Tag 66 | Norwegen − auf der Zielgeraden

Zweiländertag war auch heute wieder. Oder gar Dreiländertag, denn heute hat Irgendlink einen weiteren Nordkapradler, den 19jährigen Tim aus München, getroffen. Sie radeln seit heute Nachmittag zusammen. Kautokeino haben sie gegen Abend erreicht, durchquert und ein paar Kilometer danach ihre Zelte aufgebaut. Irgendwo im Nirgendwo.

Auf der Straße von Palojoensuu nach Enontekiö
Auf der Straße von Palojoensuu nach Enontekiö

Zur heutigen Tagesstrecke bitte hier → klicken.

 

 

 

Kautokeino, nicht matt #AnsKap

Dezember 1995

Gerade haben wir mit Ach und Krach die Wände in dem Kellergewölbe in der Mainzer Walpodenstraße weiß gemalt, die Überreste einer Pilzzucht auf dem Sperrmüll entsorgt, ein paar Ateliers und Proberäume und sogar ein kleines Tonstudio eingerichtet, alles eine langmonatige Art Work in Progress, bei der die Arbeit an den Räumen Hand in Hand ging und noch geht mit der Kunst, die wir darin schaffen. 

Mitradler Tim auf dem Weg nach Kautokeino radelnd. Straßenbild Eine handvoll junger Kunstschaffenderaus Rheinmain, meist aus Mainz und Wiesbaden. Das Kulturzentrum, das Mitradler QQlka da hat wachsen lassen machte Mitte der 1990er Jahre schon ein wenig Furore. Mit Ausstellungen wie mit Konzerten bis hin zu naja, so einer Art künstlerisch dekorierter Technoparties.

Der Kapschnitt war die zweite Ausstellung in dem hundertfünfzig Quadratmeter großen Raum.

Vom Eingang an den Wänden des Treppenhauses hinunter zwei Stockwerke tief hatte ich die dreihundertsechzig Streckenfotos, die ich im Sommer auf dem Weg zum Nordkap alle zehn Kilometer gemacht hatte auf einem grauen Band drapiert. Straßenfoto um Straßenfoto streng und ohne Kommentar. Im Galerieraum im zweiten Untergeschoss des Kreuzgewölbes mündete die sogenannte Kunststraße in einer etwa dreißig Meter langen, sich windenden carrerabahnähnlichen Konstruktion. Fünfzig Zentimeter breit, tischhoch auf Pfosten.

Die Besucherinnen und Besucher mussten die 3600 Kilometer ans Kap, die QQlka und ich im Sommer geradelt waren abschreiten.

Es war der erste Versuch, eine Straße als Konzeptkunstausstellung darzustellen.

Am Ende der Konstruktion mündete die Kunststraße in eine grafische Darstellung ihrer selbst, ein etwa zwei mal drei Meter großer Bauplan. Beinahe escheresk, fraktal, in sich selbst schließend.

An den Wänden gab es die ’schönen bunten‘ Szenen von unterwegs in DIA-Sandwichtechnik verfremdet. Von der Decke hingen Texte, per Nadeldrucker auf Endlospapier gedruckt mit Gedanken zum Reisen, zum Unterwegssein.

Einer von ihnen hatte den Titel Kautokeino-Matt.

Jetzt.

Ich weiß nicht, wie lange die Sonne derzeit täglich scheint über Lappland. Zwölf achtzehn Stunden? Den Sonnenauf- und Untergang kriegt man selten mit. Abends sitzt man um diese Zeit schon im Zelt und köchelt sein Essen, morgens fröstelt man im Schlafsack, bis sie endlich ein paar Strich über dem Horizont steht und die Luft wärmt. Sie scheint jedenfalls immer, wenn sie kann, die holde Gelbe.

Warm ist’s. Der Himmel wolkenlos blau. Auch mittags steht die Sonne nicht sehr hoch. Das gibt ein eigenartiges Licht, wie man es daheim nur im Spätherbst oder Winter kennt.

Seit zwanzig Kilometern bin ich schon auf den Beinen, habe die E8 gemeistert, in Palojoensuu am Abzweig nach Enontekiö vergeblich nach einem Laden geschaut und gerade bin ich am Vogelbeobachtungsturm vorbei geradelt, neben dem QQlka und ich 1995 frustriert im Regen zelteten.

Was heißt Regen? Wir fuhren in einer Wolke (wie Radlerkollegin Frau Rebis dies kürzlich in ihrem Blog so schön formulierte). Die Sicht war schlecht. Alles war nass. Gehetzt stierten wir auf die Karte. Noch vierhundert Kilometer bis zum Nordkap. Durchfroren waren wir. QQlka wollte sogar sein Fahrrad in eine der riesigen Mülltonnen neben einem Parkplatz stopfen.

