Anhand der Bierflasche neben mir auf dem Schreibtisch kann ich mich ja mal ein bisschen warm schreiben zum Thema Realität. Ich plane nämlich ein surreales Projekt. Wer Surreales ausdrücken will, muss sich zunächst mit dem Greifbaren beschäftigen. Zurück zur Bierflasche. Die existiert nämlich nur, weil direkt daneben der Laptop steht, von dem sie sich abhebt. Man könnte sagen, der Laptop ist ein Schatten der Bierflasche, eine Art Halo, die das Ding umgibt. Der Halo aus vielen Nicht-Bierflaschen, Gegenständen wie Bleistifte, Gläser, Landkarten, benutzte Tempos und mobile Festplatten; der Halo sorgt dafür, dass die Bierflasche Wirklichkeit wird. So ist das mit jedem Ding, das uns vor Augen kommt. Dinge sind nur deshalb wirklich, weil sie von anderen Dingen umgeben sind, die sich von ihnen unterscheiden.
Je mehr ich über die Bierflasche nachdenke, desto unheimlicher wird sie mir. Sie hat schon starke Abnutzungserscheinungen von der Flaschenreinigung. Die ehemals bräunlich glänzende Oberfläche ist gezeichnet von zwei hellen, stumpfen Streifen. Wer weiß, in wie vielen Händen die Flasche schon war, wie oft sie wieder gefüllt wurde und wer schon alles aus ihr getrunken hat, ehe sie hier bei mir Realität wurde? Bestimmt hat schonmal jemand reingepinkelt, nachts, als er betrunken im Bett lag und zu faul war, aufzustehen.
Was gäbe ich darum, wenn ich auf einer Google-Karte einen Kreislauf dieser Flasche angezeigt bekäme. Vermutlich war sie einmal in Bayern bei einem bärtigen Öhi und auch in Schleswig-Holstein, ich nehme einen Schluck. Irgendwie kommt mir die Flasche bekannt vor. Vielleicht hatte ich sie selbst schon einmal in der Hand? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, eine Pfandflasche zweimal zu kaufen?
Richtig unheimlich wird mir, wenn ich über die Moleküle nachdenke, aus denen die Flasche besteht. Geschmolzner Sand von fernem Strand. Ich nehme einen Schluck, atme tief ein, Luft, die schon in anderen Lungen war, ja: verunreinigte Luft voller Moleküle, vermutlich auch Moleküle, die einst in einem anderen Menschen existierten. Das Herzmolekül von Sokrates womöglich, ein Atom aus Goethes Faust sowie ein Riesenmolekül von Schillers Glocke (ich meine nicht die Ballade). Wenn es nur das ist. Aber schlimm wäre, wenn mein Körper aus den atomaren Überresten von Despoten besteht. Auszuschließen ist das nicht.
Hum? Nun wollte ich eigentlich über Realität schreiben, aber was dabei rauskommt, klingt doch ziemlich verrückt, oder?
Ich nehme einen Schluck.
aufgrund eines ver-lesers dachte ich, bei dir würden benutzte tampons rumliegen. zum glück nicht so sehr.
atomare überreste von despoten, aber sicher.
gibt es nicht ein so genanntes surr. manifest?
und es war was mit einer nähmaschine und einem regenschirm, sich treffend auf einem op-tisch.
gruß – und das waldfoto ist stark, düster, ganz hinten sieht man vollbärtige germanen rennen….
Ja, das mit der Realität ist so eine Sache! Und eine Bierflasche eignet sich, wie ich neidlos erkennen muss, besonders gut, sich damit auseinanderzusetzen.
Meinerseits behaupte ich:
Der wahre Realist ist der, der nie aus seinem Traum erwacht.
Irgendwie surreal kommt mir das dennoch alles vor…
Beste Voraussetzungen also für Ihr Projekt, Herr Irgend!