Grenzen und ein Besuch im iBIERc – #UmsLand/Bayern

Jo do schau her, der oide Zausl, sog amoi, seid wiefuin Jahrn rennd der jetz scho da nauf zum Prechtl, trinkt sein Kaffee und starrt ausm Fenster?21. Mai 2029. Heute vor zehn Jahren fing es an mit der Wendelstein-Singualarität. Ein außergewöhnliches Wetterphänomen. Die Einheimischen nennen es den ‚Ewigen Regen‘. Die Jüngeren unter den Einwohnern kennen gar nichts anders als Regen. Sie haben die Sonne nie gesehen. Was zunächst wie ein außergewöhnliches Wetterphänomen wirkte, das vorübergeht, etablierte sich nach Wochen, Monaten und Jahren und nun glaubt eigentlich niemand mehr, dass der Regen je wieder aufhört.

Ein Tief namens Axel hatte sich über den Alpen festgesetzt. Der penetrante Axl, damischer Hund.

Die Situation war kritisch. Der Fremdenverkehr, der für die Region so wichtig war, kam völlig zum Erliegen. Die Touristen blieben aus. Bis, naja, bis der frisch gewählte Bürgermeister, der Jodler-Sepp von den Grünen, auf eine grandiose Idee kam. Du schau amal, mir ham da doch den Dauergast aufm Zeltplatz, den Blogger, den Dingsda, weißt, der mitm Radl rund um Bayern radelt und seit Monaten net mehr vom Fleck kommt wegen dem Wetter. Der is doch bekannt wie a bunti Kuh im Internet. Was meints, wenn ma dem a Zaunerl um sei Zelt bauen würd und dann Eintritt verlangen, dann kimmat die Touristn doch weltweit, oda?

So kam es, dass die kleine Gemeinde Bad Feilnbach unterm Wendelsteinmassiv einer der wenigen Touristenorte in Bayern geblieben ist, während der Rest des Landes im ewigen Regen unterging.

Unermüdlich bloggt der Künstler über seine Radtour um Bayern, die in dem kleinen Dorf wegen der widrigen Umstände ins Stocken kam. Jeden Tag schleppt sich der mittlerweile in die Jahre gekommene Mann die zwei Kilometer zum Ortszentrum lässt sich an seinem Stammplatz am Fenster des Cafés nieder im nach ihm umbenannten ehemaligen Prechtl-Kaufmannsladen, dem International Bavarian Irgendlink Eternity Rain Center (iBIERc). Dort nimmt er eine Schale Kaffee und ein großes Stück Himbeerkuchen zu sich, ganz wie am ersten Tag, an dem er in das Dorf kam.

Mittlerweile folgt ein Millionenpublikum dem als ältester Blogger der Welt im Buch der Rekorde verzeichneten Mann. Eine Webcam ist auf sein Zelt gerichtet. Die Besucherinnen und Besucher werfen manchmal Zettelchen mit Kommentaren über den Zaun.

All das begann auf den Tag genau vor zehn Jahren. Es ist an der Zeit zurückzublicken zu den Anfängen und hier lassen wir den Langzeitblogger doch persönlich zu Wort kommen mit einem seiner ersten Blogbeiträge, die er auf dem Campingplatz in Bad Feilnbach schrieb.
21. Mai 2019

Grenzen! Um sie geht es in diesem Buch. Rein geografische Grenzen, Verwaltungsgrenzen, zeitliche Grenzen (Grenzen des guten Geschmacks – man verzeihe mir diesen gedanklichen Ausrutscher), die Welt ist voller Barrieren und Schranken, Gesetze und Regeln. Nicht alle sind sinnvoll.

Gleich hinterm Zelt hinter dem Hochwasserdamm schießt der Jenbach vorbei. Ziemlich begradigtes Etwas. Als ich vorgestern Abend über den Radweg auf den Campingplatz zuradelte, empfand ich das Gewässer als natürliche Grenze. Musste erst Bach aufwärts radeln für einen knappen Kilometer, einen Steg überqueren und auf der anderen Seite, sinnigerweise heißt sie so, die Bachstraße zurück bis zur Rezeption des Campings.

Nun sitze ich hier im Schneidersitzbüro im Zelt. Kaffee vom Trangia. Seit zwei Tagen regnet es ununterbrochen. Solch eine Wettersituation habe ich glaube ich noch nie erlebt. Vielleicht während der fünf Monate um die Nordsee radelnd? In Nordengland und Schottland? Ich erinnere mich nicht. Die Erinnnerung schönt auch die Ereignisse.

