Langatte – das Immer im Jetzt

Der Wärme einer Bäckerei ein paar Worte abringen. Umleitung sei Dank, bin ich hier in Langatte, abseits des Kanals gelandet. Die Umleitungsstrecke, weg vom Kanalradweg ist nicht schön zu fahren. Gerade, langweilige Straße, garniert mit Lärm, aber dafür gibt es nun dieses Bijou einer Überlandstraßendorfbäckerei, vor der die Autos an und abfahren,  ich durch die große Schaufensterscheibe des nicht sehr gemütlichen Cafés die Straße beobachten kann. Der Paketer bringt ein Paket. Jemand mit roten Sandalen schlappt herein, ein anderer hält das Geld fürs Baguette passgenau bereit und im Tausch eine Hand Baguette, andere Hand Geld wirkt es so, als habe er überhaupt nicht bezahlt.

Menschengemurmel mischt sich mit dem Rauschen einer Maschine oder eines Lüfters. Nach den Kilometern auf der Landstraße ist das Hiersein das Quentchen Ruhe, das ich eingebüßt habe, dadurch, dass ich den Radweg am Kanal verlassen musste.

Gegenüber ein Proxi, ein kleiner Supermarkt.

Ich stehe vor der Wahl, über Sarrebourg und Iming zum Kanalradweg zu fahren, was vielleicht ein bisschen kürzer ist als die Umleitung, oder eben der Umleitung zu folgen via Kerprich und Heming.

Esse Pizza Provencale, kalt, trinke Café au Lait.

Nach der kalten Nacht, begehe ich den Morgen relativ ruhig. Fahre nicht zu schnell, mache Pausen, fotografiere, plaudere in die Gopro. Denke viel an die Ur-Kunstmaschine auf dem Nordseeküstenradweg vor elf Jahren. Dieses Einswerden von Künstler und seinen Apps und Geräten. Ich darf es aber nicht verklären. Es war stets ein Ringen um Langsamkeit, um nicht vorankommen müssen.

So auch jetzt. Ein nicht unerheblicher Teil meiner Selbst denkt sich schon voran, wähnt sich in Saverne, Molsheim, gar Colmar oder in der Schweiz. Der abgesteckte Plan, dann und dann dort und dort sein zu wollen ist ein nicht unerheblicher Störfaktor.

Einmal sich treiben lassen können und schon schreibst du ganz nebenbei das schönste live geschriebene Buch der Welt, denke ich.
Bloß, wie werfe ich das Ende über Bord, so dass ich für immer mittendrin sein kann, nie geboren, nie gestartet, nie gestorben, nie angekommen. Ein Immer im Jetzt.

Never mind the ‚Fünfhüpfberge‘ #mdrzl

Südwind. Kühl. Etwas ungemütlich. Ein Picknick-Pavillon an einem ruhig fließenden Fluss. Auf der anderen Seite des Flusses das Dorf Kunheim. Landstraße mit Stoßverkehr, ähnlich ungemütlich wie der sanfte Südwind.
Ich zwinge mich dennoch, zu schreiben. Das gehört dazu. Schließlich bin ich auf dieser Kurztour in die Schweiz und zurück auch ausgerückt, um meinen Worflow zu überprüfen und auch, um zu schauen, wie eingerostet ich schon bin. Der Workflow des reisenden, radelnden, schreibenden irgendwas mit Kunst Machenden, kurz des modernen Appspressionisten, besteht daraus, sich Richtung Tourziel zu bewegen, Dinge zu erleben, Gedanken zu verfeinern und über das Erlebte zu schreiben. Mobil. Per Handy ans Internet angebunden, per Apps die Daten verarbeitend und sortierend.

So sieht es hier aus. Zur Mitte des Pavillions steht ein feiner Picknicktisch, auf dem ich die paar Lebensmittel ausgebreitet habe, die mir von gestern geblieben sind. Dazwischen eine Minitastatur, das Handy, Notizapp geöffnet. Jeder Tipp auf die Tasten ein Treffer, Gedanken fließen lassen, ein Vogel ‚uhut‘, ab und zu Autos. Überlaute Mopeds, ein Jogger im gelben Hemd und zwischen den Frühstückssachen Brillenetui, Taschentücher, ich will nicht zu sehr ins Detail gehen.