Ungefähr an jenem Parkplatz treffe ich Tim aus München. Vollbepackter Reiseradler. Gerade wäscht er seine Socken, und sich. Wir quatschen ein bisschen, radeln gemeinsam weiter nach Enontekiö, kaufen ein, ziehen Geld, finden uns auf dem achtzig Kilometer Stück Straße nach Kautokeino wieder. Im Flug vergeht die Zeit. Hin und wieder zucken Erinnerungsblitze.War das nicht … hier bei dem Parkplatz hinter der norwegischen Grenze hatten wir doch auch … aber diese arktische Luft … eiskalt … jaaa … und Sonne kam raus gegen Abend, jeder Meter eine Qual. Ganz anders als heute.

Wir waren matt damals. Angespannt. Kopfschmerzen. Rückenschmerzen. Ein Ziehen in der Herzgegend. Zähne knirschend. Stress pur.

Mit Ach und Krach erreichten wir den Campingplatz in Kautokeino, eiskalte Übernachtung. Am nächsten Tag per Bus nach Alta. Kautokeino-Matt. Unterbewusst hatten wir längst entschieden, dass wir so schnell wie möglich heim mussten. Am Flugplatz Alta der nächste Flieger nach Oslo? In zwei Stunden. Fahrräder? No Problem.

Ich weiß nicht, ob ich diese frühe Geschichte mit dem Titel Kautokeino-Matt noch habe, gedruckt oder auf einer Diskette?

Von der alten Kapschnitt-Ausstellung ist kaum etwas erhalten. Vielleicht die wenigen Werke, die damals verkauft wurden?

Es ist alles nur auf Zeit, was wir tun und erstaunlicher Weise scheint die Erinnerung an Erlebtes, Erzeugtes, Dargestelltes weit mehr Bestand zu haben, als das, was man einst in ‚Echt‘ bestaunen konnte.

Und das ist auch gut so, denke ich gerade, schreibend, zwanzig Jahr später auf einem bequemen, grünen Stuhl in Lapplands kleiner Universität in Kautokeino.

Ganz und gar nicht angespannt. Ganz und gar nicht zielfixiert. Alles andere als matt.

Tag 67 | Über die Nordkap-Prokrastination und die Fremdheit von Reisen

Am folgenden Tweet habe ich heute regelrecht gekaut. Und gedacht, wie viel Wahrheit man doch mit ganz wenig Zeichen hinbekommen kann:

Fremdsein müsste man seine lieben Mitmenschen lehren. Wie verstörend es ist, nicht ein Wort zu verstehen, Gebräuche nicht zu kennen. — Irgendlink (@irgendlink) 20. August 2015

 

Geschrieben hat er diesen Tweet irgendwo in der Universitätsstadt Kautokeino, eingetaucht in diesem norwegischen Ort am Rand der Welt. Nach seinem Ausflug dorthin hat sich Irgendlink heute entschieden – statt wie vor 20 Jahren über Alta – diesmal Richtung Karasjok ans Kap zu radeln. Unterwegs hat er bei angenehmem Sonnenschein in einem warmen See gebadet und jetzt hat er an einem weiteren schönen Platz sein Zelt aufgebaut. Die hundert Gramm Mücken, die er nicht aus dem Zelt aussperren konnte, musste er … nein, das wollt ihr gar nicht wissen.

Zur heutigen Tour (ohne den Ausflug) geht’s hier → lang.

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Die ersten Tweets des Tages zeige ich euch mal in ganz normaler Darstellung. Denn Twitter ist ja auch nur ein Mix aus Buchstaben und Herz-Kopf-Bauch-Zöix:

  • Die Finnen haben meine Handyuhr vorgestellt und die Norweger haben sie nicht zurückgestellt und der Fahrradttacho hat noch immer Winterzeit.
  • Radlerkollege Tim hat ne Bayernflagge dabei für , ich hab ne schwedische Flagge aus dem Straßengraben, die aussieht wie ukrainisch.
  • Kurz vor der Abzweigung, die Radlerkollege Recumbent T. vor Wochen passierte.
  • Die Weltachs‘ im Pfälzer Wald ist der Startpunkt meiner nächsten Kunst-Radel-Reise. Ich will Euch meine Heimat, die #Pfalz zeigen.
  • 2003 ist das Hotelrestaurant, in dem QQlka und ich 1995 gastierten abgebrannt. 2008 wurde es neu gebaut. Hoch über Kautokeino.
  • Die Katarakte der Zeit. Wie sie alles zermalmen, durchmischen, neuaufsetzen. Dazwischen Erinnerung wie Fels. Auch er vergeht langsam.
  • Aus nostalgischen Gründen bin ich 3 km retour geradelt nach Kautokeino. Werde einen Urban Artwalk versuchen. mich treiben lassen.
  • Es gibt ein samisches College/University mit ca. 150 Studentinnen und Studenten in Kautokeino. Es erwacht gerade menschenmurmelnd

Tag 68 | Durch die Toskana Skandinaviens #ansKap

Ein geradezu berauschend schöner Tag durch Birkenwälder war das. Finnmark vom feinsten. Alle Lebenszeichen, die ich heute von Irgendlink bekommen habe, wecken mein Fernweh mit einer schier unerträglichen Vehemenz. Ihr kennt das? Ich freue mich einfach total, dass es unserm Kapman unterwegs so gut geht.