Wer weiß, wie ich in zehn Jahren über diese Wettersituation, das gemeine Tief Axel, denken werde? Jo, da hab ich auf dem Campingplatz den Regen abgewartet und es mir gut gehen lassen im Zelt und im Aufenthaltsraum des Campingplatzes, der wie ein gemütlich eingerichteter Bunker wirkt, weil die Wände des Kellergeschosses aus unbehandeltem Beton sind und die Fenster wie Schlitze nach außen starren.

Gestern bin ich im strömenden Regen in die Stadt spaziert, um etwas zu tun. Denn nur im Zelt hocken oder im Bunker (hey, das passt auch zu Burroughs, die Sache mit dem Bunker, jeder große Schriftsteller sollte einen Bunker haben), also zu Fuß die knapp zwei Kilometer ins Ortszentrum entlang des Jenbachs.

Dort gibt es nicht viel. Rathaus, Einkaufzentrum, Café. Ein paar Erlebnispfade, die im Prospekt ‚Streifzüge durch Bad Feilnach‘ verzeichnet sind: Auf den Spuren von Jeni, der Wassernixe – für Kinder ab drei, Die Wasserdetektive sind unterwegs – für Kinder ab sechs, Auf Gottes Spuren, Wasserreich und Wasserarm – schon sehe ich mich als alten, graubärtigen Zausel wie ein Geist durchs Dorf irren im ewigen Regen, hängengeblieben, in seine Grenzen verwiesen, Dorfblogger for ever … halt halt halt.

Abends bereite ich mir im Aufenthaltsraum, indem es auch Kühlschrank und Herdplatten gibt ein köstliches Mal. Salat und Leberknödel. Leider vergessen, Pfeffersoße zu kaufen. Und Sauerkraut. Und Kartoffelbrei. Also Leberknödel pur bis zum Abwinken.

In der benachbarten Waschküche müht sich ein junges Paar, die Waschanleitung mit dem Google-Übersetzer zu übersetzen. Ich helfe ihnen, diese Sprachgrenze zu überwinden, übersetze ins Englische.

Die beiden kommen aus Israel, sind in Slowenien gestartet mit einem geliehenen Wohnmobil, über Österreich hierher und wollen weiter nach Köln und in die Niederlande mit einem finalen Abstecher nach Venedig, nachdem sie das Wohnmobil in Slowenien zurückgegeben haben.

In einem Europa mit Grenzen wäre das bestimmt eine Tortur, aus solch einem fremden Land kommend. Zig verschiedene Einreisebestimmungen.

Die beiden erzählen mir von Israel und ich könne doch mal rund um Isreal radeln. 36 Grad hätten sie da heuer. Sie wohnen in der Stadt Cäsaria, eine uralte Stadt, zudem eine der kriegsfernsten Städte Israels. Weder die Raketen aus Syrien, noch aus dem Gazastreifen reichen da hin, wenn ich es recht verstehe. Noch so eine Grenze. Grenzen allüberall. Die Grenze der tödlichen Gefahr.

Die beiden erzählen mir, dass sie es schwer haben, aus Israel in die Nachbarländer zu reisen. Ich als Europäer dürfe wohl einfach so die Grenzen überqueren, aber sie als Israelis können allenfalls nach Jordanien und auf den Sinai.

Wie widernatürlich doch das ist, was der Mensch Grenze nennt, wie willkürlich, kleingeistig, rückschrittlich und dem, was die Menschheit sein könnte, eine große, gute Weltgemeinschaft, zuwider laufend, denke ich auf dem Weg zum Zelt.

22 Uhr. Nachruhe. Grenze rein zeitlich. Über mir der nicht enden wollende Regen. Wenigstens der kennt keine Grenzen. Das Geprassel lullt mich in den Schlaf.

Was, wenn der Regen für immer anhält?

