Schreiben ist Knochenarbeit! Seit gut 20 Jahren hänseln mich gute Freunde: Du erzählst immer nur von dem Buch, aber schreiben tust du es nicht. Dabei habe ich immer wieder Anläufe genommen, ein größer gestricktes Ding zu fabrizieren, habe auf diese Weise im Selbstversuch, ohne etwas literarisches zu studieren, meine Erfahrungen gemacht und teilweise akribische Experimente gestartet. Erstaunt war ich, dass ich in fünf Stunden etwa 35.000 Zeichen schreiben kann. Das sollte ein Kurzkrimi werden und wenn er mit 35.000 Zeichen zu Recht gekommen wäre, wäre er auch fertig und lesbar. Nun liegt er als Dateileiche auf dem Rechner.
Als leistungsorientierter Bürger waren mir diese 35.000 Zeichen irgendwie wichtig.
Dabei ist Schreiben für mich etwas ganz anderes, als möglichst viele Buchstaben auf einer Tastatur in den Computer zu hacken. Das ist eine stupide Arbeit, die nichts mit Kreativität zu tun hat. Die eigentliche Kreativität meines Schreibens findet unterwegs statt. Nur dort bin ich gut. Nur dort kann ich mir Erinnerungsstützen schaffen, um später in harter Schufterei etwas Gutes zu generieren. Mein ledernes Notizbuch ist Anlaufstelle für kryptische Satzfetzen, mit denen eigentlich nur ich etwas anfangen kann. Diese Satzfetzen sind wie Fertigsuppe, die man aufkochen muss, um ein schmackhaftes Etwas zu verzehren. Manchmal, wenn ich nicht dazu komme, etwas zu notieren, baue ich mir am Wegesrand eine Merkstrecke, an der ich das Wichtige, was ich gedacht habe, befestige. Autistische Genies machen das genauso. So radele ich durch die Welt und neben einem Holzstapel habe ich DIE IDEE, also befestige ich sie an dem Holzstapel und wenn ich auf dem Rückweg daran vorbei komme, erinnere ich mich daran.
Manchmal kommt mir mein ganzes Leben wie eine Merkstrecke vor. Dann ist plötzlich alles wichtig.
Als ich vor ein paar Wochen die Kreisstadt H. durchquerte, wurde mir klar, dass ich das Buch, welches „Europenner“ heißen soll, irgendwann doch noch schreiben werde. Es gibt diese Momente, dass Vieles auf einen einzigen Punkt fällt und man sich plötzlich sagt, das ist es, das ist das Konzentrat. Es ist wie im Traum, der bekannter Maßen schnell und unbarmherzig ist, und der Ecken und Kanten und unerwartete Wendungen hat. Der Traum ist im Grunde auch nur en Komprimat von einem unglaublich großen Ding, das es gilt, nach dem Aufwachen mit viel Fleiß und ohne dabei zu verzweifeln auszubreiten, um endlich klar zu verstehen, worum es geht.
Nicht anders funktioniert mein Buch.
Es ist komprimiertes Wissen, auf den Punkt gebrachtes Leben, assoziative Wendigkeit, und ich alleine bin derjenige, der das Thema ausbreiten kann.
Um es nicht zu vergessen, notiere ich an dieser Stelle:
- Die Ereignisse 1988 am norwegischen Fluss eröffnen das Dokument
- Die Durchquerung von Kreisstadt H. am 6. April schließt das Dokument
- Den Tag zu formen ist eine schwere Bürde
- Diese Reinheit wirst Du nie wieder erlangen
- Neben dem Bettler steht grundsätzlich geschrieben: 1-Mann-Armee
- Du bist der Bettler. Du bist der Geringste. Du bist der, der es tut
- Waterframe – nenne es den Waterframe. Er rahmt die Geschichte.
Dies sind Notizen an mich selbst, wie sie in meinem ledernen Buch stehen könnten. Tut mir Leid, dass Ihr damit nichts anfangen könnt. Aber so ist das nun mal, wenn man versehentlich das Notizbuch eines Anderen aufschlägt. Es ist eine Bürde, ein Geheimnis. Es lässt einen den Kopf zerbrechen, ob man nicht doch etwas herausfinden könnte. Der Mensch ist ein neugieriges Wesen. Deshalb liebt er Geschichten. Deshalb braucht er Rätsel. Die Geschichten mit Rätseln zu spicken und die Rätsel zur rechten Zeit aufzulösen, das ist die Aufgabe der Autoren.
„Diese Satzfetzen sind wie Fertigsuppe, die man aufkochen muss, um ein schmackhaftes Etwas zu verzehren.“
also da muss ich widersprechen! deine texte sind nahrhafter als fertigsuppe! mein notizbuch enthält ähnliche hieroglyphen, nur weiss ich, im gegensatz zu dir, manchmal nicht mehr, was ich a.) sagen wollte und b.) was es heisst …
lg, j.
ps: ich stell mich schon mal in die schlange der erstleserInnen für europenner … :-)