Sein Zelt hat er heute auch wieder ganz schnell aufbauen müssen. Ich sage nur: Mücken. Etwas ist doch immer …

Seine Tagesstrecke findet ihr, wenn ihr hier → klickt.

Auch heute wieder ein paar Tweets des Tages, kleine Momentaufnahmen – in Worte gepackt:

Diesseits und jenseits zweier Atome #AnsKap

Der Mensch ist überall. Da darf man sich nichts vormachen. Sei es außenrum noch so grün, noch so karg, noch so unwirtlich – je nach Gegend und Gusto, der Mensch hat Europa voll im Griff. Wo Straße ist, ist auch Mensch. Die Physiognomie der Orte hier oben unweit des Nordkaps ist nur ein bisschen anders. Da heißt es schon mal, wie vor ein paar Tagen auf einem Schild, das die Grenze der Stadt Kiruna zeigte, 232 Kilometer bis ins Zentrum.

Offenkundig ist hier aber gar keine Stadt. Bei näherem Betrachten findet man dann doch menschliche Spuren. Funkmasten querab auf Hügeln, Zäune, Stromleitungen, alles sehr weitläufig, fast wie dekomprimierte Luft. Hier mal ein Atom, da mal ein Atom, hier mal eine Hütte, da mal eine Hütte.

Wie verloren steht zum Beispiel mitten in einem kargen Gelände, wo man eigentlich nicht hinfahren kann, ein Wohnwagen. Keine Ahnung, wie er da hin kam? Per Hubschrauber? Oder hat man ihn im Winter, wenn alles mit Schnee bedeckt ist hierher geschleppt?

Die Gegend ist einsam. Ganz klar. Aber sie ist Menschenland. Alles gehört hier jemandem. Rentiere tragen manchmal Glocken. Ab und zu befinden sich Rentiersortieranlagen am Straßenrand, die sich übrigens gut eignen zum Zelten. Barrieren und Gatter und ein paar Lampen, die wohl mit Notstromaggregaten betrieben werden. Im Winter ist es hier ja immer dunkel. LKW-Rampen, damit man das Vieh in die Laster treiben kann. So stelle ich mir das zumindest vor. Ob es so ist, weiß ich nicht. Immer wieder zeigen Hinweisschilder in kleinen Siedlungen auf Rentierkjött-Verkaufsstellen, also Rentierfleischgeschäfte oder -metzgereien.

Es gibt hier keine Natur. Der Mensch beherrscht alles. Im Winter ist er mit Schneescootern sogar da unterwegs, wo die Straße nicht hinkommt, wo jetzt Sumpf, unwegsames Gelände, Pfützen und Tümpel für eine gewisse Finmarksromantiksorgen.

Dreißig Kilometer nördlich von Kautokeino biege ich von der Straße 93 auf die 92 ab in Richtung Karasjok. Eine etwas weitere Strecke zum Nordkap, als die Alta-Route. Das Hinterland reizt mich. Jemand sagte mir, es sei schön, schöner vielleicht als die Küste. Ich weiß es nicht. Ich müsste beides gesehen haben, um es beurteilen zu können und selbst dann könnte ich nicht sagen, das ist allgemeingültig. Das ist es, was mich an Reiseberichten so sehr zweifeln lässt. Ihre Subjektivität gepaart mit der eigentlich offenkundigen Ahnungslosigkeit,die man als Mensch grundsätzlich hat und dazu ein Spritzer momentane Stimmung.

Ich kann das Hohelied, ‚die Strecke über Karasjok zum Nordkap ist die schönste Strecke der Welt‘, laut und voller Inbrunst singen. Die Sonne scheint. Keine Wolke am Himmel. Das macht Gegenden grundsätzlich sehr schön. Die Straße ist ruhig und etwa dreißig vierzig Kilometer nach dem Abzweig von der Altaroute ist ein wunderbarer, glasklarer See. Sandstrand. Darin liegen Steine wie Perlen. Gar nicht mal so kalt ist das Wasser. Ich ziehe die Badehose an, wate hinein. Der See ist flach. Nach fünfzig Schritten steht mir das Wasser immer noch nicht bis zu den Knien. Weich ist der Sand. Auf dem Parkplatz mit Picknickbänken hinter mir ist kaum ein Mensch. Ich gleite ins Wasser, lege mich auf den Rücken, schaue eine Weile in den Himmel.

