Langsam musst du werden, Mensch, um dem Gehalt der Dinge auf den Grund zu gehen. Wie oft durchquertest du das Land und gestattetest Orten, namenlos zu werden im wilden Flug – warum? – alles ging zu schnell.

Disziplin war nie meine große Stärke. Wenn ich diszipliniert wäre, stünde ich jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang auf und ginge abends bei Sonnenuntergang ins Bett und würde mich nicht um den Lauf dieser unnatürlichen Welt kümmern, in der die Menschen ihren Hirngespinsten und Träumen und Sehnsüchten hinterher rennen und dabei viele schmerzhafte Opfer bringen.

Dass der Trend zum Schnellen geht und dahin, Vieles auf engstem Raum zu komprimieren, seien es Geld, Erlebnisse oder Glück, wurde mir vor einem Jahr bewusst. Damals schrieb ich die obigen Zeilen. Nun, auf meiner Forschungsreise durch die Krankheit, habe ich es wieder gefunden. Längst vergessen, verdrängt, habe ich die letzten Monate wieder Schwung aufgenommen und bin in den alten Trott des Viel auf engstem Raum zurück gekehrt. Als ob das Leben dadurch wertvoller würde.

Es kann einem passieren, wenn man einen Gebirgspass zu Fuß oder per Fahrrad erklimmt, dass man, sobald man um die letzte Kurve biegt und den Gipfel erblickt, einem Impuls gehorchend, seinen Schritt unbewusst beschleunigt, sich auf den letzten Metern derart verausgabt, dass man vollkommen erschöpft den Gipfel erreicht. Auf diese Weise büßen wir einen Teil unseres Triumphs, schmälern die Befriedigung wenn wir unser Ziel erreichen.

Deshalb ist es wichtig, sein Leben zu entschleunigen, den eigenen Takt zu gehen, Ziel in Gedanken aber niemals offen anpeilen. Verzichten, daneben stehen, beobachten, Leere zulassen, Zeit vergeuden, innehalten, verharren, zuhören, betrachten, riechen, nichts suchen …

Ouh Shalala-singend auf dem wüsten Acker östlich des einsamen Gehöfts. Eine gar groteske Situation wie Endzeitstimmung. „Morgen, Morgen: was wirst du bringen?“ murmele ich, stolpere durch diese Erdwüste, die tagein tagaus von LKWs und riesigen Raupen frequentiert wird, so dass man kein Auge zu kriegt. Direkt neben meinem Wohnzimmer. Quasi in meinem Bett herrscht reger Baustellen-Verkehr. Man darf berechtigter Weise fragen: warum schläft der Typ tagsüber? Nujaaa, das ist so eine Sache. Die ist mir morgens passiert und weitet sich seither aus. Prolaps kehrt mit aller Wucht zurück, was mich bestürzt, aber mich erinnern macht an einen Spruch, den ich kürzlich entweder geschrieben habe oder nur gedacht: „Du musst es ertragen.“ Ertragen ist, neben den Standardlösungen für schlimme Lebenssituationen – überstehen und ignorieren – die dritte, selten in Betracht gezogene Möglichkeit.

Im Westen hing eine schwarze Wolke vor der Sonne. Das ist keine Theatralik. Das war tatsächlich so, ringsum gesäumt von rotem Abendhimmel stand diese herzförmige düstere Wolke über der Szene und ich sang das Lied, es klang wie Blues. Mein einziger Ausflug an diesem Tag führte mich in diese Erdwüste, gebeugt, humpelnd.

Alles in Allem bin ich guter Laune, denn ich bin beweglicher, als letztes Jahr, setze mit der Reha schon am Mittwoch ein, hoffe, nächste Woche wieder ein halbwegs erträgliches Leben führen zu können.

Nun weiß ich, der Prolaps ist mein Meister. Nichts habe ich im Griff und nichts kann ich kontrollieren. Der Prolaps schwebt immer über mir und kann mich in jeder Minute meines Lebens packen. Ich bin ein Spielball der Zufälle. Endlich verabschiede ich einige Illusionen: Tschüss große Fahrradreise! Auf nimmer wiedersehen freischaffende Kunst. Bleibe im sicheren Hafen des Lohnerwerbs.

Und das ist auch gut so.