Der gestrige Tag war hart. Zehn Uhr gings in Brugg los. Die Liebste Frau SoSo begleitete mich einige Kilometer den Bözberg hinauf und wieder hinunter zum Bahnhof Effingen, wo wir uns verabschiedeten. Durchs Fricktal nach Bad Säckingen abwärts, lief prima auf Radwegen und in Deutschland dann auf die Rheinradroute. Wehr Brennet im Klosterhof traf ich einen anderen Reiseradler. Kurz zuvor hatte ich eine Karotte in Nutella getunkt und an dem bis zum Schaft braunen, phalliscchen Objekt genagt, brach in schallendes Lachen aus bei dem Gedanken an die entsetzten Blicke allfälliger Passantinnen und Passanten, doch ich blieb unbeobachtet.

Dietmar aus Thüringen. Schon Wochen unterwegs und so verplauderten wir den Weg bis Basel, was auch das Drängen ein bisschen aus meiner Reise nahm. Die Zeit verging wie im Flug. Selfies zum Abschied und wer weiß, vielleicht sieht man sich mal wieder.

Das Quietschen am Radel war da schon präsent und auch mein tief verinnertlichtes Wissen, wenn etwas am Radel klappert oder quietscht, suche die Ursache und zwar sofort. Tat ich natürlich nicht, wollte ja voran kommen. Bei der Dreiländerbrücke rüber nach Huningue  und schon in der Petite Camargue, ein Naturidyll am ehemaligen Kanal, Sandwege. Das dimmte das Quietschen, aber sollteste mal was machen, sagte ich mir, doch da überholte mich Mathieu aus Mulhouse, Novartis-Angestellter auf dem Heimweg. Mit dem Rad zur Arbeit trifft mit dem Rad zur Liebsten. Gut zehn Kilometer plaudern wir. Er spricht gut Deutsch. Dass er morgens 1:42 Stunden gebraucht hatte für die gut vierzig Kilometer, erzählte er mir. Mit dem Zug dauere es im Winter über eine Stunde und eben, das ist ja allgemein bekannt, dass man so schön entspannt nach Hause kommt, wenn man radelt. Portion Sport schon intus. Es gebe eine Dreiländer-Radroute von 210 Kilometern Länge, erzählt mir Mathieu und dass Novartis, zwar in der Shweiz, einen Mitarbeiterparkplatz habe, der in Frankreich liegt, den man aber nur von der Scchweiz aus erreiche. Wir hangeln uns über das Enklaventhema nach Büsingen und all die kleinen Schweiz-Zotzen, die nach Deutschland ragen und die Deutschland-Polypen, die in der Schweiz wachsen bis hin zum Haus zwischen Belgien und Deutschland, durch das die Grenze angeblich verläuft. Lustige und weniger lustige Grenzabsurditäten, wie etwa beim Brand eines Novartis-Gebäudes vor einigen Jahren, das auch auf französischem Gebiet liegt und bei dem erst einmal ausdiskutiert werden musste, ob die französische, die Schweizer oder die Betriebsfeuerwehr zuständig ist. Mathieu lacht verschmitzt, das ist natürlich eine moderne Legende über Bürokratismus. Hoffentlich.