Ein Nachdenken so lang und holprig wie das Geschirrspülrumpeln einer Campinggästin in der Campingplatz-Spülküche – #UmsLand Bayern

Oft sind es ja die stillen Menschen, die wahre Perlen sind. Die man leicht übersieht, die im Streugetöse der lauten untergehen. Zack, ist man an ihnen vorbei gerauscht, ohne ihre Geschichte zu erfahren. Nicht so Jeremy, der in einem winzigen Einmannzelt auch auf der Zeltwiese des Walchensee-Campings übernachtet hatte. Zunächst hatte man geglaubt, das Zelt sei verwaist, die Person, die es aufgebaut hatte, ist in den Bergen unterwegs, übernachtet womöglich in einer Hütte. Aber nein, morgens steht Jeremy plötzlich neben mir. Wir kommen ins Gespräch. Übers Radfahren, das Unterwegssein. Er kommt aus Hamburg und ist für ein Familienfest in der Gegend. Als frisch gebackener Segelmacher präsentiert er mir sein Gesellenstück auf dem Handy: Ein Fahrradzelt, das das Fahrrad als festen Bestandteil der Zeltkonstruktion einbaut. Klasse Idee. Insbesondere Menschen, die mit teuren Fahrrädern unterwegs sind könnten daran Gefallen haben. Nie mehr Angst, dass jemand beim Nachtlager das Radel einfach mitnimmt, denn man müsste dann das gesamte Zeltlager inklusiv seines Besitzers klauen.

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Die Schranke öffnet sich nur, wenn die Nummer erkannt wird. Aber sie haben ja kein Autokennzeichen am Fahrrad, sie müssten das Radel an der Schranke vorbei schieben. Ohne unser Nummernerkennungssystem geht die Schranke nicht auf.

In der Tat befinden sich diesseits und jenseits der beiden Ein- und Ausfahrten des Campingplatzes Kaiser in Bad Feilnbach zwei Überwachungskameras als optisches Frontend eines Überwachungssystems, das die Guten von den Bösen unterscheidet.

Mir kommt jener schwedische Campingplatz in den Sinn, dessen Ausfahrtsschranke sich nur hob, wenn man per Hauch einen Alkoholtest absolviert hatte und keinerlei Alkohol festgestellt wurde. Faszinierend, was sich Menschen alles ausdenken, um Grenzen und Barrieren zu errichten. Erstaunlich, welche Mechanismen es alles gibt, um vollautomatisch zu entscheiden, du da, du bist legal und du da, du kommst hier nicht rein. Oder raus.

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Das Campingplatztrauma vom Walchensee sitzt noch in den Knochen, so dass ich gestern argwöhnisch den Campingplatz in Bad Feilnbach umrunde, um erst einmal ein Gefühl zu kriegen, ob er eher zur Kategorie ’unzeltbar, für Wohnmobile gestrickt’ gehört, oder ob man ein kleines, taugliches Reservat eingerichtet hat, in dem die – man verzeihe den Vergleich – ’Indigenen’ unter den Campern, die Urcamper, die noch mit Zelt unterwegs sind, auch einen Frieden finden.

Sprich, ausreichend große Zeltwiese, möglichst unparzelliert, nicht umringt von Wagenburgen wie etwa das winzige Areal am Heiterwangersee.

Andererseits habe ich keine rechte Wahl. Über den Bergen hängen mächtige Gewitterwolken. Irgendwo rumpelt es schon. Es geht gegen Spätnachmittag. Gerade habe ich die extremere Gegend der Berge um Tegernsee, Schliersee, Bayrisch Zell verlassen und befinde mich auf einer herrlichen ’Rutsche’ abwärts mit weitem Blick ins Voralpenland. Auch aus dem Flachland nähern sich fette Wolken. Das ist typisch bayerisch, dieses Phänomen, sich in einer Blase warmen Gutwetters zu wähnen und gleichzeitig sind die Unwetter nur ein Haarbreit entfernt, denke ich. Kindheitserinnerungen werden wach. Wie plötzlich das Wetter in der Voralpengegend umschlagen kann. Wie lange sich das Schlechtwetter festsetzen kann. Wochenlang. Erinnerungen an Ferienwohnungsferien, in denen man fast nie vor die Tür ging und in der Bude herumgammelte und Lustige Taschenbücher im Akkord las.

Manchmal, ja, manchmal möcht ich die Zeit dahin zurückdrehen.

Wie anders würde das Leben verlaufen? Ein winziger Impuls kann alles ändern. Winzige Impulse stellen immer die Weichen. Auch heute. Auch jetzt. Soll ich Camping, soll ich weiter bis zum Inn? Noch kurz vor der Rezeption sind beide Möglichkeiten gleich wahr. Bleibe ich eine oder zwei Nächte – jemand hatte unterwegs wetterprognostiziert, dienstags sei der regnerischere Tag und man rechne mit 30 Litern Regen … erst einmal abwarten. Zack, Impuls, weiter zum Inn gecancelt. Die Vernunft siegt manchmal über den dreisten Hasardeur in mir, der zu viel riskiert. Bei Dauerregen ist es trotz bester Regenkleidung einfach besser, irgendwo untergebracht zu sein, wo es eine Infrastruktur gibt. Der Camping hat wirklich alles, was man als radelnder Camper braucht. Sogar einen Aufenthaltsraum. Küche. Spielhölle. Schwimmbad.

