Touristenroulette

Im Gegensatz zum Dunnet Head, dem nördlichsten Zipfel der britischen Insel, ist Lindesnes, die Halbinsel im Süden Norwegens, wunderschön. Der Leuchtturm eine Augenweide, nicht so umbaut und unzugänglich und kahl, wie der am Dunnethead. Ich bleibe auch von Natofliegern verschont. Die Sonne scheint. Bei zehn Grad weht ein steifer Westwind. Ein Zehnkilometer-Abstecher von der Nordseerunde, der sich lohnt. Unweit des Südkaps befindet sich auch ein Campingplatz. Letzte Einkaufsmöglichkeit ist der Kiwimarkt in Høllen, nur für den Fall, dass jemand …

Im bogenförmigen Besucherzentrum lade ich Akku und schreibe den vorigen Beitrag. Zersiedelt. Zerfahren. Ich fühle mich so matschig wie nach der schlimmen Nacht auf der Shetland-Fähre. Das ist es. Ich komme einfach nicht mehr so gut mit Unregelmäßigkeiten zu Recht. Je älter man wird, desto starrer wird man, desto intoleranter, desto anspruchsvoller.

Ein Rückwärts, wie es die Natur von Grund auf vorsieht, ist dem modernen Menschen ein Gräuel. Seit unsere Gesellschaft sich dem ewigen Wachstum verschrieben hat, phantasiere ich, haben wir diese Probleme mit dem Rückwärts. Wer käme heute auf die Idee, weniger Lohn zu verlangen, anstatt mehr? Selbst Stillstand in der Lohnspirale, ist schon ein Drama. Weniger Urlaub? Weniger Feiertage? Weniger Geschenke, als letztes Weihnachten? Wir leben in einem Ballon, der permanent mit Luft gefüllt wird. Jedes Kind weiß, dass Ballons irgendwann platzen. Baff! Der stetige Wandel zwischen Kommen und Vergehen, wie es die Natur vormacht mit geboren werden und sterben, ist etwas, was einen niemand lehrt. Nenn‘ es Erfahrung. Schau‘ gut hin. Höre auf deinen gesunden Menschenverstand.

Am kleinen Beispiel „Ich“ erfahre ich, dass ich die beiden Fjordttage mit den ewigen Steigungen gepaart mit den begrenzten Lebensmittelressourcen wider die Natur gehandelt habe. Ich habe ewiges Wachstum gespielt, wie die großen Wirtschaftsmogule es da draußen in der Welt tun. Durch die Glasfront des Besucherzentrums in Lindesnes starre ich in das Rund, ein offener Platz, über den wenige Touristen scharwenzeln – sie alle laufen vom Kassenhäuschen bei der Schranke, links in meinem Blickfeld, erst einmal in die Mitte des von Felsen umrundeten Platzes, orientieren sich, blättern ohne nachzulesen in dem Prospekt, das man ihnen in ihrer jeweiligen Landessprache gegeben hat, spähen die Möglichkeiten aus: über eine Rampe kann man zu den Häusern nördlich des Leuchtturms gelangen und zu einer Bucht voll blauen Wassers. Die holprige Granittreppe direkt daneben führt offenbar direkt zum Leuchtturm und die breite, forumsähnlich gebogene Treppe ganz rechts in ihrem Blickfeld führt in das Besucherzentrum, in dem ich sitze. Von außen sieht das Besucherzentrum aus, wie eine Cafeteria. Aber hinter einer Phalanx aus Tischen, Kinderspielecke und gemütlichen Loungebänken hat man drei Höhlen in den Fels gemeißelt, in denen sich zwei Kinos befinden und ein Ausstellungsraum. Hier wird über die Geschichte der Leuchtfeuer in Norwegen informiert. Im großen Kinosaal zeigt man abwechselnd, immer zur vollen Stunde, einen Film auf Englisch, Deutsch und Norwegisch.

