Beinahe kommt mir Diesertage vor wie die Zeit kurz vor dem Camino. Ein seltsames Gebilde baut sich vor mir auf, das von dieser Seite der Betrachtung aussieht wie eine unüberwindliche Mauer. Der Todesstreifen des gelebten Lebens.
November 2010. Es geht drunter und drüber in der Firma. Ein Großauftrag für etliche hundert Loungemöbel liegt in den letzten Zügen. Auf meiner wunderbar gemütlichen Teilzeitarbeit arbeite ich Vollzeit plus X. Das Überstundenkonto schwillt. Der Vorweihnachtsstrudel hat sich in Bewegung gesetzt – Ihr kennt das Gefühl, auf eine unsichtbare, von Menschen gemachte Grenze zuzulaufen, ein zeitliches Etwas, das euch in seinen Sog nimmt und niemehr loslässt. Finanzbeamte schreiben Formbriefe, drohen Strafe an, setzen Termine. Der Zahnarzt-Bonus-Termin will wahrgenommen werden. Geschenke sollte man kaufen, weshalb die Werbeindustrie auf Hochtouren läuft und du kleiner Mensch nur noch widerwillig in ekelerregenden Fußgängerzonen herumstapfst oder das Radio oder das Fernsehgerät einschaltest, weil die Weihnachtsstrudelindustrie allesallesalles mit sich reißt.
Auch dich.
Kaum vorstellbar in derart gleichgeschaltetem Zustand und bei all den wichtigen Terminen überhaupt an die Abreise zu denken. Und dann auch noch für fast sechs Wochen! Die Katze wird verhungern, wenn du nicht da bist. Deine Liebste wird mit einem Anderen davon ziehen, einem gutmütigen bärtigen Typen, der viel über den Buddhismus weiß – wie HeldInnen reiten sie in den Sonnenuntergang. Du wirst niemals eine Zahnprotese bezahlt bekommen, wenn du den Zahnarzt-Kinder-Angst-Machen-Bonus-Heft-Termin nicht wahrnimmst. Zwei todtraurige 40te Geburtstage werden gefeiert werden. Rehrücken wird serviert und Kroketten aus südamerikanischen roten Feuerkartoffeln, zig Bohnensalate und nienienie wirst du auch nur ein Mamas-beste-Plätzchen auf den Gaumen kriegen, wenn du jetzt hinaus ziehst in die Welt.
Im Nachhinein gesehen: der einzig wichtige Termin für mich ist der Lungenärztinnen-Besuch, der mir eine mäßige gesundheitliche Tauglichkeit für den Jakobsweg bescheinigt. Zum Glück.
Die Aufregung ist riesig, als ich am 18. November im Zug sitze in die Pyrenäen. Das Staunen ist groß, als ich am 19. November zurück blicke auf diese schier unüberwindliche Mauer aus Sorgen und Ängsten und feststelle, es war nur eine Hürde, Mann, etwas, was du dir im Kopf selbst gemauert hast, Stein um Stein deiner kleingeistigen Sorge hast du gefügt, Römer, ägyptischer Pyramidensklave des gelebten Lebens.
Wie ich in St. Jean Pied de Port unsicher gegen halb acht am 19. November die Pilgerbrücke überquere und die Sonne sich blutrot über den Horizont schiebt, weiß ich noch nicht, dass ich das schlimmste Stück nach Santiago schon bewältigt habe. das Loskommen von zu Hause. Den Beschluss: TU ES!
Nun, da ich hier sitze auf dem einsamen Gehöft in der Saarpfalz, Regen auf mein Dach, Tauwetter und ein haarsträubendes Glatteis, das es unmöglich macht, zur Arbeit zu fahren, wünsche ich mir, dass die neue unüberwindliche Mauer, die vor mir liegt, von der anderen Seite genauso spielerisch hürdenhaft aussieht, wie die Loslauf-Hürde.
Gestern Abend war zum Verzweifeln, wie ich die Live-Blog-Texte lese und sich die Mauer aufbaut und ich so ganz und gar keine Muse habe überhaupt daran zu kratzen. Keinen blassen Schimmer, wie ich aus dem Material ein echtes Buch machen könnte.
Ich bin nun mal kein Lektor. Ich bin bestenfalls ein schludriger Materialbeschaffer mit dem Herz am rechten Fleck.
„Vielleicht solltest du es erstmal mit einer Problembeschreibung versuchen?“ schießt es mir in den Sinn. „Genau wie damals im November, als du noch nicht wusstest, ob du dich überhaupt auf den Weg machst. Das Ziel zuerst.“
Okay: Problembschreibung, ich versuchs mal. Mache aus dem im Netz stehenden live geschriebenen Material ein Manuskript, das du einem Verlag vorlegen kannst. Öhm. Ich habe das doch noch nie gemacht. Das Zeug ist zusammenhangslos geschrieben, chronologisch wirr. Es fängt schon im Zug zwischen Paris und Bayonne an – ich glaube, das ist mein größtes Problem, diese schlingenhafte Erzählweise. Ich habe nicht die Fähigkeit zur Abstraktion und zur Verwirrung. Immer hätte ich die Dinge gerne schön klar und eins nach dem anderen ‚wie der Bauer die Klöse isst‘, sagt man so schön. Wie bitteschön soll ich die Live-Texte, die in sich selbst schon labyrinthisch chaotisch gegliedert sind mit den Kritzeleien in der Kladde und den Sprachnotizen auf dem iPhone vereinen?
Ein erster Ansatz wäre, alles Material in des Live-Buch an Hand der Zeitindizes zu integrieren. Auch Fotos, mit denen ich mir manchmal auch Notizen gemacht habe.
Höm? Schon bin ich dabei, die Mauer zu überklettern.
Das Eis im Hof schmilzt. Ich könnte es wagen zur Arbeit zu fahren.
Ja das Buch wäre ein guter Schritt.
Stehe dir da gern hilfreich zur Seite. :-)
losgehen hilft immer. sagt eine, die gerne zaudert.
das klingt nach einer SchreibCollagenArbeit – wahrlich kein einfaches Unterfangen, mir geht es Zurzeit so mit meinem zweiten Buch, das einst mal klar war, durch die Geburt aber einer neuen Protagonistin nun eben zu einer SchreibCollage wurde mit der ich leider noch nicht so ganz zu Rande komme – auch ich habe es gerne klar. Wie aber bitte Klarheit, wenn es unklar ist? Wolken beiseite schieben und in den blauen Himmel schauen… ein erster Schritt! gutes Gelingen wünsche ich dir!
Li Ssi – eine Freundin von Sofasophie
diagnose: camino-kater:-)