An meinem Holzplatz, am Waldrand unterhalb von Marienstein, wo ich gestern gezeltet hatte, hätte ich nur das Zelt. Schlammschlacht. Vielleicht ein Lagerfeuer, kein anderweitiges Dach überm Kopf. Vermutlich würde man dort ruckzuck einen Zeltkoller kriegen, aufbrechen in die Nässe und dann am Abend ein klatschnasses Zelt wieder aufbauen, sich warmbibbern.

Nicht dass ich das nicht auch schon erlebt hätte. In England und Schottland etwa und auch in Lappland.

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Nun ist die Entscheidung für den Ruhetag gefallen. Es hat tatsächlich heute noch nicht nicht geregnet. Der Rezeptionist sagte, gegen sechs Uhr habe es beinahe danach ausgesehen, als risse der Himmel auf, aber eben auch nur beinahe. Nun hat es sich endgültig eingeregnet. Ich lümmelte lange im Zelt, erledigte ein paar technische Probleme mit dem Mobilfunkanbieter, checkte Mails, beantwortete Kommentare, twitterte ein bisschen. Wie der Regen, so plätscherte auch die Zeit und schon war Nachmittag. Nun habe ich mich im Aufenthaltsraum des Campings zum Schreiben niedergelassen. Unbeheiztes Ding. Vierzehn Grad vielleicht. Die Rezeption gab zu verstehen, dass der Raum nicht geheizt wird, weil die Gäste oft Tür und Fenster offen ließen und es sei ja Mai. Punktabzug.

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Die Etappe Marienstein via Tegernsee und Schliersee hat es übrigens in sich. Bisher die anstrengendste Tour. Morgens mäandrierte ich die steile Straße zum Golfplatz Margarethenhof hinauf, kaum schneller als eine ältere Frau, die sich auf ihre Wanderstöcke stützte. Hinab zum Tegernsee und ab dort kam es richtig hart auf dem Radweg Tegernsee-Schliersee durch den Wald. Etwa ab der Rodelbahn Oedberg führt das Radwegidyll happig über schmale Pfade und Waldwege, manchmal so steil, dass man nicht fahren kann.

Das Stück entlang des Schliersees war sonntagsbedingt auch eine Herausforderung. Bei noch bestem Sonnenschein waren hunderte Radler, Spaziergänger, Hundegassies unterwegs und ich musste regelrecht Slalom fahren.

Spießrutenlauf unterm Wendelstein. Das ist DER Berg der Gegend. Ein gut 1800 Meter hoher Koloss als Vorhut fürs Hochgebirge.

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Entscheidungen. Nicht leicht, aber immerhin alles ist möglich. Es sieht nicht nach Wetterbesserung aus und ich bin ziemlich nahe an Daheim. Was ich sagen will: Wenn ich irgendwo in Lappland wäre oder in Schottland oder sonstwo nicht gerade einen Hüpfer vom heimischen Sofa entfernt, könnte das Wetter so lange schlecht sein wie es will. Ich würde garantiert nicht abbrechen. Aber hier und jetzt ist die Versuchung doch groß. In Bad Aibling ist der nächste Bahnhof. Halbe Stunde entfernt und mit drei- bis fünfmal Umsteigen wäre ich daheim in der Pfalz.

Ich muss nachdenken. Ein langes, langsames Nachdenken. Ein Nachdenken so lang und holprig wie das Geschirrspülrumpeln einer Campinggästin in der Campingplatz-Spülküche. Und vielleicht noch länger nachdenken, ein paar Kilometer zu Fuß durch den Regen bis ins Dorf, wo ich ein Stück Käse kaufen werde, eine Semmel und noch ein paar Köstlichkeiten, vielleicht.

Das Titelbild zeigt einen Blick auf die spiegelnde Oberfläche des Walchensees vorgestern. Ich wollte Euch das surreale, grünliche Wolkenidyll am grauen Ufer schon lange gezeigt haben.

Im äußeren Umlauf des Bayernlabyrinths | #UmsLand Bayern

„Die Willkür des Reviermarkierens der Stärkeren auf Kosten der Schwächeren und Ahnungslosen.“ Und so weiter. Das war ein recht brisanter Artikel, den ich da heute morgen begonnen habe. Und wie es mit brisanten Artikeln so ist, wird es irgendwann so kompliziert, dass man aufhören muss. Und immerhin, die Straße ruft ja und der Wetterbericht sagt Regen voraus ab Mittag und da wäre es doch doof, wertvolle Trockenstunden mit Schreiben zu ‚verschwenden‘.

