Unser leerer Koffer mit Geld drin

Heute wieder. Das 15 km lange graue Band, das niemals endet. Ich starte stets hoch oben, denn das einsame Gehöft ist einer der höchsten Orte in der Gegend und rolle gemächlich hinunter ins Tal. Den ein um anderen Tag komme ich nicht umhin, offenen Mundes die Wolken zu bestaunen, während ich die L 465 bewältige. Einen grandiosen Rundumblick hat man von dort, bis man einschwenkt nach Westen und sich das 15 km entfernte Kohlekraftwerk in den Himmel reckt. Dort muss ich hin. Müde trete ich in die Kurbel und versuche die halbreifen Felder zu schmecken, Gerste und Mais und moderne, patentgeschützte Züchtungen. Je nach Witterung ein bisschen Regen, Schwüle oder Luftfeuchtigkeit auf den Lippen. Auf der Hälfte der Strecke ist um Halbneun Treffpunkt mit Kollege T. Während wir radeln, schwätzen wir. So sagte ich heute Morgen: „Es sollte doch genügen, einfach nur über den Arbeitsweg zu schreiben. Interessant genug ist er allemal. Im täglichen Rund scheint sich zwar alles zu gleichen, chinesisches Mädchen hier, sture alte Dame da und vorbei am großen amerikanischen Burgerbrater, aber das stimmt nicht. Täglich ist alles neu und wir durchqueren diese Welt als gigantisches Deja-Vue – verdammt nah dran, dass täglich das Murmeltier grüßt, aber nie nie nie erleben wir zweimal das Selbe.“ T. zuckte die Schultern und schürte bei Rot über eine Ampel, rief unserer alten Halbneunuhr-Dame ein fröhliches Guten Morgen hinüber. Sie war spät heute. Beinahe hätten wir sie verpasst.

Am Mitfahrerparkplatz, wo das Rad vom Norweger seit Montag unbewegt parkt, liegt seit einigen Tagen ein alter Lederkoffer neben dem Mülleimer. Daneben liegen ein paar Klamotten, leere Flaschen und schmutzige Fetzen. Als wir ihn am Montag entdeckten, jubilierte ich: „Juhu, da ist Geld drin.“ Wir kehrten um, voller Hoffnung, öffneten die Schnapper, schauten hinein. Gähnende Leere. „Dennoch“, sagte T., „ein sehr schöner Koffer, nehmen wir ihn mit?“ „Nicht jetzt“, sagte ich, „wir holen ihn auf dem Nachhauseweg. Was soll denn der Chef denken, wenn wir mit Lumpen auf dem Gepäckträger in der Firma vorfahren?“

So liegt der Koffer nun schon seit Tagen neben dem Mülleimer und immer wenn wir vorbei fahren, debattieren wir, wann wir ihn endlich mitnehmen. Morgen, ja, ganz bestimmt. Dass er uns gehört ist sonnenklar. Neulich habe ich eine Pfanddose im Straßengraben gefunden und da ich keine Möglichkeit hatte, sie aufs Rad zu packen – was soll denn der Chef denken, wenn ich frühmorgens schon eine leere Bierdose auf dem Gepäckträger anschleppe – habe ich sie kurzerhand in unserem Koffer deponiert. Irgendwann müssen wir das Ding nur noch aufsatteln und dann ab damit zum nächsten Dosenautomaten. Soll uns niemand nachsagen, unser leerer Koffer mit Geld drin enthielte keine wertvollen Güter.

Neinneinnein.

Nachtrag: Heute Morgen stand der Chef mit einer Agentin vor der Tür und grinste uns hundertmeter weit entgegen. Er scheint uns wegen unseres coolen Humors ins Herz geschlossen zu haben. Wo hat man das, dass man zur Arbeit kommt und alle Lächeln, scherzen, albern? Nassgeschwitz kamen wir näher und als wir in Hörweite waren, rief T: „Bitte bitte lass mich … dein Sklave sein“ (Ärzte).

Das wiederum ist eine andere bizarre Geschichte aus dem Leben der Lohntacker … ;-)

Die Relativität der Halbneun-Menschen.

