Donnerstag, 20. April 2000
anfang (Bild, Link entfernt 2016-11-26)
Der 20. April war ein kühler Tag. Am Morgen weckte mich eine Ente, die auf der Suche nach Schnecken oder Abfall im Vorzelt wühlte. Der Himmel war blau. Ich kochte einen Kaffee, aß Baguette vom Vorabend mit viel Butter und Marmelade. Die Marmelade machte mich wehmütig. Selbstgemachte Johannisbeermarmelade von meiner Oma. Ich sah sie gebückt über Sträuchern, emsig sammelnd wie nur alte Frauen es tun: akribisch. In diesem süßen Traum vertrauter Heimatlichkeit vergaß ich den Kaffee. Die Bäume zeigten wunderbare Knospen. Gegen 10 Uhr war der gesamte Reisehaushalt auf dem Fahrrad verschnürt. Die letzten Münzen reichten gerade, um die Campingplatzrechnung zu bezahlen. Mit dem großen Fotoapparat, welcher mit einem Zoom-Objektiv ausgestattet ist und einen DIA-Film enhielt, machte ich nun erstmals Bilder.
Nun, sechs Jahre später, hier am heimischen Schreibtisch sitzend, erscheint es mir seltsam, nach vier Tagen unterwegs erst mit der sogenannten Lustfotografie begonnen zu haben. Der Kunststraßenbau ist ein merkwürdiges Geschäft. Es ist eine strenge Pflichtfotografie, die ich mir 1995 ausgedacht habe. Die Parameter lauten: Immer Schwarz-Weiß. Immer in Richtung Reiseziel. Immer mit einem Objektiv, das die Realität ähnlich abbildet wie das menschliche Auge (ca 50 mm Brennweite). Nicht zuletzt die Bildabstände, welche bei der ersten Kunststraße zum Nordkapp genau 10 km betrugen. Später hatte ich mit anderen Maßstäben gearbeitet: Zwischen Mainz und Wiesbaden ist die 11 km lange Kunststraße mit 200 Schritten Bildabstand sehr detailgetreu. Eine Strecke, die mich Jahre vor der Gibraltarreise nach Dijon geführt hatte, führt etwas weiter östlich, als die Straße nach Gibraltar in 5 km Abständen. Bei der Straße nach Gibraltar steckte ich das Raster auf 10 km, jedoch mit dem Ziel, auch in jedem Dorf, das ich durchqueren würde, ein Bild zu machen.
Eine Kunststraße als konzeptuelle Fotoinstallation sieht aus wie eine überdimensionale Carrerabahn. Auf einem Bildträger von 50 cm Breite mit zahlreichen Kurven kleben die Straßenbilder. Die Wände werden geziert von verfremdeten, großformatigen, bunten Bildern in DIA-Sandwichtechnik.
Man entschuldige diesen kleinen Ausflug in die Kunststraßenhistorie. Aber es scheint mir an dieser Stelle wichtig, ein bisschen näher auf das System einzugehen. Denn es ist wohl der Hauptgrund, warum ich in Dijon bar jeglicher Mittel nicht den Rückweg angetreten habe. Die Mission lautete: Fahre nach Gibraltar und mache alle 10 km ein Bild der bereisten Strecke.
Auf einer grünen Parkbank kaum 200 Meter vom Campingplatz setzte ich mich, kritzelte ein paar Worte ins Notitzbuch und knipste die ersten bunten Bilder der Reise. In einer möglichen Kunstausstellung, würden sie die Sehenswürigkeiten am Rande der Strecke repräsentieren. ich fotografierte ein Fahrradzeichen auf dem Weg, sowie das Stauwehr, welches den Lac de Kir vom Canal de Bourgogne abgrenzt. Packte den Apparat, enttäuscht von den zu erwartenden Ergebnissen, wieder ein. Noch nicht weich genug geklopft (ein guter Fotograf muss geschmeidig sein. Empfindlich wie Hefeteig, willenlos wie ein Schnitzel, er muss ganz Auge werden).
Jemand erklärte mir den Weg zum nächsten Kreditinstitut. Gleich drüben am anderen Ende des Stauwehrs befände sich die Banque Municipale de Talant, man könne sie nicht verfehlen. Um Halb 12. Betrat ich den Schalterraum. Nicht ganz sicher, ob es in Frankreich üblich ist, die Tür erst zu öffnen, nachdem der Kunde durch die Glasscheibe ausgiebig beäugt wurde. Die Angestellten waren ratlos wegen meiner Reiseschecks. So als hätten sie so etwas noch nie in der Hand gehabt. Sie tuschelten. Telefonierten, ließen mich eine viertel Stunde warten. So dass ich mir vorkommen musste wie ein Betrüger. Schließlich jedoch überreichten sie mir 670 Franc ohne jegliche Gebühr zu verlangen. Ein leises „Ich bin wieder da“ trällernd ging ich meines Weges.
Was gibt es Schöneres, als mit viel Geld in der Tasche und bei strahlendem Sonnenschein und erstarkendem Frühling mit dem Fahrrad auf dem gut ausgebauten Treidelpfad entlang des Canal de Bourgogne zu radeln? Ein Glücksgefühl überkam mich. Der Kanal folgt, wie jeder französische Kanal, einem Bachbett, welches in Hundertausenden von Jahren den Weg gegraben hat, scheinbar eigens, um dem Menschen das Reisen zu erleichtern. Der Bach hieß L’Ouche und krümmte sich rechts des Kanals in vielen Windungen durch die Wiesen.
Bei einer Abbaye, einem Mönchskloster, stoppte ich und erfreute mich des verzierten, in hunderten von Jahren durch Mönchshand gepflegten Gartens. Besonders imposant waren die uralten Bäume, welche mit speziellen Techniken zu Krüppeln gewachsen wurden. Das Kloster La Bussiere strahlte Frieden bis zu jenem Moment, als in der Küche ein mächtiger Streit durchs offene Fenster zu hören war. Französiches Schimpfen klingt zwar charmant. Jedoch bröckelte meine Phantasie, es handele sich bei diesem Ort um ein Kloster. Stattdessen strukturierte sich ein straff geführter Wirtschaftsbetrieb, welcher sich zum Ziel gesetzt hatte, reichen Menschen aus aller Welt einen Urlaub in alten Gemäuern zu ermöglichen.
Seltsam, wie variabel doch die Realität ist. Später auf dem Fahrrad dachte ich darüber nach, wie falsch mein Bild von dieser Welt doch ist und wie sehr es von Zufällen abhängt. Hätte der Koch im Kloster nicht den Küchenjungen beschimpft, hätte ich wohl nie wahrgenommen, dass es eine Gourmet-Küche gibt und wäre nicht auf die Idee gekommen, es könne sich bei La Bussiere um ein Luxushotel handeln. Mir wurde klar, dass meine Reise nur ein sehr unscharfes Abbild der Wirklichkeit ist. Jedes Foto, das ich machte, war unpräzise, denn es zeigte schließlich nur eine 125tel Sekunde in der Ewigkeit der Zeit. Würde ich den selben Ort an einem anderen Tag besuchen, herrschten andere Lichtverhältnisse, wären Bäume ohne Laub, Bäche ohne künstlichen Kanal, nur 1000 Jahre zurück, gab es an dieser Stelle keine Straße. In weiteren 1000 Jahren wird die Straße wieder verschwunden sein. Die Dinge sind nicht wie sie scheinen. Jeder trägt seine eigene, situationsbedingte Realität.