Die Grüßianisierung der Welt

Frühmorgens im Dunst und Dämmer des Werktätigen-Advents ist die Welt grau. Die Menschen sind müde und blass. Einen Farbtupfer findet man bestens im Vorbeisaußen an einem Gebrauchtwagenladen. Wie sie da stehen, die aufpolierten Karren und den Anschein erwecken, ich bin gut, kauf mich. An den Scheiben hängen Zettel: 1-Hand, 160.000 km, Tüv neu. Kratzfreie Farbtupfer, tiefer gelegt und mit Rennfahrergurten versehen für den potentiellen Käufer namens Männlein.

Kollege T. und ich saußen auf unseren Fahrrädern daran vorbei, ungerührt, denn wir haben eine Mission: Die Welt schöner machen, Spaß bei der Arbeit, Freude am Leben. Jede Sekunde ohne Lächeln ist pure Verschwendung.

Wohl deshalb haben wir begonnen, unsere Halbneun-Menschen, die uns täglich begegnen, zu grüßen. (Ich berichtete).

Da sich manche Halbneun-Menschen nur schwer zum Gegengruß bewegen lassen, haben wir uns die letzten Tage in verschiedenen Grußtechniken geübt.

„Ist ja schon komisch“, sagte ich zu T., „wenn wir mit 25 Sachen an einem Fußgänger vorbei radeln und ihm ein freundliches Guten Morgen wünschen, ist er womöglich noch so verschlafen, dass er viel zu spät einen Rückgruß erwägt und dann sind wir längst über alle bBerge und ihn plagen womöglich Schuldgefühle.“ Deshalb fahren wir versetzt. T., 30 Meter vor mir, setzt seinen Vorschussgruß und wenn unser Halbneunmensch vollkommen perplex nicht rechtzeitig reagiert und droht in Schuldgefühle zu verfallen, kann er es an mir wieder ausbügeln.

Man muss den Menschen eine Chance lassen.

Oder jene komplizierte Situation an der Ampel Ecke Richard-W.-Straße: zwei Frauen stehen auf der anderen Seite und warten auf Grün. Zwischen ihnen ein Abstand von gut acht Metern. „Okay“, sagt T. ,“wir fahren mittendurch und du grüßt die Linke und ich die Rechte.“

So grüßianisieren wir die Welt. Unsere Waffen sind nicht etwa Bibel und Kreuz, sondern ein simples Lächeln und ein Hallo-Guten-Morgen-Schöne-Welt. Mit jedem Meter nimmt das morgendliche Alltagsgrau mehr Farbe auf. Wie ein Wischtuch saugt es Farbe, Farbe, Farbe.

Wir überlegen, ein Kloster zu stiften, mitten im Wald unweit der Kreisstadt H. auf einem keltischen Hügelgrab. Das Kloster zum Heiligen Gruß.

Das Zweitleben des Herrn Irgendlink oder: Ich weiß wie du deine Nächte verbringst

Herr Irgendlink war mal wieder für die Zeitung unterwegs und ist dabei auf eine Party geraten, auf der sich die bizarrsten Menschen weit und breit tummelten. Es hat ihm ausgesprochen gut gefallen und er erwägt, sich mit dem Tacker selbst zu piercen und ein paar Tattoos zuzulegen. Hier sein Artikel noch bevor er in der Zeitung steht.

Titel: Von Zweibrücken in die Dunkelheit

Untertitel: Klang-Generator-Festival lockt illustres Publikum in eine künstliche Unterwelt

Die Welt, wie wir Menschen sie wahrnehmen scheint auf den ersten Blick stets wohlgefügt, wie durch das Objektiv einer Kamera betrachtet. Sie ist gerahmt vom dunklen Unbekannten. Erst wenn sich eine Mehrheit darauf einigt, dass zum Beispiel eine Wand gelb ist, ist sie wirklich gelb. Doch der Schein trügt, denn im steten Galopp ändert sich unsere Umwelt so rasant, dass wir manchmal verblüfft vor einem vermeintlich bekannten Ort stehen und uns fragen: Was geht hier vor?