Das ist es. Wie ich so mit Kollege T. die große lange Hauptstraße zwischen Kreisstadt H. und dem Städchen B., wo wir arbeiten, dahinjage auf dem schäbigen Radweg mit den vielen gefährlichen Kreuzungen und wie wir beinahe jede Ampel bei Rot nehmen und die Autofahrer die Scheibe herunterkurbeln und „Wixer“ rufen. Ein Höllenritt jeden Morgen und jeden Abend. Aber, hey, Leute, mit dem Fahrrad zur Arbeit, das entspannt und das spart viel Geld. Gut 150 Euro pro Monat hat man mehr in der Tasche, wenn man einen Arbeitsweg von nur 15 km hat. Ist doch was. Oder? Außerdem kommt man abends angenehm weichgeklopft nach Hause, braucht keinen Sport zu treiben und die bizarre Urbanität, das alltägliche kleine Geplänkel am Wegesrand ist auch nicht zu verachten.
Die Halbneun-Menschen.
Das sind die, die uns täglich begegnen und im Laufe der Wochen zu bekannten Gesichtern werden, so dass wir anfangen, sie zu lieben und ihnen Geschichten andichten. Da wäre zum Beispiel der Norweger. Sein Fahrrad steht montags bis freitags am Mitfahrerparkplatz an der A6. Wir haben ihn noch nie gesehen, aber sein altes Dreigangrad ist rot und es steht immer auf dem gleichen Fleck, so dass wir irgendwann gescherzt haben, „Du, das ist so, der arbeitet auf einer Ölbohrinsel und ist 20 Tage draußen im Atlantik, umgeben von Schmutz, Gestank, Gefahr. Dann ist er zehn Tage zu Hause, in denen das Fahrrad nicht dort steht. So ist das auf Ölbohrinseln.“ Wir dichteten einen mittelalten untersetzten Kerl mit solchen Muskeln, der sich kurz vor Beginn seiner Bohrinselschichten mit einem Kollegen auf dem Mitfahrerparkplatz trifft, sein Fahrrad absperrt und gemeinsam fahren sie dann zum nächsten Helikopter-Flugplatz, von dort weiter zur Bohrinsel.
Etwas weniger Phantasie braucht es beim chinesischen Mädchen, das uns erstmals vor zwei Wochen unter der Eisenbahnbrücke, nur drei Kilometer vom Mitfahrerparkplatz entfernt, begegnet ist. Wie sie gelächelt hat. fernöstlich unerreichbar, so dass T. sich hinreißen ließ, ihr freundlich einen guten Morgen zu wünschen. Seither grüßen wir sie täglich und sie lächelt zurück.
Oder die Rentnerin, die brav an der Ampel Ecke Richard-W.-Straße wartet. Sie gebärdete sich drei Halbneunmorgens-Treffen ziemlich stur, aber seit Kurzem grüßt sie zurück, wenn die beiden verrückten Radler bei Rot über die stark befahrene Kreuzung saußen.
Wenn wir gegen neun Uhr unser Ziel erreichen, passieren wir ein Freizeitgelände, an dem sich allmorgendlich stets die selben Nordic-Walkerinnen ein Stelldichein geben. Auch sie sind mittlerweile wohlbekannte Gesichter. Fröhliches Hallo, beinahe ein Ritual.
„Das einzige Problem ist die Relativität von Zeit und Raum,“ erläuterte Kollege T., „wenn wir von Halbneun-Menschen sprechen, nur weil wir um Halbneun in H. losradeln, so halten uns unsere selbst definierten Halbneun-Menschen in B., wo wir erst um neun Uhr ankommen logischer Weise für Neunuhr-Menschen.“

Aufgegebene Jetzts

„Im Angesicht all der aufgegebenen Jetzts“

Der Zettel steckte in meiner Tastatur. Weiß nicht mehr, wie er da hin gekommen ist.
Ich bin vollkommen platt heute. Müsste eigentlich Homepageschuften. Der bizarre Eventdienstleisterjob treibt arge Blüten.

Vielleicht liegt da das Geheimnis der aufgegebenen Jetzts? Ich wechsele die Jetzts wie andere Leute ihre Socken. Mal bin ich ein einfacher Tacker, der mit einem druckluft betriebenen Gerät kleine Ledermöbel bastelt, um in der nächsten Sekunde bewaffnet mit einer EOS 350 fotografisch tätig zu werden und mir spätnachts noch den Quellcode für hippe Webseiten aus den Hirnlappen zu wringen. Alles für den großen Eventdienstleister.

Ich wünschte, ich hätte auf mich gehört, vor anderthalb Monaten, als ich bandscheibengeschädigt schmerzgekrümmt den Weg vor dem Hof auf und ab spazierte und mantrisch murmelte: das machst du jetzt vier Monate lang, so soll es sein, so soll es sein. An das damalige Jetzt kann ich mich kaum noch erinnern. Trotz allen Schmerzes war es eine gute Zeit. Die Lektion, die mir das vergangene Jetzt zu erteilen versucht hat, lautete: Werde langsam. Bleib langsam.

Ich werde jetzt dieses Jetzt hier vor dem PC aufgeben und noch eine Flasche Bier trinken, um sodann das Bierflaschenjetzt wie Schlangenhaut von mir zu strippen und ein langes dunkles Jetzt im Bett zu verbringen bis ich erwache, mürrisch murmelnd: jetzt isses schon wieder sechs Uhr. Puuuh.

Seele – wo zur Hölle bist du?

Was gibt es für heute zu sagen? Herr Irgendlink ist materiell obenauf. Das Wort Geld spielt keine Rolle, geht ihm leicht von den Lippen. Er stellt fest, er hatte immer Recht. Geld spielt tatsächlich keine Rolle und Sicherheit wird es dir nie geben. Ein kurzer Selbstversuch genügt, um es herauszufinden. Die gewonnene Erfahrung nützt Herrn Irgendlink nichts. Er hat seine Seele nicht gefunden. Ein seelenloser Kerl in einer garstigen Zeit. Wenn alles so prima und perfekt zu laufen scheint, warum sollte man dann unglücklich sein? Richtig: etwas fehlt und es ist nicht Geld. Mehr noch: nie war es Geld. Wir haben uns geirrt in unserem Wahn, hetzten dem falschen Rudel hinterher heulten atonale Lieder …

Neinneinnein, ganz und gar nicht steht es zum Besten.

Willkommen liebe Leser im Zeitalter der Larmoyanz. Die Tage werden wieder kürzer. Das ist ein bittres Zeichen. Für Manche werden sie niemehr länger?

Ich beobachtete die Katze, wie sie um meine Beine streichte, als wolle sie etwas sagen und vermutete Seele in ihr. Mein Großvater vielleicht? Oder die kürzlich verstorbene Tante? Auszuschließen ist das nicht.

Dann füllte ich den Teller mit Katzenfutter. Das Tier fiel schmatzend darüber her wie E=MC Ouadrat. Eine uneinnehmbare Konstante, von Menschen erdacht.

Von Seele keine Spur.