Später, als ich, noch immer müde, im Hof auf der Bogentreppe sitze, kann ich den familieninternen Entscheidungsprozess der Neuankömmlinge hautnah akustisch erleben. Ich spiele mit mir selbst Touristenroulette. Das Pärchen wird zunächst in die Cafeteria gehen, wette ich. Die wollen Leckeis essen. Eine fünfköpfige Familie verblüfft mich. Schon von weitem höre ich, dass sie aus Deutschland kommen: „Sieben Euro hat uns das jetzt gekostet, pro Person!“, nörgelt die Mutter. Die fast erwachsenen Kinder, schätze ich, werden zuerst zum Leuchtturm hoch wollen. Aber sie hat die Hosen an: „Da rein“, sagt sie, „guckma, was im Prospekt steht.“ Er schweigt. Treu folgen alle.

Ich stelle fest, dass das Alleinereisen Vor- und Nachteile hat. Man ist zwar frei, aber seiner Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit völlig ausgeliefert.

Gegen 16 Uhr spüre ich wieder Kräfte, ackere hinauf zum Haus des Webmasters, der mit mir ein Interview machen wollte, treffe ihn nicht an, besteige das Radel, verlasse Lindesnes auf dem Weg, den ich gekommen bin, kaufe noch einmal im Kiwimarkt in Høllen ein, radele weiter auf dem Radweg Nummer 1, der über die fast unbefahrene 460 nach Vigeland führt. Da er so gut wie flach ist, jubiliere ich innerlich. Ich könnte es bis Mandal schaffen. Dort auf den Zeltplatz, der in der Karte eingezeichnet ist. Vielleicht treffe ich sogar Matt wieder, den ich morgens kurz gesehen hatte. Er wollte auch nach Mandal. In Vigeland steht ein Schild: Radweg nach Mandal 11 km. Ha. Das ist nichts. Dennoch sagt mir ein Gefühl, dass ich meine Wasserflasche auffüllen soll. Bei einer Tankstelle. Weiter flache Strecke an der E39 entlang auf separatem Weg. Das macht Laune bis …

… der Vestlandske Hovedveg, jene alte Postroute von Oslo über Kristiansand nach Stavanger hat mich wieder. Ungeteeerte Splitroute, wunderschön, nur noch geschätzte 8 km bis nach Mandal, aber bei Steigungen um zwanzig bis dreißig Prozent muss ich schieben. Die Vegetation ist grandios. Dichter Wald, untermauert von Felsen. Mein Zeltplatz in Mandal rückt in weite Ferne. Ich bin froh, dass ich für’s Wildzelten gerüstet bin. Um ehrlich zu sein, ich mache es gerne. Ich habe gerne keine Menschen um mich. Der einzige Reiz, den ein Campingplatz hat, sind Wifi und Dusche.

Der Vestlandske Hovedveg führt nur wenige hundert Meter parallel zur E39 vorbei an einem See namens Hegrestadvatnet. Bei der Hegrestad Brücke, einem kaum vier Meter langen Holzsteg, baue ich das Zelt direkt am Weg auf. Zwei norwegische Radler auf dem Weg nach Lindesnes, morgens in Kristiansand gestartet, und vorhin ein Mountainbiker, sonst niemand. Ich wasche mich im See. Tauche bis zum männlichen Hirn ein ins eiskalte Wasser. Tausende Stechmücken, weshalb ich im Zelt koche, und leise säuselt die E39 in der Ferne.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 63 – die Strecke

Heute hat Irgendlink bereits seine neunte Reisewoche vollendet. Verrückt irgendwie!

Auch heute Nacht hat er sein Zelt wieder wild aufgebaut. In der Nähe eines Sees, zwischen Vigeland und Mandal.

