• arglos über das Leben schreiben
  • den Alltag zelebrieren
  • schone dich nicht
  • schone nie die Anderen
  • sag immer die Wahrheit
  • beuge sie, wenn nötig, denn die Wahrheit ist eine weiche Masse
  • vergiss, nachdem du gedacht
  • geh‘ nach Vorne, gehe weiter, halte niemals an

Für immer Dein

Der arglose Van Helsing, wie er in der letzten Szene von Roman Polanskis Tanz der Vampire auf seinem Schlitten durch die eiskalte transylvanische Nacht gleitet. „In dieser Nacht ahnte Professor van Helsing nicht, dass er das Böse in die Welt bringt,“ sagt eine Stimme aus dem Off.

Nicht anders, als der Owner. Er ahnt nicht im Geringsten, dass er aus Kollege T. und mir kleine, fiese Kampfmaschinen züchtet. War unser Arbeitsweg im letzten Jahr nur 30 km pro Tag lang und wir radelten täglich hinüber in die Loungemöbelwerkstatt, so ist er nun, auf der neuen Arbeitsstelle 50 km lang. Noch immer radeln wir, denn wir sind arme Schlucker, geizig, sportbegeistert und ein paar Stunden Radfahren am Tag hat noch niemand geschadet. Heute spürte ich die Fitness, wie sie durch den Körper sickert, alles durchdringt, sich festsetzt. Wenn ich nicht auf dem Arbeitsweg sterbe, werde ich als machtvolle Person aus der Sache hervor gehen. Genauso T. Da wir nun eine halbe Tagesetappe, die man als Langstrecken-Radreisender normaler Weise zurück legt, einfach so erledigen und zwischendrin 8 Stunden arbeiten, werden wir zu ganz gefährlichen Typen, denen irgendwann nichts mehr einen Schrecken einjagen kann.

Wenn wir das ein Jahr lang so machen, werden wir 15.000 km geradelt haben und etwa 60.000 m Höhe überwunden haben. Gut sechs Mal den Mount Everest rauf.

Es ist anzunehmen, dass das so passiert, denn in der Loungmöbelszene kennt man Worte wie Urlaub, Freizeit oder Wochenende nicht.

„Für immer Dein“, kritzelte vor einem halben Jahr Kollege T. auf ein Pappband und legte es mir um den Arm. Eine wunderbar ironische Hommage an den Owner.

Der Punkt und die Linie

Vorhin hatte ich angeschnitten, Kollege T. ist ein Punktmensch und ich bin ein Linienmensch. Aus uns beiden müsste man einen machen.

Ich schlage mich mit Schreibproblemen rum, weil ich kürzlich mal wieder angefangen habe an dem Buch, welches Le Courant heißen soll zu schreiben und scheiterte nach wenigen Worten. Dabei habe ich so eine schöne Szene am Rhein geschrieben, Mit Sonne und Pappelblüte. Die Leiche liegt in den Privateinträgen des Blogs, die nicht angezeigt werden.

Ich hatte mir letztens überlegt, hast ja nix zu tun, also schreibste den Roman. Dass du 5000 Zeichen pro Stunde schaffst, hast du bewiesen, also kannst du den Roman in 30 Stunden schreiben. Mit viel Bier und Kaffee geht das.

Ich scheiterte nach knappen 3000 Zeichen (ohne Bier).

Dabei ist eine Linie ja nur eine Ansammlung von Punkten, weiß der Mathematiker.

Wenn ich mir das Blog so anschaue, ist es im Grund eine Ansammlung von Punkten. Jeder Eintrag ist ein Punkt. Zusammen macht das die Linie.

Wenn dich nachts ein Polizist stoppt, so hast du als Linienmensch ja leichtes Spiel, weil der Polizist nur wissen will, kann der gerade gehen. Wir Linienmenschen haben damit selbst bei 2 Promille kein Problem. Der Punktmensch wird schon stocknüchtern ins Trudeln kommen.

Mir fällt hierzu das Buch Flatland ein, müsste ich recherchieren, von wem das ist, von einem englischen Mathematiker, Abbot fällt mir ein, welches eine Welt beschreibt, in der die Wesen nur die Fläche kennen. Die dritte Dimension nehmen sie nur wahr, wenn sich ein Punkt zum Kreis vergrößert. Daran erkennt man in Flatland, dass eine Kugel sich von Oben nach Unten durch die Fläche schiebt.

