Dringend pissen musste ich 1991. Das Auto mit den Kajaks auf dem Dach schlängelte durch das Dörfchen Cruas. Wir waren in die Nacht hinein gefahren. Unser Ziel, die Ardèche, hatten wir beinahe erreicht. I. stoppte kurz hinter dem Ortsschild, längst hatte ich die Hoffnung begraben, ich könnte von einer Mole in die Rhône pinkeln. Eine Bahnlinie und ein Friedhof, Felder, Dunkelheit und Weinberge trennten uns vom Fluss. Welch‘ Wohltat, an einem Decathlon Werbeplakat endlich Wasser lassen zu können.
Dann inspizierten wir den Friedhof, um uns die Füße zu vertreten. Nur noch wenige Autos fuhren so spät. Hinter dem Friedhof ragten hell erleuchtet die Kühltürme eines Kraftwerks. Auf den vordersten war ein 30 Meter großes spielendes Kind gemalt. Eine unwirkliche Szene wie aus einem anderen Universum. Obwohl ich erst seit ein zwei Jahren fotografierte, wagte ich, die Nikon F 301 auszupacken, positionierte sie auf einem Grabstein, schätzte die Belichtungszeit und machte genau zwei Aufnahmen. Film war teuer. Damals konnte man ja die Ergebnisse nicht direkt auf dem Display sehen. Erst nach der Kanutour, als der DIA Film von der Entwicklung kam, lernte ich meine erste nennenswerte Fotolektion: DIA Filme erfahren bei langen Belichtungszeiten eine Farbverschiebung. Die Bilder waren giftgrün und im Himmel breitete sich die Wolke des verdampfenden Kühlwassers gelb aus. Wegen der hohen Kontraste, war von dem spielenden Kleinkind, das auf dem Kühlturm einen etwas autistischen Eindruck machte, so gut wie nichts zu sehen.
1991 hatte ich alles andere im Sinn, als einmal Fotokünstler zu werden. Auch geschrieben habe ich bis dahin noch kaum ein Wort. Alles was mit Kunst und Kreativität zu tun hatte, war mir ein Buch mit sieben Siegeln. Es bereitete mir Angst.
Im Lauf der Zeit wurde mir klar, dass es genau diese Motive waren, das missglückte Langzeitbild vom AKW Cruas Meysse und noch ein paar andere Zufalls-irgendwie -gut-Bilder, die mich auf meinem Weg zum Fotografen voran gebracht haben. „Motivationsmotive“ nenne ich sie. Eines, das allererste, ist noch vor dem initialen AKW-Bild entstanden. Es zeigt einen in der Luft baumelnden Strommast in Griechenland, geknipst in dunstiger Mittagsstimmung mit einer Kodak oder AGFA Kleinbild Kamera.
Wenn ich dieser Tage wie im Rausch mit dem iPhone fotografiere und hunderte von Bildern mache, die die Ergebnisse von damals sowohl in Qualität, als auch in Raffinesse bei weitem übertreffen, wird mir einmal mehr klar, wie lang der Weg ist, den man gehen muss als kreativer Mensch. Wie lang und beschwerlich und wichtig diese alten Stellen sind, die markanten Punkte, an dem man seine eigene Welt einst besungen hat. Nur durch das, was ich erlebt, geliebt, gelernt, verloren habe, ist das, was als nächstes kommt möglich.
1991 war ein ruhiges Jahr: Tschernobyl hatten wir vergessen. Der Jubel über den Mauerfall war verflogen. Rostock Lichtenhagen sollte erst noch kommen. Und all der andere Mist. Ich frage mich, wie man sich in so einer Welt als Künstler entwickelt. Und warum. Und ob es Flucht ist, Künstler zu sein. Vom Sinn es zu sein, ganz zu schweigen.
Ist schon interessant.Was Du schreibst und das Foto. Als ich gestern seit langem wieder mal im Labor war, hatte ich ähnliche Überlegungen: wie hast Du Dich wie die Zeit sich verändert, wo geht sie hin?
Erschreckend, wie sie rennt, die Zeit. 2010 war rasanter als 2009 und 2011 habe ich bisher kaum wahr genommen. Wie eine Katze im Dunkeln ist das erste Viertel an mir vorbei geschlichen. Dennoch gibt es Arreale der Gegenwärtigkeit in dem Karusell. Auf dem Jakobsweg hatte ich aber ein nie gekanntes Gegenwartsgefühl. Fast, als wäre man wieder Kind.
Sag mir bitte, dass die Zeit nicht noch schneller und schneller verrinnt, nach dem 40ten/45ten/50ten … usw. Lebensjahr.