Die Zeit beim Leuchtturm Lindesnes hat ihm sichtlich gut getan. Entschleunigung ist immer gut und Pause sind nötig und wichtig. Ja, und auch das Nachschubeinkaufen gehört zu diesen existentiellen Notwendigkeiten. Später habe er in einem See gebadet. Brrrr …

>>> Kalvehagen – zwischen Vigeland und Mandal: zum Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

Die südlichste Steckdose Norwegens

Irgendwann Mitte der 1970er Jahre. Ich muss diesen Fokker Dreidecker unbedingt haben! Der ist so cool. Mit den schönen schwarzen Kreuzen drauf auf weißem Grund. Und der rote Baron. Boa. Der hat sie alle runter geholt mit dem Flieger. Rattatatatatata.

Im einzigen Spielzeugladen in dem kleinen Dorf Alsenz in der Nordpfalz gibt es den Dreidecker nicht mehr. Nur noch die Spitfire. Und Schiffe. Langweilige Fregatten. Wir alle wollen den Dreidecker. Wir haben unser Taschengeld gespart. In Obermoschel, zwei Dörfer weiter, ist auch ein Spielzeugladen (kaum vorstellbar, aber diese Zweitausendseelenkaffs der 1970er Jahre hatten alles, was das Kinderherz begehrt: Kaufmannsladen mit Standgenbrause an der Verkaufstheke, Spielzeugladen, Kaugummiautomaten).

Obermoschel ist weit weg. Sechs Kilometer. Unmöglich, dort zu Fuß hinzuspazieren. Wir beschließen, die unglaubliche Distanz mit dem Fahrrad zurückzulegen. Was waren wir aufgeregt, uns so weit von zu Hause weg zu begeben.

Ich habe schlecht geschlafen auf dem Holzlagerplatz. Mitten in der Nacht wecken mich Regentropfen und starker Wind in den Bäumen über dem Platz. Die einzelstehende Fichte direkt über dem Zelt macht mir ein bisschen Sorge. Wie weit sie wohl stürzt, wenn eine Böe sie umreißt? Mein Vater hat mir einmal gezeigt, wie man die Fallweite eines Baumes bestimmen kann. Nur mit zwei gleich langen Hölzchen. Fast auf den Meter genau lässt sie sich bestimmen, wenn man auf ebener Erde ein Hölzchen senkrecht hält, das andere mittig dazu wie ein T von der Nasenspitze peilend bis der Baum vom senkrechten Hölzchen ganz bedeckt ist. Dann noch einen Schritt zurück und man ist auf der sicheren Seite, wenn der Baum gefällt wird. Das Prinzip lässt sich natürlich hier, zehn Meter unter der Wurzel am Steilhang, nicht ausprobieren.

Nach dem Aufbruch rolle ich nur hundert Meter nach meinem Platz am Ortsschild Jasund vorbei. etwa fünf Kilometer weit mit den üblichen Aufs und Abs bis nach Høllen. Falle im örtlichen Supermarkt ein, kaufe Bananen, Butter, Pi, Pa, Po. Unvorstellbar: gerade mal eine Obermoscheldistanz entfernt bin ich an der Küste.

Zwei Campingplätze vor Ort, ein weiterer neun Kilometer weiter südlich auf der Halbinsel Lindsenes, dem südlichsten Punkt Norwegens. Ich bin übernächtigt. Matt. Vor meinen Augen flimmert es. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Verschwitzt. Bärtig. Wie viele Tage habe ich mich nicht rasiert? Wann zum letzten Mal gewaschen? Im Bach bei Helleren, erinnere ich mich, habe ich mich gewaschen. Ohne Seife.