Bei näherem Nachdenken, zweifle ich, ob ich überhaupt der Linienmensch bin, der ich vorgebe zu sein. Wenn ich ein Linienmensch wäre, müsste ich doch in der Lage sein, eine Geschichte Punkt um Punkt, also Kapitel für Kapitel niederzuschreiben. Dann wäre der Courant schon längst Geschichte. Vielleicht ist es das Kreuz des Linienmenschen, dass er stets auf der Suche ist nach dem nächsten Punkt, nicht nach irgendeinem Punkt, sondern nach dem passenden Punkt.

Beim Bau großer Landstraßen oder gar Autobahnen geht man in der Regel so vor: zuerst werden die Brücken und die Tunnels gebaut. So kann es sein, dass man während der oft mehrere Jahrzehnte dauernden Bauphase auf einer Strecke (Linie) irgendwo in der Landschaft eine Brücke findet, ein Tunnel, ein Straßenanschluss. Der Laie wundert sich: was verbindet diese Stätten? Der Ingenieur orakelt: Hier wird einst eine Straße stehen und du wirst dich über nichts mehr wundern. Du wirst sie benutzen und es als ganz natürlich emfpfinden. So als wäre sie nie nie dagewesen.

Genauso muss ich Le Courant angehen. Es macht keinen Sinn, der Reihe nach vorzugehen. Du musst Punkt um Punkt aufkritzeln und vertrauen haben in den unsichtbaren Plan, der sich in den inneren Windungen deines Hirnes schon längst gebildet hat. Ja. So könnte es klappen. Lass endlich los, nach A, B zu denken und nach B  C und so weiter. Denke X und U und Q. Dann schreibs auf und wundere dich am Ende, dass sich ein einheitliches Gefüge ergibt von vollkommener Schönheit. Die Brücken und Tunnel der A8 des modernen Romans.

Es ist vermessen, zu glauben, dieses Weblog in seiner nunmehr achtjährigen Gesamtform, sei solch ein Machwerk.

Aber im Prinzip erklärt das Weblog die Art, wie ich in Zukunft arbeiten werde.

Rein literarisch betrachtet, sind Punktmenschen prima Lyriker oder Kurzgeschichtenschreiber. Die Linienmenschen sind Romanciers.

Die Träume der Tacker

„Menschen ohne Ziel werden immer für Menschen mit Ziel arbeiten,“ erklärte ich mittags Kollege T., „Hab‘ ich neulich im Netz gelesen. Und Menschen mit Ziel, aber ohne Mut – das ist jetzt von mir – werden immer für Menschen mit anderen Zielen aber mit Mut arbeiten.“

Dies ist die Bankrotterklärung der Lohntackerei. Dennoch verbrachten wir einen prima Tag. Der Owner hatte wieder einen Kasten Bier bereit gestellt und Kollge T. wunderte sich die ganze Zeit, warum ich an Tisch 2 arbeite und nicht wie üblich an Tisch 1. Irgendwann zog ich den Schutzbelag weg, der alles, was unter dem Tisch steht, verdeckt. Geblendet vom Glanz der Bierkiste verstand T. und so stritten wir uns schließlich, wer dem heiligen Kasten näher sein durfte, bis wir beide gemeinsam an Tisch 2 arbeiteten. Der mittlere Tisch.

In diesem Lohnerwerbsdilemma war reichlich Zeit, unsere Pilgerpläne neu zu definieren. Wenn alles glatt gelaufen wäre und die Firma nicht insolvent wäre, hätte T. ab Samstag Urlaub und wäre nach Santiago geradelt. Ich hätte das Ende Mai so gemacht und eitel Tackerschein wären wir glücklich gewesen.

Aber die Wirtschaftskrise bricht ja so Manchem das Genick und wälzt die Träume der Menschen gewaltig um. So dass endlich klar ist: nichts ist von Bestand und du sollst keine Pläne machen.

Wir ließen unseren Träumen freien Lauf.

„Als die Firma zusammengekracht ist,“ gestehe ich T., „habe ich mir überlegt, was wäre, wenn ich nächstes Jahr tot bin, dieses Jahr Zeit und Geld auf einem Fleck und keine Verpflichtung. Dann würde ich nach Tarifa radeln, ganz im Süden. Von dort nach Sevilla, weiter über die Via de la Plata bis nach Compostella.“ „Klingt gut,“ sagte T. „Das ist noch nicht alles,“ fügte ich hinzu, „Compostella ist ja gar nicht mein Ziel.“ „Sondern?“ „“Das Nordkap. In meinem Reiseleben bin ich bisher zweimal gescheitert, das Nordkap mit dem Rad zu erreichen und ungefähr fünf mal scheiterte ich daran, Gibraltar und Tarifa zu erreichen. Ich muss endlich abrechnen und alles in einem Abwasch machen. Wäre ne klasse Tour. Von Compostella zum nächsten Hafen, übersetzen nach England, hoch nach Schottland, rüber nach Bergen, das liegt in Norwegen und dann zum Nordkap.“

