J‘ ai mal aux pieds

Aufenthaltsraum der Pilgerherberge Nájera. Ich habe dummerweise schon eine halbe Flasche Rioja-Wein im Kopf. Das macht das Bloggen etwas schwer und das Gedankenstrukturieren unmöglich. Wie sieht es hier aus? Gegen 22:00 Uhr trudeln 6 Mitgliedrr der hießigen ‚Amigos del Camino‘ ein und fordern von dem strengen Volontär Guy lauthals Rechenschafz. Lauthals bedeutet in dieser Gegend nicht etwa, dass sie zeternd und drohend im Raum stehen und dem armen, etwa 50jährigen Franzosen die Hölle heiß machen wegen der Tageseinnahmen, die einzig aus freiwilligen Spenden beruht.. Die Menschen sind in dieser Gegend recht impulsiv. Als ich in der Abenddämmerung in die Stadt laufe, treffen vor der Sporthalle Nájera acht stämmige Kerle in zwei dunklen BMWs aufeinander. Ebenfalls lauthals und mit rudernden Armen gehen sie aufeinander los, so dass ich fürchte, in einen Bandenkrieg geraten zu sein. Aber es handelt sich dabei nur um die sich formell begrüßende Volleyballgruppe.
Nun ist es fast zwei Uhr nachts. Ich habe einen gehörigen Kater. Für 1,50€ habe ich zum Abendessen vorhin eine Flasche Rioja gekauft. Laura, die die letzten 11 km mit dem Taxi bewältigt hat, hat Reis mit Linsenspinatpaprika gekocht. Thomas kommt aus dem nahen Hotel zum essen. Mit Hund durfte er hier nicht rein. Mit im Zimmer sind noch zwei junge Franzosen, die nur übers Wochenende wandern. 2 km vor Nájera haben sie an einen Brückenpfeiler geschrieben „j‘ ai mal aux Pieds‘ und dazu das heutige Datum. Erst später erkenne ich auf dem Foto, das ich mache, dass der verzweifelte Spruch (Hab Fußeeh) von ihnen stammt. Verschmitzt lachen sie mich an. Die Herberge ist die sauberste, die ich bisher erlebe. Bei der Tür muss man die Schuhe ausziehen. Sie werden in einer Abstellkqmmer in einem Regal gelagert. Im Aufenthaltsraum drei 3 m lange Tische nebst Sitzbänken. Küche mit zwei Herden und zwei Spülen, Schlafraum hat knapp 100 sehr bequeme Betten.
Die Etappe seit Logroño war hart. Führte kilometerweit auf steinigen Wegen an der Autobahn entlamg, von wo mancheiner uns aufmuntrrnd zu hupte. Aber auch durch die ewigen Weinberge, deren vergorener Saft mir gerade den Kopf so schwer macht.
So reiße ich mir diese Zeilen aus den Rippen, ich Kunstbübchen, Padavan, ich, Prost und gutn8.

Nájera

Schon wieder 27 km geschafft! > Die heutige Strecke samt Streckenprofil findet ihr hier …

Heute mal ein bisschen Pilgerstatistik:
In neun Tagen ist Irgendlink nun bereits um die 190 km gegangen.
Je nach Leseart und Route sind es von Nájera nach Santiago de Compostela noch 550 km bis 590 km.
Falls er das jetzige Durchschnittstempo beibehält, wird er noch rund 26 – 28 Tage unterwegs sein.

„Würdest du dich auch mal, um schneller vorwärts zu kommen, in ein Taxi oder in einen Zug oder Bus setzen?“, fragte ich ihn vorhin am Telefon, da wir uns ja am 23. Dezember irgendwo – in der Mitte zum Beispiel – treffen wollen.
„Warum auch nicht? Ich darf schließlich alles“, lachte er. „Doch zurzeit ist Abkürzen kein Thema. Das Wandern macht einfach Spaß. Das Licht ist grandios. Die Sonne. Die Stimmungen. Fotowetter vom feinsten!“

by Sofasophia

Nachtrag zur Angst

Gerade lese ich Eure Kommentare. Danke, meine Lieben. Wir sind nur zu dritt in der Herberge. Laura und ich auf der einen Seite. ER auf der anderen Seite des Raums. Heute führt er kaum Selbstgespräcke. Vielleicht liegt es an Los Arcos? Der Enge? An dem seltsamen Wummern und dem Vibrieren des Hauses periodisch in der Nacht. Macht das die Menschen wirr? Als ich morgens den Herbergswirt frage, woher das Wummern kam, sagt er, er habe nichts gehört …