Die Tour ist gescheitert, plappere ich arglos am Telefon und versetze der geliebten Soso damit einen ziemlichen Dämpfer. Aber die Worte sind gefallen. Vor meinem inneren Auge das gräßliche Ressourcenproblem, das mich schon von Anbeginn der Reise beschäftigt: wenn du Wasser von einer Flasche in eine andere füllst, so geht das mit einer bestimmten Geschwindigkeit, aber du kannst sie nicht ins endlose steigern. Ein Flaschenhals ist nunmal eine Öffnung von begrenzter Größe. Genauso verhält es sich mit dem Fahrraddynamo. Er kann nur soundsoviel Strom pro Minute in den Akku pumpen. Mehr lässt die komplizierte Technik aus Widerständen und Gleichrichtern einfach nicht zu. Du kannst deinen Brennspiritus entweder zum Zeltheizen benutzen, oder zum Kochen. Ein Liter steht dir zur Verfügung auf deinem vollbepackten Rad. Wenn er alle ist, musst Du neuen kaufen.

Und du musst, wenn du das Meer umrunden willst und Anfang Juli zurück sein willst, eine gewisse Strecke pro Tag zurücklegen. Vor der Reise habe ich 68 km ausgerechnet. Ohne Pausentage.

Schon in Schottland war mir klar, dass ich bei meinem Tempo nie und nimmer die geplante Strecke bis zum 3. Juli in Boulogne-sur-Mer zurücklegen könnte.
Von Høllen radele ich, einem Instinkt folgend, Richtung Lindsenes. Obwohl das ein Umweg ist. Eine Sackgasse. Der Nordseeradweg führt am norwegischen Südkap vorbei. Mein Gefühl will mich hetzen, weiter, weiter, weiter, aber mein Kopf sagt mir, jetzt erst recht. Ich bin nicht unterwegs, um voran zu kommen, ich bin unterwegs, um an dem live geschriebenen Buch zu arbeiten. Das Schreiben und das Fotografieren sollte im Vordergund stehen. Das ist es nämlich, was bleibt und nicht etwa, ohlala, ich habe den und den Weg so und so schnell zurückgelegt. Der Oxforder Radler fällt mir ein, der mir kurz vor John o‘ Groats begegnete. Er ist noch an dem selben Tag, an dem er mit mir dort ankam wieder zurückgeradelt, weil seine Mission lautete, radele von daheim nach John o’Groats und von dort runter nach Landsend.

Verstehe einer die seltsamen Kopfgebilde, die wir Langstreckenradspinner uns setzen. Mir wird klar, wie unverständlich mein Gehadere vielleicht klingen mag. Ob ich es mir erlauben darf, von der Nordseeroute abzuweichen, Dänemark etwa abzukürzen, oder gleich in Kristianssand die Fähre nach Dänemark zu besteigen. Nur so könnte ich die Runde halbwegs zu Ende bringen.

Ich muss entschleunigen. In der Entschleunigung noch eins drauf legen und noch langsamer werden. Zum Stillstand kommen?

Dina hat per Kommentar Lindesnes als sehenswert bezeichnet. Auf den zehn Kilometern bis zum Leuchtturm flimmern allmögliche Gedanken. Ich komme zu keiner Klarheit mehr. Auch das Augenflimmern bleibt bestehen. Ein Ausdruck meiner Müdigkeit. Bergauf, bergab, aber nicht zu hart rolle ich in die „falsche“ Richtung.

Die Geschichte mit dem Dreidecker aus Plastik kommt mir in den Sinn. Wie unvorstellbar weit mir das Dorf Obermoschel vorkam. Wie stolz ich war, es geschafft zu haben. und wie enttäuschend klein der Flieger war, den ich mir für 4,95 oder noch weniger DM kaufen konnte. Diese winzigen, stockdunklen Spielzeugläden in den kleinen Dörfchen.

Nun bin ich über 3600 Kilometer geradelt. Heute mit dem ersten Streckenfoto in Høllen, löst diese Kunststraße Ums Meer somit den Kapschnitt von 1995 als längste Kunststraße der Welt ab. In einer Mail von zu Hause, erfahre ich, dass man glaubt, ich befände mich auf einem langen Urlaub. Das kränkt mich. Achtzehn Jahre Kunst. Kein bisschen Anerkennung. Und doch hat es Spaß gemacht.