Irgendwie habe ich ohnehin das Gefühl, mich vom eigentlichen Thema meiner Reise, dem Buch, das von Bayern handelt, mehr und mehr zu entfernen.

Wenn dies ein Labyrinth wäre, so hätte ich vielleicht einmal fast die Mitte erreicht, nur, um mich in vielen Windungen, ganz ‚chartreesk‘ wieder von der Mitte zu entfernen. Momentan befinde ich mich im äußeren Umlauf meines Bayernlabyrinths.

Die gestrige Strecke, immerhin knapp sechzig Kilometer, war, der durchzechten Nacht geschuldet, nicht so leicht, wie sie hätte sein können. Mittags schlief ich auf einer Parkbank ein, kurz nachdem ich die Isar erreicht hatte.

Ein Ziel, auf das ich mich sehr gefreut hatte, waren die Isar-Pyramiden, Steinschichtungen am Isarstrand in der Nähe von Lengries und Bad Tölz. Als ich den Punkt erreichte, den ich in der Karte verzeichnet hatte, bot sich mir aber ein enttäuschendes Bild. Statt wie erwartet zig kleine und größere Steintürmchen zu finden, gab es gerade einmal zwei halb zerfallene Etwasse, garniert mit Silvrettabergen im Hintergrund und einem reißenden Fluss. Entweder, ich hatte den Punkt falsch markiert – eine Passantin sagte mir, die Pyramiden befänden sich jenseits von Lengries, flussaufwärts – oder das Kleinod ist über die Jahre zerfallen. Fast wie die echten Pyramiden. Die Hochkulturen kommen. Die Hochkulturen gehen. Auch wir sind eine – globale – Hochkultur. Wir müssen bald gehen, vermute ich.

Nerviges Tal. Straßenlärm. Gasgriffvergleiche der Motorradfahrer, die sich akustisch einbrennen.

Bei einer Feuerwehr, deren Trupp gerade von einem Einsatz zurück kommt, frage ich, haben Sie Wasser? Das macht deren Tag. – Wir? Wasser? Haha, der war gut. Ich kann unterm Schlauchturm an einem Wasserhahn die Flaschen füllen.

Weiter nach Bad Tölz. Spätsamstägliches Einkaufen. Futter für den Sonntag. Brot vergessen, dafür aber Nüsse, Bananen und Milch.

So verlasse ich gegen 18 Uhr das quirlige Städtchen mit der breiten, steil ansteigenden Fußgängerzone. Die Wirte der Straßencafés kurbeln die riesigen Schirme über der Bestuhlung mit Akkuschraubern zusammen.

Raus aufs Land durch ein Wiesenidyll auf unbefestigten Feldwegen, vorbei an Scheuern und Hochsitzen und alten Bäumen, unter denen Parkbänke stehen.

Unterhalb von Marienstein baue ich das Zelt auf einem Holzlagerplatz am Waldrand auf. Praktisch sind die Holzstapel für die Ablage von Dingen. Nebenan murmelt ein Bach. Ein guter Ort – im Vergleich zu Campingplätzen, auf denen man eigentlich als normaler Zeltender heutzutage nicht mehr zelten kann. Alles ist so eng geworden. Parzelliert. Grenzen gezogen bis zum Gehtnichtmehr und wo die Grenzen sind stehen diejenigen, die den gesunden Menschenverstand abgeschaltet haben schon in den Startlöchern, um diese künstlichen Trennlinien zu wahren.

Genau davon handelt der Artikel, den ich begonnen habe.

Wahrscheinlich kommt er als Supplement in mein Bayernbuch. Denn eins sei gesagt, auch wenn ich mich labyrinthisch vom Kern entferne und Auflüge in die eigene Phantasie mache und Euch dabei mitnehme, gemeinsam werden wir auch immer wieder zum Kern der Geschichte zurückkehren, ihn touchieren, und wieder weg, und wieder näher und irgendwann erreichen wir dann unser Ziel.

