrönt von der Mollestadeika, einer tausend Jahre alten Eiche, in Norwegen der drittgrößte Baum.

Von Birkeland nach Lillesand und weiter, wieder für acht Kilometer mehr schiebend als radelnd auf losem Geröll über ein Stück Vestlandske Hovedvegen. Ich kann nicht glauben, dass man früher mit Pferdekutschen die Stücke bis zwanzig Prozent oder mehr Steigung gefahren ist. Mücken zerstechen meine Beine, während ich Doppelschritte zählend durch dichten Wald ackere, erst kurz vor Grimstad komme ich in Roresand am Trinkwasserreservoir des Roresees zur Ruhe. Starker Wind umzaust nun mein Zelt. Ich habe gar keine Lust, da raus. Sonne und Wolken im Mix.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)