Nach Lindesnes ist es in meinem ausgepowerten, übermüdteten Zustand kein Zuckerschlecken. Kleine, fiese Hügel. Ich träume von einem Kiosk, von Pölser mit Senf, von einer Limo, von einem Fleckchen Sonne, an dem ich sitzen kann mit einer Steckdose daneben. Und dort einen gepfefferten Artikel schreiben, in dem ich all mein Leid und all meine Konflikte ausbreite, sortiere, neu ordne, ihnen Sinn und Gefüge gebe, dieser ganzen merkwürdigen Reise einen neuen Sinn gebe.

Endlich Klarheit finden, wie es weiter geht – während ich so in die „falsche“ Richtung kurbele, stelle ich mir vor, ich habe mich nur verirrt, und ich glaube so lange, dass ich das Richtige tue, bis ich merke, dass ich falsch gefahren bin. Somit kann man ja einen Irrweg zur Hälfte als positiv buchen, denke ich, vorbei an zwei winzigen weißen Holzhäusern, an denen Metallbuchstaben berichten, dass sich darin einmal eine Schule befunden habe. Jeder kleine Weiler hatte offenbar bis in die 60er Jahre seine eigene Schule.

Panik überkommt mich, als ich nach zehn Kilometern noch immer kein Ortsschild Lindesnes sehe. Vielleicht habe ich mich verirrt? Bin auf die falsche Halbinsel geraten, nix mit Norwegens viel gerühmtem Südpunkt. Ein Bilck ins GPS zeigt, dass ich richtig bin. Richtig falsch ab vom Weg.

Meine Gedanken sind mittlerweile so verquirlt, dass ich kaum noch Mut habe, so ich denn meinen Platz an der südlichsten Steckdose Norwegens finde, diesen Artikel zu schreiben. Wenn schon ich, Euer Schreiber, kein Land mehr sieht, wie geht es dann Euch, meinen LeserInnen, damit?

Da ist der Leuchtturm. Besucherzentrum Eins geschlossen. Parkplatz. Paar Wohnmobile. Felsen Felsen, Felsen und ein bisschen Grün dazwischen. Schranke. Eintrittskassenhäuschen, Museum und Besucherzentrum zwei sind architektonisch sehr harmonisch in die Felsen einbetoniert. Glasfronten. Im Souvenirsshop gibt es spezielle Südkap-Briefmarken.

Hach, in Kartenschreiblaune müsste man jetzt sein. Schon will ich umkehren, aus Trotz, weil ich es nicht einsehe, 3612 Kilometer weit geschuftet zu haben, nur um an einem von Menschen für Menschen gemachten Extrempunkt auch noch Eintritt für die nächsten Meter zu zahlen, da klebt mir die Kassiererin einen Aufkleber auf die Radlerjacke. Freier Eintritt für Weitgereiste. Und ich möge mich bei dem Mann, der da unten an dem Stahlhäuschen mit der Flex schuftet, melden. Der könne einen Artikel über mich auf die Lindesnes-Homepage stellen. Ich müsse nur auf ein kleines Interview zu ihm ins Leuchtturmhäuschen kommen.

Hum.

Nun habe ich meine südlichste Steckdose Norwegens doch noch gefunden. Lade den Zwischenakku, tippe diese Zeilen, an einem Tisch sitzend, in der Cafeteria. Ruhe mich aus, werde die Ausstellung besichtigen. Später zum Leuchtturm.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Das Kapitel Helleren – Høllen