Vom Heiterwangersee zum Walchensee, nach Australien und Kolumbien | #UmsLand Bayern

Gitarre hinter Wohnmobil. Geschirr klappert. Ein dickes Brömm brömmt mit gespreizt sitzendem Fahrer die Uferstraße entlang. Forsttraktor schiebt sich durchs Bild. Das Zelt steht offen. Radel vor bleckendem Kiesstrand. Jemand wälzt ein Problem am Handy und gibt Befehle. Es geht um Geld, scheinbar. Um nicht mitgehört zu werden (oder die Familie im Wohnwagen zu stören), steht der Problemlöser draußen vor der Tür neben der Zeltwiese. Das ist das Vogelzwitscher-Gewecktwerden der streng getakteten deutschen Arbeitswelt. Hart erkämpft war diese Etappe vom Heiterwangersee zum Walchensee. Als ich morgens die Rezeptionistin am Campingplatz frage ’Wie kommt man denn am besten zum Plansee, südlich oder nördlich um den Heiterwangersee?’, sagt sie streng: ’Gar nicht!’ Es gebe keinen Weg. Und wenn doch, dann seien das verwurzelte Wanderpfade. Sie malt ein schreckliches Bild des Aberglaubens, wie es dem Mittelalter gut anstünde, als man die Menschen mit Geschichten abschreckte. Ihr strikter Ton macht mich vermuten, dass sie entweder gestresst ist, oder sie will nicht – wie einige in der Gegend – dass am See geradelt wird oder sie hat schlicht keine Ahnung …

Wie auch immer, ich entscheide mich für den südlichen Weg, der auf der Open Cycle Map als weiße halbgestrichelte Doppellinie eingezeichnet ist. Von den spanischen Vias Verdes bin ich so einiges gewöhnt und weiß, wie man ein Rad zur Not auch ein paar Kilometer schiebt.

Das Schieben bleibt mir erspart. Der Weg wäre sogar mit einem tiefer gelegten Opel Manta zu befahren. Bloß kurz vorm und am Plansee schmälert er sich und führt durch eine Geröllhalde und über eine schmale Fußgängerbrücke.

Zu dieser Zeit weiß ich noch nicht, was mir später noch bevorsteht.

Doch zunächst läuft alles nach Plan am Plansee. Rasant über Waldwege abwärts nach Griesen ins Loisachtal. Dort Loisachtalradweg bis Garmisch, sehr schön. Die Entscheidung, nicht in Garmisch rechts abzubiegen und über Radwege auf Straßen zum Walchensee zu radeln, sondern weiter abwärts bis Eschenlohe, rächt sich schon gleich nördlich von Garmisch.

Herr Irgendlink, präge Dir das doch einmal ein: Nie an Höhe verlieren! Und: der gerade Weg ist auch immer der steinige.

Egal. Zu spät. Durch eine etliche hundert Meter lange ‚Flaniermeile‘ vorbei an diversen Entsorgungsunternehmen führt der Radweg durch Staub und Schmutz, garniert mit Lastern, die das alles bringen oder holen.

Bei einem Unternehmen, das besonders abgeschottet wirkt mit Verbot, Gefahr, Video, unendlich verrottetem Bauschuttwall steht ein Laster, der wie ganz klammheimlich beladen wird. Die Phantasie geht mit mir durch und ich schustere einen kleinen Umweltkrimi, bis ich eine herzallerliebliche Wiesengegend erreiche, in der wie Tupfer kleine Feldscheunen verteilt sind. Als habe der Lieblichkeitsgott wahllos gewürfelt.

Lieblich gehts weiter Loisach abwärts bis Eschenlohe, wo ich einem Radweg rechts ab zum Walchensee folge.

Der sich als Mounbtainbikeroute entpuppt. Da nauf führts durch die Gachentodklamm, erzählt mir ein Wanderer. Kannst mit den Reifen nicht machen. Unbelehrbar, die spanische Vias-Verdes-Heldenreise im Hinterkopf, versuche ich es trotzdem. Schieben, schieben, schieben. Geröllweg hier, entwurzelter Baum da, toller, halb ausgetrockneter See auf halber Strecke. Kein Netz. Schutzhütte, wo bist du? Immerhin ab und zu eine Parkbank mit Dächlein. Gewitterwolken. Mehr ’kein Netz’.

Der Weg zieht sich zehn Kilometer weit. Finales Betthupferl: eine Bachdurchquerung, die Monsieur wie ein Hasardeur mit viel Anlauf nimmt, auf halber Strecke im Treibsand stecken bleibt, mit den höchst wasserdichten Schuhen zum Glück halt findet, aber was nützen wasserdichte Schuhe, wenn das Wasser bis über den Rand reicht.

Irgendwann dann doch Walchensee-Idyll. Total erschöpft checke ich auf dem Campingplatz ein, der ziemlich voll ist.