„Und was machst du am Nordkap?“

Ich zuckte die Schultern. „Selbstmord? Hab ja dann nix mehr zu tun.“

„Nuja, aufschreiben müsstest du das schon, oder?“

„Ja, okay, mach ich doch nebenbei. Weiß nur nicht, ob jemand meine Handschrift lesen kann.“

Der goldene T. denkt da viel realistischer. Ich glaube, wir sind grundlegend verschiedene Typen. Deshalb verstehen wir uns auch so gut und ergänzen uns prima. Sei es nur, dass er eine saubere Hose trägt und ein schmutziges Hemd und bei mir ist das Hemd sauber und die Hose dreckig (darüber, das man aus uns beiden einen machen sollte, habe ich hier berichtet). Aber was uns entscheidend ausmacht: Kollege T. ist die Koryphäe des Punkts und ich bin ein Spezialist der Linie. Eine durchweg bauesoterische Sache, auf die ich noch einmal zurück kommen werde. Wichtig ist: Kollege T. kann den Punkt und ich kann die Strecke.

„Wie wäre es damit,“ warf T. ein, „1. August geht’s los nach Süden und wir trödeln so lange, bis der alljährliche Hochpilgerstrom vorbei ist und kommen Ende September in Compostella an. Von dort radeln wir die Via de la Plata nach Sevilla, dann ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Costa Blanka, wo wir Cousin J. und Cousine A. besuchen, uns festsetzen und überwintern.“

Lieber T. ich muss sagen, Deine Variante ist auf jeden Fall die realistischere. Aber was nutzt es dem Galerensträfling, von Freiheit zu träumen, wenn er zehntausend Kilometer weit schwimmen muss, um zu entkommen.

Die Rückkehr der Tacker

Der Owner. Einfach nicht tot zu kriegen. Heute Morgen begrüßt er mich mit den Worten: „Hab lange nix über das Tackern gelesen in deinem Blog.“ Schlagfertig antworte ich: „Hab ja auch lange nicht getackert. Kein Tackern, kein Erlebnis, keine Geschichte vom Tackern.“ Für diejenigen, die erst jetzt zuschalten: der Owner ist mein Chef und Tackern, also mit einem druckluftbetriebenen Gerät Metallnadeln in Holz treiben, ist mein Job, in dem ich seit ca. 4 Wochen freigestellt war.

Ich kann ihm ja nicht sagen: „Die Sache ist mir zu heiß, in dem Blog liest mittlerweile jeder Feind mit, den ich habe, jede Konfliktperson, alle Frauen, mit denen ich schlafen will, mein Chef, die große Jazzgemeinde aus dem Nachbarstädtchen S., Kollegen, ja sogar Freunde lesen hier. Es gibt kein Thema mehr, über das ich unverfangen schreiben kann. Schreibe ich über die Arbeit, habe ich ihn am Hals, schreibe ich über erotische Phantasien, beziehen das die Frauen, Männer, Tiere, die das lesen auf sich. Ohne mich in Widersprüche zu verstricken kann ich eigentlich nur noch über Blümchen schreiben.

Die Luft war kühl, zehn Grad, sonniger Morgen. Von Norden wälzte sich behäbig ein graues Etwas über die Szene, so dass gegen Mittag mit Regnen zu rechnen wäre. Hier im Bruch, jener Gegend zwischen Kreisstadt H., Landstuhl und Kaiserslautern liegt meine neue Arbeitsstätte. Der Owner hat letzten Monat in einer Nacht- und Nebelaktion die gesamte Tackerwerkstatt, welche sich in Containern befindet, auf LKW laden lassen und auf dem Gelände eines Mietkloimperiums wieder aufgebaut. Kollege T. und ich können von Glück reden, dass man uns nicht darin angekettet hat und gleich mit abtransportierte.

Das Bruch (oder heißt es der Bruch? Gesprochen wird es jedenfalls mit einem langgezogenen U, Bruuch), ist ein ehemaliges Moor, durch das sich die A6 zieht, Bahnfernstrecke und eine unerträgliche Bundesstraße. Das einzig Schöne am Bruch ist der Radweg, welcher zwischen Wiesen und Bächlein an Militäranlagen vorbei führt. Ich hasse das Bruch. Ich hasse Flachland generell, weil es nur mit zähem Hinschauen dem Blick einen Anreiz gibt, sich irgendwo festzubeißen: eine alte, verfaulende Weide etwa oder die Simultankirche in Vogelbach. Im Bruch habe ich meine Kindheit verbracht. Nicht etwa spielend mit Ball und Fahrrad und Freunden, sondern auf der A6 jeden Sonntag, die Großeltern besuchend. Vielleicht bin ich deshalb ein solch verschrobener Einzelgänger: Jahre meines Lebens habe ich mich auf der Autobahn gelangweilt und Ich seh‘ etwas was du nicht siehst gespielt.

