Scheitern – ein Annäherungsversuch

Vom Scheitern.

Vom Scheitern, sage ich eben großmütig, könnte ich ja ein Buch schreiben.

Ich bin das Scheitern.

Menschen, die scheitern, sind mir grundlegend sympathisch, wie sie an einem Bauzaun lagern und hungerleidend ausschauen und jämmerlich eine geklaute Krücke in der Hand halten, um ihren Mitmenschen zu zeigen, ich bin notleidend – vor sich einen Pappbecher, in den nie nie nie jemand einen Pfennig wirft und am Bauzaun hat ein Hip-Hopper geschrieben „1-Mann-Armee“. Selten sieht man solche Menschen, aber sie sind mitten unter uns. Für gewöhnlich werfe ich einen Euro in solche Pappbecher, weil ich weiß, dieser Mensch kann sich ein Brötchen dafür kaufen oder Bier. Und für gewöhnlich scheint die Sonne, denn in diesem Weblog scheint immer die Sonne.

Seit etwa zehn Jahren ist mir bewusst, dass wir Menschen das Scheitern-Gen besitzen. Es löst nach 30 Jahren einen Prozess aus, dem wir uns mit aller Macht zu widersetzen versuchen und dessentwegen wir Dinge tun, die uns selbst zwar verraten, aber weil alle das Gen haben und alle letztlich scheitern, nehmen wir das nicht wahr. Es ist wie ein blinder Fleck. Gescheiterte sind mitten unter uns und führen ein ansehnliches Familienleben, aber wir erkennen sie nicht!

Ich sitze auf der Südterrasse und lausche dem Wind in den Pappeln an der Südgrenze des einsamen Gehöfts, was wie Melodie in meinen Ohren ist – und über Jahre, gar Jahrzehnte, wenn ich so lange lebe, so sein wird. Über das Gesäusel in den Bäumen hinweg, werde ich das Scheitern als Lebensprinzip nie wahrnehmen, es sei denn, ich habe den Mut, es mir einzugestehen.

Gute Gedanken zum Scheitern ereigneten sich eben, vor drei Minuten in meinem Kopf und ich dachte, musste unbedingt aufschreiben, ist ein Lehrstück für alle anderen da draußen: wenn du das, was du eben gedacht hast, so auf Tastatur bringst, wie du es gedacht hast, wird jeder, wirklich jeder, das verstehen und das Scheitern verliert all seinen Schrecken, weil es ja eine genetische Sache ist, für die niemand etwas kann. Es ist wie schwul sein, autistisch intelligent, oder mit 35 Krebs kriegen, oder Zwillinge gebären. Es ist von der Natur gewollt und du kannst dein Konto endlich auflösen, deinen Gläubigern sagen, tschuldigung, schulde ich dir, ist genetisch, kannichnixfür. Du bist fein raus im genetischen Scheitern.

Was ist mit den Porschefahrern mit den grauen Haaren und den 25-jährigen Freundinnen? Die sind doch nicht gescheitert,  trotzdem über 40, oder? Natürlich sind sie gescheitert! Sie sind die schöngelifteten Feinfrisure der modernen Scheiterungskosmetik. Allein kraft ihrer Bankenpotenz sind sie in der Lage, ihr persönliches Scheitern zu verschleiern (das sind ganz miese kleine Typen, die sich jeden Zentimeter ihres imaginären Schwanzes teuer erkaufen – der bekennende Scheiternde hat so etwas nicht nötig).

Ja, wir sind Lügner, wir Menschen. Allesamt gemeine kleine Lügner, die im Spiegelgefecht, gut aussehen zu wollen, über jedwede Leiche gehen, um unseren Status aufrecht zu halten.

Dass Status eine leicht durchschaubare Sache ist, mit der sich seit Jahrtausenden die Machtmenschen luftsaugend über Wasser zu halten versuchen, enttarne ich an dieser Stelle.

Für immer.

Dies ist ein provokanter Artikel. Ich habe ihn, zugegebener Maßen nicht in ganz nüchternem Zustand geschrieben. Als Blogautor kann ich mich also auf ganzer Linie als gescheitert bezeichnen.

Ich bin einer von vielen – je est un des toutes – um es brachial mit Rimbaud zu sagen, der zu jung starb, um dies zu formulieren.

Wenn ich bloß die Worte zusammenbrächte, die ich vor drei Minuten auf der Südterrasse dachte! Rimbaud hätte das gekonnt.

Aber ich, ich bin schlichtweg an diesem Artikel gescheitert.

Sry

4 Antworten auf „Scheitern – ein Annäherungsversuch“

  1. Ach, das Scheitern kann ja so schön poetisch sein, wenn man es zu nehmen versteht. (Und Sie verstehen das!)

    Schreiben Sie also ruhig scheiternd voran…

    Grüsse von Quer

  2. scheitern … eine frage der perspektive … wenn wir die perspektive wechseln und das scheitern, wie du es hier ins szene setzst, zur NORMalen GENialität erheben … na … was dann?

    wer hält den massstab?

    ach, da könnt ich jetzt stundenlang drüber filosumpfieren …

  3. habe eben im kommentar von janaluna aus versehen gelesen:
    wer hält den massagestab?

    höhö.

    sehr starker artikel, könnte noch `ne spur provokativer sein.
    beneidenswertes eremitendenkergehöftbesitzerdasein!

  4. Frage: Ist Zumwinkel (oder Pooth u.ä.) schon vor seinem Scheitern gescheitert oder erst nachher? Oder ist er überhaupt nicht gescheitert oder grundsätzlich von Anfang an? Antwort aus einer beliebigen Wahrheitsecke.

    Andere Frage: Wie viele Menschen hat Zumwinkel u.ä. zum Scheitern gebracht? Wie viele hat irgendlink auf dem Gewissen? Keine? Herzlichen Glückwunsch, kein Scheitern-Gen vorhanden.

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