Als ich gerade aufgebaut habe, bauen direkt daneben auf der kleinen Zeltwiese vier Jungs ihre Zelte auf. Das heißt, zuerst schleppen sie den Bierkasten herbei, um den Claim abzustecken. Mir schwant Böses.

Doch zunächst ist es ruhig und ich dämmere gegen 22 Uhr in eine Art Halbschlaf, bis mich eine Stimme direkt vorm Zelt weckt. Jemand telefoniert und das Gespräch hört sich nicht gut an. Der Mann redet mit seinem Opa, beschwichtigt ihn, versucht den – so klingt es – völlig aufgelösten Mann zu beruhigen, Sprachfetzen, besorgte Stimme, ist doch nur Geld usw.

Einerseits bin ich neugierig, will andererseits weiterschlafen, da schreckt mich ein bobmarley-gesungenes Ayayay, ayayay, ayayay ya ya ya ya yay hoch. Oke. Das wird so nix. Schäle mich aus dem Schlafsack, geselle mich zu den vier Zeltnachbarn, die unter Vollmond schnatternd Bierflaschen halten Fast wie die drei Hexen aus Macbeth vielleicht.

Bier und Zigaretten. Wir freunden uns ein bisschen an. Die vier sind auf ihrem jährlichen Männerwochenende von überall in der Republik hier zusammen gekommen, haben die Schulzeit miteinander durchlebt und nun steckt einjeder in seinem Job.

Ich erfahre, dass der Opa, von dem, der vor meinem Zelt telefonierte, dem Enkeltrick aufgesessen ist. 15.000 Euro. Bar. Zack. Weg.

Opa, Enkel und andere Verwandte, die gerade telefonisch informiert wurden sind völlig von der Rolle. In der Tat tut auch mir das weh. So mies, die Welt, so weiß mein Herz …

Der Abend nimmt bibbernd, schwatzend, Bier trinkend, rauchend am Walchensee seinen Lauf. Die vier laden mich ein auf Ausflüge nach Australien, erzählen von ihren Traumberufen: einer möchte Hausmeister werden auf einem Berggrat in den Alpen. Kurzer Abstecher nach Kolumbien, wo das Bier nur 5 Cent kostet, um wieder nach Australien zurückzukehren, wo das Päckchen Tabak umgerechnet 40 Euro kostet.

Tja, Liebling, so war mein Tag, und da gäbe es noch viel mehr.

Um kurz nach eins sind wir alle müde, durchgefroren, halb bis ganz voll und verkriechen uns in die Zelte.

Abstand zum Mittelpunkt Bayerns 151 Kilometer.

Bete sieben Radler. Berechne x. #UmsLand Bayern

Kartenträume waren am Anfang. Kartenträume und eine Frage in die Tweetosphäre: Was liegt eigentlich alles Schönes am Wegrand auf meiner Runde um Bayern? Die Antworten kamen prompt. Museen, Klöster, Kirchen, Weltkulturerbes, aber auch Übernachtungsgelegenheiten und Zeltplätze oder ‚Da-hab-ich-als-Kind-Gewohnts‘ und anderes Persönliches. In einer Google Map verzeichnete ich die Tipps in der näheren Umgebung des Streckenplans, den ich als Grundgerüst für die Reise auf Basis von Radwegen des Bayernnetzes für Radler skizziert hatte. Das Faszinierende an Kartenträumen ist: Es regnet nie auf Radtouren, die man auf Karten träumt. Es geht nie steil bergauf. Es gibt keinen Frost, weder Hektik, noch Verkehrslärm und Holperstrecken. Alle Reiseziele liegen fein aufgereiht wie an einer Perlenschnur direkt am Weg, haben immer geöffnet. Es gibt Hotelzimmer zum günstigen Preis von x Euro, wobei x der eigenen Phantasie von einer schönen Hotelzimmerchenwelt entspricht. Alle Menschen sind freundlich. Kein Dieselrußgestank, kein knappes Überholen. Ein Kartenträumeschlaraffenland, in dem man mühelos von Ort zu Ort auf der Perlenschnur gelangt.