So geschehen letzten Samstag in der Zweibrücker Studentenkneipe Plan B, welche sich versteckt hinter dem Campus am Ende der Texasstraße befindet. Vier „Bands“ hatte Organisator Thomas Steuer eingeladen für ein Experiment, in den Tiefen der Westpfalz mal etwas Neues auszuprobieren und Industrial-Musik, die man sonst nur im Rhein-Main-Gebiet, Saarbrücken und Kaiserslautern zu hören kriegt, einem ebenso illustren wie „dunklen“ Publikum zu präsentieren.

Erkennt man die Kneipe normalerweise an den hell erleuchteten Fenstern, so war an diesem Abend ein guter Tastsinn gefragt, denn die pastell-gelben Wände und auch die Fenster waren mit schwarzem Stoff verhängt. Außen erinnerte nur noch das neonbeleuchtete Plan-B-Schild an das was einmal war. Auf der Bühne flimmerten Stroboskop und Schwarzlicht und die Gäste lösten sich erst kurz bevor man ihnen Aug in Aug gegenüber stand aus dem Dunkel. Halbmond rundete die dunkle Atmosphäre ab. Neben DJ AZ’s Trümmerfeld aus Kaiserslautern, Kaos-Frequenz aus Saarbrücken und dem Darmstädter Duo Novastorm war auch der kanadische Dark-Elektro Musiker Glenn Love zu Gast, um Zweibrücken in die Dunkelheit zu führen. Industrial als Musikrichtung blickt auf eine gut 30-jährige Geschichte zurück. Mit Beginn der Elektronisierung von Klängen regten die damals neuartigen Instrumente ganz natürlich die Phantasie von Künstlern an. Man suchte nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, um zu provozieren und verwendete altbekannte Instrumente vollkommen unkonventionell, wie etwa der US-Amerikaner Boyd Rice, indem er einen Ventilator an eine Gitarre schraubte zwecks Betätigung der Saiten und somit einen bizarren Lärm-, pardon, Klangeffekt erzielte. Der Berliner Künstler CoCaspar hingegen benutzt Staubsauger als tragende Elemente für seine Klangperformances und begibt sich hin und wieder in gigantische skandinavische Erdöltanks aus dem Zweiten Weltrieg, um seine Musik mit hämmernden Klängen zu bereichern.

Unsere vier Klang Generatoren mussten sich leider auf die kleine Bühne im beschaulichen Campus beschränken. Doch auch dort geriet die Provokation zur Normalität mit Titeln wie 9000 Watt oder Destruction, untermalt von elektronisch verzerrtem Gesang. Sicherlich für den Normalbürger ein wenig angsteinflößend mag das Spektakel gewirkt haben, oder etwa nicht? Das Publikum hüllte sich beinahe unsiono in Schwarz, garniert mit bizarren Accessoires, Lackkleidern und haushohen Schuhen, nicht zu vergessen Metall und Tattoos an allen nur erdenklichen Körperstellen.

Doch was Wunder, draußen vor der Tür beim gemütlichen Zigarettenplausch entpuppte sich Mancheiner als ganz normaler Bankangestellter, Gärtner, Verkäufer.

Die Welt, wie wir sie wahrnehmen ist eben grundsätzlich wohl gefügt. Man muss nur den Fokus der Kamera richtig ausrichten und scharf stellen.

 

 

 

Menschen, die auf dem Berg leben, sterben nicht am Hang!

Mal wieder etwas persönlicher werden. Auch wenn ich große Lust hätte, die Halbneun-Menschengeschichte einfach weiter zu erzählen. Jede Wette: der Gesprächsstoff würde mir so lange nicht ausgehen, wie ich morgens Halbneun hinüberradele zur Arbeit in das Kraftwerkstädtchen B. Denn so ist das Leben. Jeden Tag ist es neu und im ewigen Rund bilden sich geheimnisvolle Spitzen gelebten Menschendaseins. Den Kopf sprengt es dir ohnehin Tag für Tag … wenn du offenen Auges durch diese Welt gehst und es wagst, dich im Detail zu verlieren. Da braucht es keine Weltreisen, um das Besondere zu finden. Es liegt im Straßengraben, umgeben von Schmutz wie unser leerer Koffer voller Geld (siehe zwei Einträge vorher).

Ich bin ein Barde der Alltäglichkeit, singe die Lieder, die mir das Leben komponiert.

Auf dem Nachhauseweg vorhin, es war schon nach Neun, hegte ich eigenartige Gedanken um den RICHTIGEN ZEITPUNKT AM RICHTIGEN ORT. Wahlweise auch die falsche Zeit am falschen Ort oder die richtige Zeit am falschen Ort … anyway, dass Zeit und Raum Hand in Hand spazieren, dürfte spätestens seit Einstein bekannt sein.