Nun hier in Logroño haben wir unsere Rucksäcke in der Flur gestellt und Fallen gebaut, die Lärm machen, wenn sich jemand unserer Bettenburg nähert.

Ein nahezu quantenphysisches Problem

Während langer, mantrischer Tackerstunden haben Kollege T. und ich im Hochsommer 2008 das Jakobswegbuch von Hape Kerkeling als Hörbuch gehört. Einfach köstlich! Während der nachdenkliche Komedian mit seinen wandernden LeidgenossInnen durch Nordspanien pilgerte und sich selbst suchte, bauten Kollege T. und ich sinnlose Möbel im Akkord. Wir lechzten danach, diesen Weg zu gehen.
Als gutes geflügeltes Wort ist mir Hapes Satz ‚Erkenntnis des Tages‘ am Ende jedes Kapitels in Erinnerung geblieben. Was haben wir gelacht und mitgefühlt. Abendw gingen auch wir mit den Worten ‚Erkenntnis des Tages‘ und irgendeinem sarkastischen Spruch zum Thema Arbeit nach Hause.
Nun ist alles ein bisschen anders. Die Erkenntnisse kommen nicht tageweise und sie sind auch nicht in einem Satz zu fassen. Sie sind nicht leicht verdaulich und oft nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Nach sieben Tagen unterwegs habe ich keine einzige handfeste Erkenntnis vorzuweisen.
Gestern, als ich das iPhone verliere, nähere ich mich erstmals dem Kern meiner Pilgerreise: würde ich den Weg auch gehen, wenn ich ihn nicht live bloggen würde. Gestern habe ich für eine halbe Stunde einen Großteil meines Sinnkonstrukts verloren. Ich stand sprichwörtlich vor dem Nichts. Der Rucksack war mir egal. Ich ließ ihn in einer Ecke in Sansol stehen und hastete verzweifelt durch die Gassen. Wo ist mein Handy? Wo ist mein Jakobsweg. Natürlich könnte ich die Reise fortsetzen und natürlich würde ich weiterdenken -erleben -erkennen. Aber:hätte ich die Reise ohne iPhone, ohne tägliche (und nächtliche – es ist halb vier) Liveblogmöglichkeit fortgesetzt? Ein geradezu quantenphysisches Problem: der Forscher beeinflusst durch den Akt der Beobachtung das, was er beobachtet. Das vorhanden Sein der Möglichkeit vernebelt die Sinne, um Herauszufinden, ob man Etwas auch ohne die Möglichkeit tun würde – nur mit anderen Mitteln.

Unterwegs schreibt fast jeder. Menschen allen Alters und jeder Nation notieren in allen Sprachen der Welt ihre Gedanken in ihre Notizbücher. Vor ein paar Tagen habe ich mir gedacht, wenn man all das in einem gigantischen Buch notieren würde, erhielte man das klügste Buch der Welt. Ich glaube sogar, vieles, was hier am Camino geschrieben wird, ist durchgehend schlüssig und wäre veröffentlichenswert. Hier schreiben sich die Geschichten wie von selbst.
Als mir Jan und Jost erzählten, dass sie für 130 € via Frankfurt-Klagenfurt heimfliegen würden, dachte ich für eine Sekunde ans Aufgeben. Erinnerte mich des Prinzips des ‚plötzlichen Lustverlusts‘ welches dazu führt, eine Reise zu beenden. Dem ‚plötzlichen Lustverlust geht meist ein Sinnverlust voraus und immer eine Erkenntnis.
Ich schließe ohne Erkenntnis – außer vielleicht: nachts, wenn ruhig sie alle schnaufen, schmatzen, röcheln, ist einfach prima liveblogging :-)