Ich schwitze jenseits des Rottalsees, ich schwitze hinauf nach Oy, fast tausend Meter hoch. Die Höhenlinien der Karte sind physisch erfahrbar, ich friere runter nach Nesselwang und schwitze raus aus Nesselwang, wo die Gegend geradezu vermärchenschlosst und man durch Nadelwälder auf schmalen Wegchen fährt, immer weiter in Richtung des Märchenschlosslands hinter Füssen. Ludwig. Ludwig und die sieben Radler, die sich vor mir einen Berg hinauf quälen. Welch feine Silhouette von kurbelnden Männlein in bunten Klamotten, hunderte Meter auseinander gezogen, das Feld. Ich der letzte. Der das alles beobachtet. Vorbei an der Scheune, am Baum, am einsamen Bänklein, umschmeichelt von Wiesen und unheimlich ludwig-märchenschlössigem Wald ziehen sie dahin. Die Hochspannungsleitung muss man sich natürlich wegdenken.

Aber, Moment mal, das ist gar keine Perlenschnur, das ist ein Rosenkranz aus Radlern. Bete sieben Radler, mein Sohn Irgendlink, und alle Deine Sünden sind Dir vergeben, scherze ich, keuche ich den anderen hinterher.

Im Grunde sind es zwei Gruppen von Radlern, die da vor mir den Rosenkranz geben: die vier Männer, die ich schon am ersten Reisetag getroffen hatte und drei weitere Männer, denen ich kurz zuvor in Nesselwang begegnet war. Sie fahren Ebikes und rauchen wie die Schlote. Schnaps war auch im Spiel.

Füssen. Ich kaufe ein. Das Ohr summt. Geht mir gar nicht gut. Der Tinnitus hat etwas Endzeitliches, wie er sich mit dem Straßenlärm mischt unter den Dächern des Sankt Mang Kolstera, aber dann raus aus der Stadt auf dem Lechradweg Richtung Fernpass. Der erste Radweg, der seinen Namen auch verdient. Zwar war die Route des Bodensee-Königssee-Radwegs durchs Allgäu durchaus radeltauglich, führte aber fast ausschließlich über – zwar kaum befahrene – Autostraßen oder – begleitend – an Hauptstraßen. Hier, am Lech, gibts Gravel-Piste, unbefestigt, aber wundervoll schmale Wege durchs Flussgebüsch vorbei an Geröllablagerungen. Der Lechfall ist bemerkenswert. Ein künstlicher Wasserfall oberhalb Füssens, dereinst geschaffen, weil ein verheerndes Hochwasser sämtliche Mühlen Füssens vernichtet hatte. Als Hochwasserschutzmaßnahme wurde der Fluss getunnelt und später als Kraftwerk ausgebaut.

Schnell ist man in Österreich. Hinter Reutte ist das Objekt meiner Begierde, der Kartentraum, den ich durch einen Blick über den Tellerrand Bayerns hinaus wahr werden lasse. Die Highline 179 ist eine spektakuläre Hängebrücke, die zwei Burgen miteinander verbindet und – vermute ich einmal – 179 Meter über dem Tal hängt. Der Umweg und das Verlassen der Bayernrunde lohnt alleine schon für den Anblick.

Gegen Abend erreiche ich das Wunder. Nicht viel los. Man kann täglich von 6 bis 22 Uhr zu den Brückenköpfen kraxeln und sich durch Lösen eines Tickets (8 Euro) Einlass verschaffen. Soll ich? Radel stehen lassen mit allem Gepäck und die zwanzig Minuten hinauf? Oder in der Klause nebenan fragen nach Zimmer? Hier nächtigen?

In der Rezeption des Gasthauses und Hotels sagt man mir, x=70. Das sprengt jegliche Schmerzgrenze. Also ächze ich eine weitere Steigung hinauf nach Heiterwang, wo es günstigere Unterkünfte geben soll, erhalte dort die Antwort in einer Radlerpension, x=60. Fast bin ich versucht, schon will ich einchecken, da reitets mich, es ist warm genug zum Zelten, noch beim Campingplatz vorbeizuschauen. Direkt am See. Auch dort gibt es Zimmer für x=97.

Schlussendlich lande ich auf der winzigen Zeltwiese, mit einem mitleidigen ‚Hoffentlich haben Sie einen guten Schlafsack‘ der Rezeptionistin. Hier ist x=19,5.

Die Nacht war frostig. Auf den Fahrradtaschen ist Raureif. Aber ich konnte gut schlafen (nachdem der Küchenjunge gegen 22:30 das Altglas im Müllraum unweit der Zeltwiese entsorgt und den Müll des Tages in einer elend knirschenden mechanischen Presse zerquetscht hatte).

Nun Frühstück im Zelt. Schneidersitzbüro. Vöglein zwitschern und die Sonne macht die schneebedeckten Berge im Westen glühen.