Da ist nichts mehr. Im Kopf herrscht absolute Stille. Genau wie draußen vor dem Zelt. Kein Nachtvogel zwitschert. Ich weiß nicht, wo ich bin. Das geht mir manchmal so, wenn ich noch halb schlafend aus dem Zelt krieche. Es ist nicht beängstigend. Erst, als ich längere Zeit, ein zwei Minuten, überlegen muss, kommt mir mein Hirnmproblem wieder in den Sinn. Die Vergesslichkeit, die mich seit letztem Winter manchmal plagt. Personen, Orte, Zahlen und Begebenheiten geraten durcheinander. Dass ich nicht weiß, wo ich bin, und was ich hier mache – und zwar länger, als den ersten Moment, vielleicht ein zwei Minuten -, besorgt mich denn doch. Die Fjorde fallen mir ein. Ah. Norwegen! Rattenschwanz von Erlebnissen, Ländern, bereisten Straßen. Radel vorm Zelt. Ich befinde mich auf der Nordseerunde. Endlich klingelts.

Langsam schüttele ich den Alptraum ab, nagle Sturmschnüre in den Boden. Deswegen bin ich doch aufgestanden: das Zelt rüttelte unter starkem Wind und ein paar Tropfen auf das Dach. Vielleicht liegt es am tiefen Schlaf, vielleicht aber auch am beginnenden Lochfraß im Hirn? Normal ist es jedenfalls nicht für mich.

Seit Helleren, seit zwei Tagen ist die Route „endlich“ so, wie viele angekündigt haben. Die beiden Radler an der Fähre bei Stavanger hatten von einem Tag mit 1700 Höhenmetern erzählt und die hysterische Münchnerin auf dem Campingplatz Stavanger prophezeihte einen Reschenpass. „Kennen Sie den?“, fragte sie provozierend, als sie das Damoklesschwert steilster Anstiege über meinem Kopf festzurrte.

Was habe ich gelacht, fast schon übermütig in mich hinein, „Ihr habt doch keine Ahnung!“ und „Mir machen doch Berge nichts aus! Ha! Simplon, sag ich, und Bernardino, Vogesen längs und die Porte de Envalira …“

Die Porte de Envalira oberhalb von Pas de la Casa in den andorranischen Pyrenäen ist von Ax les Thermes kommend in etwa fünf Stunden erradelbar. Mit Gepäck. 1700 Höhenmeter. Etwa vierzig Kilometer berghoch. Eine faire Sache. Du weißt, woran du bist. Bei den Fjorden sieht das anders aus. Von Helleren raus aus dem Jøssefjord über unzählige Aufs und Abs von jeweils Meereshöhe bis zweihundert oder dreihundert Meter, zudem sind die Steigungen manchmal über zwölf Prozent, was mit Gepäck nur noch in Serpentinenschlenkern auf der schmalen Straße möglich ist. Oder ungeteert.

In einem kleinen Dorf ca. vier Kilometer vor Kvinesdal begegne ich vorgestern Abend Ian, einem grauhaarigen Mann, der mich auf deutsch anspricht. Er habe lange in Hamburg gewohnt, Jazzmusiker, Seemann, verliebt in Frauen, die offenbar auch dafür verantwortlich waren, wo überall auf der Welt er seine Zeit verbrachte. Über Gott und die Welt vertiefen wir uns auf philosophische Themen, Theologie, wovon ich kaum Ahnung habe, heißes Pflaster, die institutionalisierte Kirche, die Dogmen in den Köpfen der Menschen und wie sie, felsbrockengleich aneinander knallen, sobald die dogmenbefüllten Wesen, die vom rechten Leben wissen, auch nur ein bisschen einander ins Revier geraten. Was zu dem Schluss führte, dass einjeder seine eigene Religion haben müsste, seinen eigenen Gott, oder am besten gar nichts davon, denn, die Lieber Onkel mit weißem Rauschebart-Geschichte oder Allah ist groß und was weiß ich noch alles, widerspricht sich doch alleine schon dadurch, dass die eine gläubige Gruppe behauptet, ihr Gott sei der einzig wahre und die andere glaubt, ihrer sei es. Ganz so einfach ist es nicht, gebe ich zu.

