Was für eine Etappe heute! Zunächst 17 km schnurgeradeaus. Zwischen Carrion und Calzadilla am Rio Cueza ist nichts. Und mit nichts meine ich NICHTs. Der Nebel hängt wie eine weiße Glocke über dem Land und das Summen der A231 im Norden wir mit jedem Kilometer, den man läuft leiser. Der Camino schert auf einer Schotterpiste in flachem Winkel südwestlich aus. Sichtweite höchstens 100 Meter, geschlossene Schneedecke. Zwei Rastplätze mit Sitzbänken auf den 17 km. Unterwegs rede ich mit mir selbst: „Also was sich so manche Dichter früher erlaubt haben, ’seltsam im Nebel zu wandeln, einsam steht jeder Baum und Strauch'“ äffe ich nach. „Völlig an der Realität vorbei! Wo leben die denn? Hier gibt es keinen Baum und Strauch! Hier gibts nur Weiß und Weg.“ Und andere Pilger. Zum Glück. Immer wieder begegne ich Misaki (so ist der Name wohl richtig :-)) und den beiden Spanierinnen Rose aus Barcelona und Rosa aus Alicante. Sowie Angelo, einem 54-jährigen Brummbär, der einen kontinuierlichen aber langsamen Schritt hat. Ohne Mitpilger würde ich die nebulöse Hölle auch nicht überstehen. Auf halber Strecke steht schließlich doch ein großer Baum links des Wegs mit einer wuchtigen, ovalen Krone. Ich fotografiere ihn, Als ich später das iPhone durchsuche nach dem Bild, ist es verschwunden. Alle fotografieren diesen Baum im 17 km langen Nichts. Nach zwei Dritteln der Strecke steigt der Weg etwa 60 m lang an und überwindet vielleicht 5-6 Höhenmeter. Irgendwo steht auf eine Querstraße gekritzelt: nächste Bar 9 km.
Dort trudeln alle PilgerInnen zwischen 12 und 13 Uhr ein. Man munkelt, der Besitzer stellt jeden Tag seine Uhr auf 12:27, wenn der erste Pilger aus Carrion eintrifft. Das sei genauer, als eine Atomuhr.
Lange laufe ich mit den beiden Rosen, radebreche Spanisch mit Rosa und parliere Englisch mit der Touristenführerin Rose. Frauen pilgern ganz anders, als Männer. Das fängt schon bei der Vorbereitung an. Frauen gehen in einen Trekkingladen und sagen frank und frei, ich will den Camino laufen, verkaufe mir eine sinnvolle Ausrüstung. Männer, also ich, drucksen in dem Laden herum, wofür sie die Ausrüstung brauchen: Tagestouren im Pfälzer Wald lügen sie, damit bloß niemand erfährt, an welch großem Expeditionsprojekt sie womöglich scheitern. Genauso ist es mit der Wegsuche. Frauen fragen nach dem Weg und Männer laufen erst fünf mal durchs ganze Dorf, um auf eigene Faust das zu finden, was sie suchen. Bloß keine Blöße. Männliche Pilger überholen andere männliche Pilger im ewigen Camino-Revierkampf und geben nur einen kurzen, gepressten Gruß. Hola. Frauen drehen sich viel öfter um, schauen, ob es den Mitpilgerinnen auch gut geht, tragen füreinander Sorge.
Mit Rosa übe ich mich einige Kilometer weit im Spurenlesen. Es gelingt uns mit vereinten Kräften sämtliche Stiefelabdrücke im Schnee zuzuordnen. Herrliche Hobbyindianer sind wir. Ich mache Fotos von allen Abdrücken und spreche aufs Band, welcher von wem ist. Noras umd Akis Wespentaillenprofil ist nicht dabei.
Nachmittags lichtet sich der Nebel. In der Herberge in Terradilla sind wir zu neunt auf drei Zimmer verteilt. Die Rosen, Misaki und Martina in einem Frauenzimmer, Töng, Nicholas und Angel (sprich Anchel) sind bei mir. Nun erinnere ich mich aich, woher ich Angel kenne: er war einer der beiden Spanier, die in dem verwanzten Raum in Zariguiegui übernachtet haben. Nicht der Widerwart mit dem Zahnstocher. Angel ist verheiratet und läuft den Camino zum zweiten Mal. Ich mag es, wie er mich liebevoll Jorge (sprich Horche) nennt. Vielleicht sind Pilgerinnen und Pilger gar nicht so verschieden.
vielleicht wird man (und frau) auf dem camino auf einmal einfach mensch?
und vielleicht lässt es sich eines tages lernen, trotz des nahenden zieles, einfach im eigenen takt zu wandern?
vielleicht sind wir alle irgendwie pilgernde …
einfühlsam beschrieben. eindringlich, wahrhaftig, köstlich genau beobachtet, das mit den unterschiedlichen weisen der pilgerei….