Ich kurbelte die steile Straße hinauf, die ich allmorgens so leichtfertig hinuntersauße, schwitzend, schuftend und mit einer gewissen Genugtuung im Kopf, dass Menschen, die auf dem Berg leben, im Tal sterben. Die Szene war groß. Im Westen bäumten sich haushohe Gewitterwolken, durchzogen von späten Sonnenstrahlen. Der Himmel war rot, blau und lila zugleich und im Süden stemmte ein kurzer dicker Regenbogen sein Spektrum ins Firmament. „Dass unter dem Regenbogen das Glück liegt, ist dir hinreichend bekannt, Herr Irgendlink?“ dachte ich.

Unter dem Regenbogen lag das einsame Gehöft. Die Spitzen der Pappeln neben meinem Wohnzimmer waren schon zu sehen. Nur noch wenige Höhenmeter und ich wäre zu Hause.

Eine Weinbergschnecke zog ihre Spur auf der Straße. Ich wich aus, stoppte, kehrte um, nahm das Tier und setzte es zurück in die Gosse. Es war klar, dass das nächste Auto die Schnecke überfahren würde. Schnecken sind langlebige Tiere, habe ich einmal gehört. Wenn ich sie heute rette, könnte es sein, dass sie sich in zwei Jahren immer noch ihres Lebens erfreut.

Als ich weiter kurbelte, überholte mich in einer Kurve ein silberner PKW, während ein anderes Auto entgegenkam. Knappe Situation, lautes Hupen, ein Luftzug und puuh, nochma‘ davon gekommen.

Das wäre nicht passiert, wenn ich nicht angehalten hätte wegen der Schnecke.

Und genau solche Situationen sprengen mir manchmal das Hirn, weil: der Mensch nie weiß, ob er zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist oder zur falschen Zeit am falschen Ort oder sonst eine Mixtur aus diesen eigenartigen räumlich-zeitlichen Zufälligkeiten.

Aber eins ist sicher: Menschen, die auf dem Berg leben, sterben nicht am Hang!

Hohe Redundanz im Sinnieren über Gott

Vor ein paar Wochen habe ich begonnen, mit dem Multifunktionsgerät zu hantieren. Es macht Fotos, Videos und Tonaufzeichnungen und passt in jede Hosentasche. Ein Handy ist es nicht. Billig war es. Auf dem Weg zur Arbeit kam es erstmals zum Einsatz, als ich das Dörfchen K. durchquerte, die Heimat des wohl bekanntesten Saarland-Commedians, Heinz B.

Ob es an Heinz B. lag, dass ich, Schalk zwischen den Hirnwindungen, über Gott nachdachte? Plötzlich hatte ich ein excellentes Wort gefunden, das ich mir unbedingt merken wollte. Die Straße durchs Dörfchen K. ist ein bisschen abschüssig. Da bremst man nicht gerne als Radler, um einen Stift und Papier aus der Tasche zu kramen und sich etwas aufzuschreiben. Also machte ich es wie früher und verankerte das Wort – rein gedanklich – an einem Verkehrsschild. „Da kommste ja immer wieder dran vorbei und wenn du das Schild siehst, dann fällt dir sicher auch das Wort mit Gott wieder ein“, dachte ich.

Dann erinnerte ich mich des schmalen Geräts in der Hosentasche: das müsste ich nur rauskramen und meine Gedanken draufschwätzen, dann könnte ich sie später in den Computer laden und anhören. Gesagt getan.

Selbstredend kurbelte ich dahin, vorbei an der alten Feuerwache und der Sparkassenbushaltestelle, kam mir kein bisschen komisch vor dabei. Halbneunmenschen waren nicht zu sehen … bis plötzlich Kollege T., ein wenig verspätet, mich überholte, ertappte, Fragen stellte und so lange bohrte, bis ich ihm die Sache mit Gott erzählte.

Der Gedanke ist somit gleich dreifach gespeichert: beim Verkehrsschild, auf dem Diktiergerät und beim Kollegen T.

Ich komme aber im Moment nicht darauf, was ich mir merken wollte.

Erinnert mich an Gott. Es ist eine andere Geschichte.