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Montag, 17. April 2000 – Der Mann im Kreis
Frühmorgens schon wach. Besser gesagt: die ganze Nacht immer wieder aufgewacht, mich hin und her gewälzt, im Halbschlaf wild geträumt. Das Leben draußen nicht mehr gewöhnt. Isomattenschlaf ist anders als Bettschlaf. In der Morgendämmerung kochte ich einen Kaffee, um mich aufzuwärmen. Die Nacht war eiskalt. Das Zelt innen ganz klamm von der Kondensfeuchte des eigenen Atems. Obendrein hatten mich die Güterzüge, die jede Stunde durch das enge Tal donnerten wieder und wieder geweckt.
Als ich in die Rezeption ging, um zu bezahlen, lag eine lokale Zeitung auf dem Tisch. Oben prangte ein Artikel mit dem Titel „La Vie Dans une Circle“ (oder so ähnlich). Ich übersetzte: Ein Leben im Kreis. Es ging um einen Landstreicher, der schon seit Jahren in dieser Region lebt und auf seinen Wegen einen Kreis beschreibt: wieder und wieder kehrt er an ein und die selben Orte zurück. Soweit ich den französischen Artikel zu interpretieren vermochte lebte der Mann auf einer Fläche von gut 7000 Quadratkilometern. Sein Wohnzimmer sei ein Kreis, seine Garage ein Erdversteck in einem sumpfigen Terrain irgendwo an der Saar, in dem sich unter Zweigen versteckt ein altes Mountainbike befindet. 7000 Quadratkilometer, errechnete ich, sind ein Kreis von etwa 100 km Durchmesser. Der Mann war Herr über ein riesiges Revier, in dem er eine weitläufige Behausung sein Eigen nannte. Unter jener Brücke unweit von Straßbourg mochte sich sein Wohnzimmer befinden. Neben einem Bahndamm bei Sarre-Gueminnes eines seiner Schlafzimmer. Die zahlreichen Fernsehgeräte, aus denen er seine Alltagsinformation bezog stünden in öffentlichen Gebäuden, Kneipen, kleinen Bars vielleicht auch diese hier – die Rezeption des Campingplatzes Plan Incline?
Ich bezahlte meine Rechnung und mit Gedanken an den seltsamen Berber, welcher im großen Kreis lebt, stieg ich aufs Fahrrad und folgte dem Tal Richtung Arzviller. Steil berghoch, denn ich musste die 35 Höhenmeter, die die Kanalschiffe in einer überdimensionalen Badewanne den Berg hinauf geschleppt werden per Muskelkraft erkämpfen. Abseits der Straße zeugten verwitterte Schleusen von einer Zeit vor der „Badewanne.“ Wie lange mochte ein Lastkahn wohl früher benötigt haben, bis er, von Schleuse zu Schleuse fahrend, den Hügel überquert hatte? Oben erspähte ich zu meinem Erstaunen einen Tunnel, durch welchen der Kanal führte. Die ehemals dem Lastverkehr dienende Schiffahrtsstrecke zwischen Rhein und Marne ist nun zu einer wunderbaren Touristenroute geworden.
Während ich so vor mich hin kurbelte, musste ich wieder an den Bettler, den Mann im Kreis denken. Was ihn wohl auf die Straße getrieben haben mochte? Wie er zu dem werden konnte, der er heute ist. Ich dichtete ihm eine langsame, schleichende Entwicklung an, in welcher er als ganz normaler Mensch gestartet war und über die Jahre hinweg hatte sich sein Leben geändert, vom Arbeitnehmer war er zum Arbeitslosen geworden, vom Liebenden zum Enttäuschten, vom vom Erfolgreichen zum Versager. Vom Menschen, dem zunächst alle Möglichkeiten offen gestanden hatten, und der die freie Wahl gehabt hatte zu gehen, wohin er nur wollte und zu tun und zu lassen, was ihm gerade in den Sinn kam, war er mutiert zu einer seltsam abgewrackten Kreatur, dazu verdammt im Kreis zu leben. Vielleicht hatte er seine Frau verloren? Dann Alkohol. Dann die Straße?
S. kam mir in den Sinn. Ich sah sie neben mir liegen, damals, in guten Zeiten und, während ich durch die Tristesse des Hochplateuas zwischen Rhein und Marne radelte, war mir, als spürte ich ihren Atem, hörte sie seufzen, während sie schlief, lachen, weil etwas Sinnloses aber Komisches passiert war. Sie war so nah. Das machte mich sentimental. Ich versuchte die Gedanken zu verscheuchen vom süßen Frieden, indem ich das Bild von vorgestern hervor rief: Sie auf dem Tisch mit ihm, meinem Nachfolger, seltsam geleckter Latin-Lover, dann der Sturz, bei dem sie mich vom Hocker riss, so als hätte sie mir doch noch etwas zu sagen: Halt mich, rette mich. Und der Lover lief blutend zum Klo und sie lag auf dem Boden, weinte und ich rappelte mich auf, rieb mir die Hüfte und ging.
So verging der zweite Tag der Reise mehr Innen als Außen. Von der Umgebung nahm ich nur wenig wahr. Im Reisetagebuch notierte ich: km 95, links, ganz schwarz, hohe Vogesenberge und: km 141, Ebermenhil, Hunger! sowie: km 144, zw. Ebermenhil und Laneauville Durst!
Eine Antwort auf „Straße nach Gibraltar 004“