Im Restaurant gestern Abend fällt mir siedend heiß ein, dass die D300 unbewacht im Rucksack liegt. Mein Kreuz. Ich habe es einfach liegen lassen. Aber nun, da ich daran denke, wiegt es mir umso schwerer. Solch eine Situation hätte mir vor dem Weg eine regelrechte Panikatacke versetzt und ich wäre sofort aufgestanden, um den wertvollen Gegenstand zu sichern. Ich bleibe aber sitzen fast entspannt Der seltsame Nicholas sitzt mir gegenüber und starrt mich wortlos an. Mit am Tisch Chaeuk und Masaki. Ein bunter Pilgerhaufen. Im Restaurant surrt der Kühlschrank. Wir reden englisch. Zäh fließt das Gespräch fast wie unser geinsamer Weg. Jeder muss sein Kreuz tragen, denke ich. Und es ist fast immer nur ein Kopfproblem. Mein Kreuz ist leichter geworden. Eine grobe Einschätzung der Lage ergibt, dass die Kamera in der Herberge fast 100% sicher ist. So esse ich beruhigt.
Auch Thomas Kreuz, sein Hund und wie die beiden unterkommen, ist vermutlich leichter geworden. Die Erfahrung der letzten Tage wird ihm gezeigt haben: es geht immer irgendwie weiter. Und spätestens das Beispiel von Albergue-Volontär Christobal zeigt, dass man sogar mit vier Hunden nach Santiago pilgern kann.
Wir alle werden schmeller. Wir sollten das Ziel nicht herbei denken. Vor einigen Tagen belausche ich Nora und Aki, wie sie über die Tagesetappen reden. Man kann sich der schrumpfenden Entfernung nach Santiago eigentlich gar nicht entziehen. Mindestens ein Mal am Tag steht am Wegrand ein Schild, wie weit es noch ist. Ohne es zu merken beschleunigt man seinen Schritt, zählt die Tage, rechnet Durchschnittsgeschwindigkeiten aus, überlegt Doppeletappen zu laufen. Das ist völlig unproduktiv, läuft der inneren Ruhe und dem Einswerden mit dem Weg gegen. Ein Phänomen der Leistungsgesellschaft? Frauen scheinen damit viel weniger Probleme zu haben. Martina und Masaki laufen einfach ihren Takt. Sie haben aber auch kein Datum, an dem ihr Flieger fliegt. Man sagt, wahre Pilger pilgern sowieso die gesamte Strecke zurück. Nicholas will den Küstenweg zurück laufen.
Was mich erstaunt, ist dass Töng-Chaeuk offenbar in den Ankommensstrudel geraten ist. Erst diese widersinnigen 40 km an der Landstraße, als ihn die LKW beinahe streiften – er muss am rechten Straßenrand gelaufen sein, denn als er mir gestern beim Abendessen davon erzählt, macht er eine Handbewegung, dass ihn der Luftdruck links traf. Deshalb habe ich ihn aus dem Busfenster auch nicht mehr gesehen.
Ich habe alle Mühe, nicht ans Vorankommen zu denken. Den Willen, das Ziel möglichst schmell zu erreichen zu ignorieren. Seit gestern ist mein Rückflug gebucht für den 22. Dezember. Läuft alles nach Plan und ich laufe die sinnvoll strukturierten Etappen auf dem Plan aus St. Jean, komme ich am 20. an. Jetzt bloß nicht rennen.