Ich fühle mich aber in der Lage, irgendwann nach Santiago zu laufen. Immerhin. Laufen und Lesen, das sind die beiden Dinge, die der Prolaptische noch tun kann. Und so tue ich es auch, genau wie letztes Jahr, laufe den Weg vor dem einsamen Gehöft auf und ab – einmal hoch und runter macht einen Kilometer. Habe ich gerade so geschafft vorhin. Ansonsten liege ich im Bett, höre den Baumaschinen zu und lese Vargas- und Nesbo-Krimis.

Bloggen lasse ich erstmal sein haut irgendwie hin.

Nachtigall, ich hör‘ die Strapsen.

Ein wichtiger Link

Wildgans hat mit diesem Artikel die Leitsätze, die ich bisher fürs Schreiben wichtig hielt, Jack Kerouacs  Wie schreibt man moderne Prosa aus Unterwegs, letzte Seite, erneuert. Endlich. Über 50 Jahre musste ich darauf warten.

Die böse Stimme aus dem Off

„Herr Irgendlink, haben sie noch irgendwas von Wert für ihre Leser?“

Diese bohrende Stimme aus dem Off.

„Öhmm,“ druckse ich herum, „nuja, liege auf der Südterrasse und schaue den Wolken beim Quellen zu. Mann, geht’s da ab! Haushohe Dinger, die sich wie unheimliche Monster zum Zu-Tode-fürchten über dich beugen und von Norden oder Osten wälzt Donner über das Land. Au warte. Mir kann das alles nix anhaben, weil ja Blitzableiter auf dem alten Scheunendach sind und ich, wenn es so richtig kracht, mich im alten Silo verkrieche, welcher ringsum mit Stahlbeton versiegelt ist, der perfekte Faraday’sche Käfig.“

„Tatata, nu mal langsam,“ befiehlt die Stimme aus dem Off, „nicht so euphorisch, nicht so privat, und hör‘ endlich auf über das Wetter zu labern. Gib denen mal wieder etwas von gesellschaftlicher Relevanz. Seit drei Tagen herrscht Schweigen in diesem Blog. Sag‘ mal was über den Sinn des Lebens oder über die Art und Weise, wie man sich selbst freischaufelt, um sich für immer wohl zu fühlen.“

„Öhmmm??“

„Na, die Sache mit dem Sterben und dass Menschen ab 40, so wie du, nix mehr taugen, weil sie sich selbst überlebt haben, weil sie eigentlich schon längst tot sein müssten und weil ihnen das, insbesondere dir selbst, eine Menge Schmerzen ersparen würde.“

„Ach daaas. War doch nur komisches Gedenke. Hab ich mal eben aus dem Kopf gekramt, als Idee, um sie zu prüfen, zu verwerfen, mich in den Liegestuhl zurück zu lehnen, tief einzuatmen, den wuchtigen Wolken beim Quellen zu zuschauen. Mann, sind das Dinger, ich finde …“

„Nu lenke nicht ab, wir sind doch hier nicht im Wetterblog …“

„Bäah, böse Stimme aus dem Off, sei endlich still,“ platzt mir da der Kragen, „wir sind in der Art Blog, die ich gerade daraus forme, und wenn es in diesem Artikel über das Wetter – Mann, was für geile Gewitterwolken – geht und böse Stimmen aus dem Off, die einem zu tiefgründigen Geschwafel verleiten wollen, dann ist dies heute und jetzt ein Wetter- und Böse-Stimmen-aus-dem-Off-Weblog. Schließlich bin ich derjenige, der das alles auch noch aufschreiben muss, also lass mich. Basta.“

Da schweigt endlich diese Stimme. Ich prüfe das lederne Notizbuch auf neue, tiefgründige Einträge. Vielleicht kann ich der Stimme doch noch gerecht werden; Fehlanzeige, der letzte Beitrag vor einer Woche, kaum leserlich, gibt nicht viel her. Durchforste mein Hirn. Stille. Nichts.

Bleibt mir nur eins, ich muss über diese unglaublich quellenden Riesenwolken schreiben und wie Vögel mit roten Federn am Hals darunter fliegen, sowie die Sehnsucht der Katze, endlich fliegen zu können und den fetten Maikäfer und blaaa-blabla-blaaa …