Als ich zurückkehre, steht ein Kleinwagen neben meiner Picknickbank. Jemand sitzt drin. Beobachte der/die mich? Durch die Scheibe kann ich es schlecht sehen. Verdrücke mich zum Umziehen hinter die Bank, die nur notdürftig vor dem vermeintlichen Blick schützt.

Die Person steigt aus, eine Frau, sie geht zum See, setzt sich ans Ufer, sitzt lange da, eine ewige Picknickpause lang und länger, steht auf, läuft auf und ab, fotografiert etwas, setzt sich wieder, derweil eine norwegische Limousine anfährt. Türen auf, fünfköpfige Familie raus. Kurz ein paar Takte Pixies, eines meiner Lieblingslieder, dann stellen sie die Musik ab. Sie sind Franzosen. Wir sagen Bonjour. Sie staksen im See.

Wir alle würdigen die Stille.

Später kommt die Frau, die so lange am Ufer saß herüber und wir halten ein Schwätzchen. Gerda aus Den Haag. Auf dem Fotoapparatedisplay zeigt sie mir das Bild, das sie gemacht hat. Eine Steingruppe, die sie schon vier Mal fotografiert hat. Immer dann, wenn sie hier an dem See vorbei kommt. Sie war schon oft hier oben und in Norwegen war sie erstmals 1961, jaaa, ich bin alt, sagt sie.

1961 mit dem Segelschiff nach Fredrikstad und die Menschen seien damals in Aufruhr gewesen, unruhig wie ein Wespennest, in das jemand gestochert habe. Es war am Tag des Mauerbaus, als sie mit ihren Eltern erstmals nach Norwegen kam.

Dass ich Künstler bin und das mit den Fotos und dem immer Wiederkehrenden – sie sagte, es sei ein Spleen – nur allzugut verstehe. Da guckt sie mich kumpelhaft an und sagt, ah, Künstler, dann darf ich ihnen was verraten: Seit einem Beinaheunfall habe ich eine Überwachungskamera im Auto und ich fürchte, sie war vorhin, als sie sich umgezogen haben noch an, grinst sie.

Ha! Die Geschichte gefällt mir. Wir überlegen, ob man diesen Outdoor-Porno des kleinen Mannes irgendwie kopieren könnte, so dass ich die Daten habe. Scheitern an der technischen Umsetzung. Und es ist ja auch alles so vergänglich. Wenn sie losfährt und die Kmera wieder aktiviert, werden die Daten nach fünf Minuten überschrieben.

Es ist ein Trugschluss, zu glauben, die Finmark sei ereignislos, nicht abwechslungsreich, stelle ich fest. Es hängt einfach von Zufällen ab, ob man jemandem begegnet oder nicht, ob etwas passiert oder nicht, ob das eigene Hirn aus dem wenigen Input, den es kriegt etwas macht oder nicht.

Am Tag zuvor, auf Kautokeino zuradelnd, erzählte mir Radlerkollege Tim, er wisse nicht, was er in einem Blog schreiben könne, es passiert ja nichts, außer dass man hundert, hundertfünfzig Kilometer weit radelt, das Zelt aufbaut, kocht und schläft.

Es ist mit dem Erleben und den Ereignissen wohl so wie mit den Häusern – sie liegen weit auseinander. Oder wie mit dekomprimierter Luft, die Atome sind zwar noch da, aber nicht so häufig.

Kaum radele ich vom traumhaften See weiter, kommt schon die nächste Begegnung. Ein Quadfahrer braust auf mich zu, verlangsamt, also verlangsame ich auch und stoppt, also stoppe ich auch. Sogar den Motor macht er aus und so stehen wir da ratlos auf der Landstraße, was will er von mir, was will ich von ihm? Beide dachten wir wohl, der andere bauche Hilfe oder wolle etwas sagen, aber nein, eigentlich wären wir ganz normal weiter gefahren, wenn nicht diese seltsame Rückkopplung stattgefunden hätte. Idd is werry hodd, sagt der Mann immer wieder und es klingt fast ein bisschen südländisch, als begegneten wir uns gerade auf Sizilien oder in der Extremadura. Dabei war es doch vor Kurzem noch so kalt, sagt er. Im Juli hätten sie noch Schnee gehabt, da drüben, fünf Kilometer weiter in dem Dorf, in dem er wohnt.

Nein, die Gegend ist nicht leer. Die Gegend wird von Menschen beherrscht. Wir verabschieden uns und er lässt den Motor an, fährt rechts runter von der Straße in einen kaum wahrnehmbaren Sandweg und verschwindet im Nichts irgendwo in nördlicher Richtung diesseits und jenseits zweier Atome.