Die sprechende Straße von Prosito

Wir verlassen das enge Tal. Die Welt ist wieder groß. Die Sonne lacht. Versehentlich.

Wie wir so vor den Wanderwegetafeln in der Nähe stehen und uns überlegen, wo es denn heute hingeht – etwa zwölf qualvolle Kilometer über Stock und Stein? – finden wir uns plötzlich auf der Straße nach Süden wiieder, Mailand zum greifen nah. Die Orte, die in der Wanderkarte am Bahnhof Aquarossa verzeichnet sind, haben wir ja alle schon abgeklappert. Weiter, weiter, weiter, das ist unser Menschenziel.
Bei Prosito fahren wir mit offenem Fenster und die Granitpfosten, die in unregelmäßigen Abständen die Straße säumen, reflektieren ein seltsames Gedicht: „Fft- Fftfftffft-Fft“. was ganz eigenwillig klingt Und ich erzähle Sofasophia von den japanischen singenden Straßen, deren Belag von einem findigen, kunstliebhabenden Ingenieur so manipuliert wurde, dass mann im Auto eine Melodie hört, wenn man mit einer bestimmten Geschwindigkeit über den Belag rollt. So erzählt uns die Straße von Prosito Geschichten bis wir in Locarno sind.
Ich erkenne: meine wahre Bestimmung liegt in der urbanen Trash-Fotografie. Durch die hintersten Winkel der Stadt streifen wir und mit jedem Meter wird eine Ecke bunter als die nächste. Auf dem zentralen Platz bauen sie diesertage das temporäre Eisstadion auf, was es schon seit mehr als zehn Jahren jeden Winter hier gibt. Am Lago Maggiore setzen wir uns in der spätnachmittaglichen Sonne auf eine Bank und essen unsere selbstgeschmierten Kunstpausenbrote. Im Park Hans Arp. Zahlreiche Bronzeskulpturen, die allesamt aussehen, als wären es ineinander verschachtelte menschliche Nasen, zieren das ansonsten recht kahle Arreal am See. Ein Postmann fährt mit seinem Sprinter vor, was mich an meine Zeit als Paketfahrer erinnert und ich bin in dem Moment derart desperat, dass ich mir vorstelle, ich wäre er und ich verfluche das ruchlose Künstlersein, dieses ewige denken, denken, denken und immer alles fotografieren und aufschreiben und mitteilen, oh ich habe es so satt, die Sonne scheint und fast ist es ein bisschen Frühling. Wie gut, wenn endlich Ruhe wäre: „Postmann sein wollen, wie er eigentlich glücklich dein müsste auf der Suche nach dem Empfänger eines Pakets auf einem Bootssteg in Locarno“, denke ich und: „Das Schnurren des Sprinterdiesels beim Wenden, ach, herrlich“. Aber als er an uns vorbeifährt auf dem Weg in den Feierabend, macht er einen verspanntan, grimmigen Eindruck und starrt mir für eine Sekunde hasserfüllt in die Augen oder neidisch, vielleicht wünscht er sich, er wäre uns? Wie paradox das Leben doch ist.
Wir schlendern weiter durch die Stadt, heben zwei kleine, gut gemachte Geocaches und setzieren das tessinische Städtchen geradezu fotografisch. Mit reicher Beute kehren wir zurück ins Bleniotal. Dies ist unser letzter Urlaubstag.

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