Ein weiterer Radler taucht auf. Matt aus Birmingham auf Nordseerunde. Er ist der Sänger einer Gruppe namens Fading Caidens oder so ähnlich, die englandweit auftritt und die es sogar ins Fernsehen gepackt hat. Ian empfiehlt uns einen schönen Platz auf einer Wiese umringt von unbevölkerten Bienenstöcken. Ein aufgegebenes Privatgelände am Rande des kleinen Dorfes in der Nähe von Kvinesdal. Zudem windgeschützt, denn von Nordwesten kommt starker Wind auf.

Trotzdem radle ich weiter, durchquere Kvinesdal, radle in die Berge auf der Südseite des Fedafjords, wo ich einen schönen Nachtplatz nahe der fast unbefahrenen Straße 465 finde. Der nächste Tag, Tag 62 der Reise, soll der bisher härteste Tag werden. Reschenpass in Scheiben auf zwanzig Kilometern bis Ore. Dort plötzlich Flachland bis Farsund. Erholsam, ein kleines Fenland an der Südseite Norwegens. Zudem Rückenwind. Etwas kühler als die Tage zuvor, so dass ich in langen Radlerhosen fahre. Kein Supermarkt geöffnet – es ist Pfingstmontag. Noch immer hängen die Festflaggen vor den Häusern. Wer etwas auf sich hält in Norwegen, scheints, hat einen Fahnenmast im Garten. Rot-weiß-blaue Welt. An wenigen Tankstellen kaufe ich Milch, Schokopaste. Vernünftiges Essen für den Tagesbedarf, gar Obst, gibt es nicht. Ich kann meinen Packsack doch nicht voller Chipstüten packen. Ab Farsund hat man die Wahl zwischen Pest und Cholera: Verkehr auf der 43, oder auf und ab auf einer Seitenstraße, die erst zehn Kilometer östlich von Farsund die bis dahin alternativlose 43 ersetzt. Mit meinem jetzigen Wissen würde ich die Alternative nicht mehr wählen. Ein einziges Auf und Ab, ungeteert, unfahrbar. Ich spiele das Kalköferweg Spiel. Sechzig Doppelschritte schieben, Puste holen, sechzig Doppelschritte schieben, Puste holen usw. Mit Obst und Müsli und allmöglichem Essbarem, wäre es sicher einfacher.

Mein Plan, das Süpdkap, Lindesnes zu erreichen, scheitert kurz vor Høllen. Zwar gebe es einen Zeltplatz nur fünf Kilometer entfernt, sagt mir ein Junge, der mit dem Quad und angehängtem Scooter zum Meer fährt, aber ich kann den vermutlich nicht erreichen, da dazwischen einige Kalköfer Wege liegen. Bei einem Holzlagerplatz raste ich um neunzehn Uhr in der Sonne, ruhe mich aus, freunde mich an, bleibe hier. Zum Abendessen gibt es eine doppelte Ration Couscous mit Zwiebeln und Soße.

Nun, morgens an Tag 63, einem Dienstag, habe ich alle Lebensmittel, die ich dabei habe, verbraucht. Hoffend, dass in Høllen ein Laden ist.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 62 – die Strecke

Heute hat Jürgen einen unglaublich anstrengenden, doch auch wunderschönen Tag mit vielen Zweibrücker Kreuzbergen und Kalköfer Wegen gehabt.

“ … nun bin ich auf einem Holzlagerplatz. Kaum noch Lebensmittel. An einer Tanke konnte ich Milch kaufen. Ich bleibe wohl hier, weil unklar ist, wieviele Kalköfer Wege bis zum nächsten Camping noch kommen (nur 5 km). Mann, bin ich müde“, schreibt er um halb acht.

Mit seinen letzten Lebensmitteln hat er sich ein Abendessen gekocht und erschöpft schlafen gelegt.

>>> zwischen Flekkefjord und Farsund – Kalvehagen: zum heutigen Streckenabschnitt: bitte hier klicken!