Ich im Dialog mit ich über die Lebenszeitdiebe

Wie ich an einer roten Ampel warte und wichtige Gedanken wälze – die vielleicht Leben retten könnten oder eine bahnbrechende Erfindung hervorbringen, Gedanken die mich mindestens glücklich machen, weil ein paar gute Worte dabei sind, die man im Weblog notieren könnte – fällt mein Blick auf ein Großflächenplakat am anderen Ende der Kreuzung. Ein Technikmarkt wirbt für billige Dinge bis zum 25. April, man erhalte 30 % Rabatt auf dieses Gerät und 25 Rabatt auf jenes, und ganz besonders billig sei alles, was in der und der Warengruppe angeboten werde. Klingt ziemlich verlockend, vor allem, weil eine rotlippige Frau auf dem Bild ist. Die Ampel wird grün. Sie wird wieder rot.

Staunend baue ich die Angebote in mein Leben ein und fabuliere von brillianten Großbildern auf der TV-Leinwand und atemberaubendem Tonerlebnis mit der neuen Rundum-Stereoanlage, sowie lieblichen Stunden mit der Rotlippigen auf einem Sofa, welches auf dem Plakat daneben nur 399 statt 699 Euro kostet. Die Ampel wird grün. Sie wird wieder rot.

„Was tust du?“ frage ich mich selbst.

„An einer Ampel stehen und auf Grün warten“.

„Paperlapapp, was tust du wirklich?“

„Öhm, von billigen Produkten träumen“, räume ich kleinlaut ein.

„Und …?“ fordert mich ich auf.

„Okayokay, ich verschwende Lebenszeit, weil irgend so ein Idiot mir ein großes Plakat vor die Nase gestellt hat, das ich von Oben nach Unten lese und auswendig lerne. Ich werde dort einkaufen.“

„Idiot,“ ermahnt mich ich, „eigentlich müsstest du doch alt genaug sein und dein abgrundtiefer Hass auf den Konsum und die Marktschreierei müsste sich so tief in deine Seele gefressen haben, dass du solche Botschaften nicht mehr wahr nimmst. Wie viele Minuten hast du den wichtigen Gedanken an die lebensrettende Maschine, die du gerade erfinden wolltest, abgewürgt und statt dessen in der siebten Hölle des modernen verschlonzten Konsum-Unwetters verbracht? Hm? Hmm? Hmm?“

„Ich wollte keine Maschine erfinden und auch kein Leben retten“, rechtfertige ich mich vor ich, „ich hab friedlich vor mich hin gedacht und die Welt an mir vorbei flanieren sehen. Die Plakate sind ein Teil der Welt, also habe ich sie in meine Gedanken eingebaut. Ich weiß noch, bevor ich sie entdeckt habe, ging es um die Zahl Pi und dass alles rund läuft.“

„Und dann stoppt dich die Botschaft der Werbehaie und nix Pi, nix rund, nix läuft mehr. Du verbringst deine Zeit in Traumwelten, die du dir kaufen kannst oder von denen du wenigstens glaubst, du kannst sie dir irgendwann kaufen. Du brauchst keinen Flachbildfernseher und auch kein Sofa und schon gar keine rotlippige Frau. Denk lieber an deine arme alte Mutter.“

„Mutter?“

„Ja. Mutter, wie sie manchmal da sitzt, nachdem sie den Briefkasten ausgeräumt hat und die Werbeprospekte aufmacht und dir manchmal daraus vorliest: Herzlichen Glückwunsch, Frau Link, Sie haben gewonnen. Ihren garantierten Gewinn von 2000 Euro in bar erhalten Sie auf einer Gratis-Fahrt ins Dahner Felsenland des verschlonzten Konsums, wo wir sie einsperren im Hinterraum einer hässlichen Gaststätte und Sie von geschulten Psychofolterern so lange bearbeiten lassen, bis Sie eine Matratze mit Eisenspänen kaufen, das ist gut für Ihr Kreuz und Sie kriegen noch eine Kaffemaschine, ein Wurstpaket und einen Gartenzwerg, alles umsonst. Sagst du dann nicht grundsätzlich zu ihr: Du solltest das nicht lesen, du solltest deine Lebenszeit nicht auf diese Art verschwenden. Jeder Gedanke, den du damit verbringst, verkürzt dein Leben, du könntest Schöneres tun? Schmeiß den Brief ungeöffnet in den Müll.?“

„Diese gemeinen Zeitdiebe,“ antworte ich ich, „gut, dass du mich zur Raison bringst. So betrachtet knöpft mir der große Werbeagent, ja ein paar Minuten meiner Lebenszeit ab, weil er mich in seine Scheiße rein zieht, die mich nix angeht. Wenn ich täglich an dem Plakat vorbei kommen würde und immer nur zwei Minuten in der Plakatwelt leben würde, dann wären das bei optimistisch geschätztem Restleben ja über 20 Tage Ablenkung. Ohne Schlaf“

„Richtig gerechnet. Aber du lebst vielleicht gar keine 40 Jahre mehr. Morgen könnte es vorbei sein.“ droht mir ich.

Nun sehe ich ein: „Nicht auszudenken, wenn mich beim Betrachten der Plakate ein Auto überfahren hätte. Dann hätte ich – und du übrigens auch – den kläglichen Rest meines – und deines – Lebens nämlich damit verbracht, an Flachbildschirme und rotlippige Frauen zu denken, anstatt sich den entscheidenden Lebensfragen zu stellen.“

Anmerkung: Ich hätte den Dialog auch ohne die ich-ich-Variante schreiben können, wäre vielleicht weniger verwirrend. Aber nun ist er fertig, that’s Weblog, kaum geschrieben, schon offen im Netz. Ich hänge es mal in die Schreibtipp Kategorie, weil es eine Übung für experimentellen Dialog ist.

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