Junggrüner Löwenzahn – ich wollte doch über Blümchen schreiben – quetschte sich durch die Ritzen des Pflasters vor dem Mietkloimperium. In einer Ecke hatte man die Tackercontainer aufgestellt. Auf dem Gelände geschäftiges Treiben. Ein Wesen wie aus dem Weltall mit einem Anzug, der zum Atomschutz taugen würde, röhrte mit einem Hochdruckreiniger und putzte die Mietklos. Gelbe Gummiestiefel, Schutzmaske, alles aus Gummie wie in einem speziellen Sexstudio, dazu das überdimensionale Druckgerät, bald so groß wie ein Einfamilienhaus.

Das ist die Desynchronisierung der Fäkalien. Hier wird der natürliche Fluss gebrochen. Mietklos von überall aus der Gegend, in weiter Ferne verschmutzt, benutzt; missbraucht, um sich Drogen zu spritzen, zu weinen, Wutausbrüche zu kriegen, manchmal vielleicht Sex? Ne. Wer treibts denn auf einer Miettoilette, Handhoch?

Neben dem Löwenzahn gab es eine Lücke im Pflaster, in dem sich Gänseblümchen breit gemacht hatten und Klee und Gras. Schon jetzt freue ich mich auf die Grasblüte.

Die Aufgabe war einfach. Der Owner in neuem Glanz, stellte uns Herrn W. vor, „quasi euer neuer Chef, er ist der hiesige Mietklo-Mogul. Ihr müsst nur zwei Paletten Hocker und ein paar Tische bauen, dann geht ihr als freie Männer aus der Geschichte.“ Der Owner blickte nach Westen in den stetig ekelerregender werdenden Dunst, der sich täglich über dem Bruch bildet. Irgendwo waren Hügel zu erahnen, etwas, an dem man sich festklammern könnte in diesem hilflosen Einerlei. Und der Westen, das weiß doch jedes Kind, ist die Richtung, in die der Held nach vollbrachter Heldentat davon reitet. Das hat Kollege T. und mich schon immer an unserer alten Arbeitsstätte gestört: dass man nach getaner Arbeit nicht in den Sonnenuntergang reiten kann. Wer im Westen arbeitet und im Osten wohnt, kann nicht in den Sonnenuntergang reiten.

Nun hat sich das Blatt gewendet. Unsere Heimwegrichtung könnte man mit viel Mühe als Westen bezeichnen. Spitzwegerich spriest an einem dreckigen Rech und eine Blume, deren Name ich nicht kenne, überwuchert rankenartik Bauschutt.

Nachmittags saßen Kollege T. und ich in der Sonne, die dann doch noch die Oberhand gewonnen hatte und beäugten die Nachbarn. Hinter dem Container, kaum ein Meter entfernt, befindet sich ein vernagelter Bretterzaun, durch den man den Atem scharfer Hunde hören kann. „Denen will ich nie begegnen,“ sagte T., „solch stille Viecher töten lautlos, hinterlassen keine Spuren.“ Nebenan eine Baustofffirma, weiter hinten eine Grünschnittentsorgungseinrichtung. Obwohl wir sie nicht sehen können, muss sie da sein, denn tagein tagaus fahren Autos mit vollbeladenen Anhängern vorbei, ein uralter Bulldog mit verkommenem Kipper war schon zweimal hier und hat Gartenabfälle gebracht, hochoben auf dem Anhänger die Überreste roter Blumen.

„Wassen das da drüben für ’ne Firma?“ fragte T. und wies mit dem Kinn über die Straße. Aufgeräumtes Gelaände vor unscheinbarer Halle, kein Firmenschild, nichts, was auf deren Tätigkeit hinweist.

„Die bauen Loungemöbelvernichtungsmaschinen,“ scherzte ich.

Wir schlugen uns auf die Schenkel und betrachteten eine blaue Blume, die sich als einzige in einer Mauerritze halten konnte. Schillernd grüne Käfer schwirrten.

So verging unser erster neuer Arbeitstag im neuen Leben. Die Pilgerei findet weiterhin im Hosentaschenformat statt. Ein gut Stück des 25 km langen Weges führt auf dem Jakobsweg. So fühlen wir uns mit Compostella stets verbunden.

So.

Nun soll mir nochmal einer nachsagen, ich könnte nicht über Blümchen schreiben.