Endlich Zeit, dem Quietschen nachzuforschen: Gepäckträger-Bruch steht unmittelbar bevor. Kaum Hilfsmittel, keine Hülsen, Schlauchschellen, nichts an Bord. Im Straßengraben halte ich Ausschau nach Draht und Blech, bis mir die Sache zu heikel wird und ich absattele und mal schaue, was ich mit Bordmitteln tun kann. Schließlich muss das Ding ja nur noch 200 Kilometer weit am vollendeten Bruch gehindert werden. Zwei Kabelbinder, welch Segen und die Reifenheber als Schienen lösen das Problem. Hoffentlich. Das Quietschen ist jedenfalls weg und es hört sich auch nicht schlimm an auf den letzten Kilometern hier her zu meinem Pavillion, die über ein von Wurzeln aufgefaltetes Radwegasphaltgebilde holpern. Spät ists. Zehn Uhr durchquere ich Neuf Brisach. Marckolsheim ist ausgeschildert, zwanzig Kilometer, schaffe ich noch. Ich könnte mir auch gut vorstellen, bis weit in die Nacht zu fahren. Der Tacho zeigt nix mehr, weil unbeleuchtet. letzte Werte, die ich im Dämmerlicht lesen konnte, waren um die 100 Tageskilometer und knapp sechs Stunden Fahrtzeit. Einer Nachtfahrt stünde tatsächlich nicht viel im Weg. Es ist nicht so kalt und der Kanalweg führt bis nach Straßburg hinein.

Aber dann ist da dieser Pavillion. Pfosten genau richtig im Abstand, um die Hängematte aufzuhängen. Der Lageraufbau ist holprig. Ich bin aus der Übung. Muss in allen Taschen wühlen. Nicht auszudenken, wenn es hätte schnell gehen müssen bei etwa Regen oder anderen widrigen Umständen. Nun stehen knapp 140 Kilometer auf dem Tacho und gut acht Stunden Fahrtzeit. Mit viel Selbstüberwindung könnte ich die 160 Kilometer bis nach Hause heute noch schaffen. Aber erst einmal warm radeln. In den Nordvogesen lauern zudem die ‚Fünfhüpfberge‘. So nenne ich das faltige Gebiet zwischen dem Rhein-Marne-Kanal und dem Bach Zinsel. Ein elendes auf und ab. Darf gar nicht daran denken.

Von Spirulinen, Eseln und anderen Halbrecherchen

Mein Kompendium über das Liveschreiben, das ich 2012 begonnen habe, ist fast fertig. In fünfzehn Artikeln habe ich in diesem Blog alle Erkenntnisse zusammengetragen, die mir in den letzten Jahren live bloggend kamen und die den live bloggenden oder denjenigen, der es einmal ausprobieren möchte, in die Lage versetzt, täglich hautnah über seine Reise zu berichten. Das Ziel, mich bis auf Hauchesnähe der Gegenwart zu nähern, habe ich zwar nicht erreicht, aber dennoch konnte ich mit vielen Tipps einen umfangreichen Werzeugkasten zusammenstellen. Das Thema, wie gehe ich mit mir selbst als schreibender Protagonist um, kommt darin ebenso zur Sprache, wie das Thema Beherrschung der erlebten und „live“ geschriebenen Zeit und es gibt auch viele nützliche Kniffe, wie man eine an sich auf reinen Fakten basierende Livereisereportage elegant mit fiktiven Elementen anreichern kann (ganz ohne die Realität zu verwässern). Kommentarstrangmanagement gehört ebenso zu dem Kompendium, das ich im nächsten Jahr in ein E-Book verwandeln möchte, wie der Umgang mit Trollen und Pöblern. Denn Eins ist gewiss, wer sich in die direkt erlebte Reportage begibt und die Operation am offenen Herzen der Literatur wagt, setzt sich auch manchmal dem Unmut und dem Neid andersmeiniger Menschen aus.
Ein Thema habe ich bisher noch nicht angeschnitten in diesem meinem Livebloggen-Zyklus: Wie hältst du es mit der Recherche? Recherche von unterwegs im Zeitalter des Internet scheint auf den ersten Blick ziemlich kompliziert. Bei schlechter Mobilnetzanbindung auf dem Smartphone Informationen aus dem Netz zu ziehen macht einfach keine Laune. Noch immer gibt es viel zu viele Webseiten, die nicht fürs Handy optimiert sind.
Das Tragische am Internet ist, dass man verlernt, wo sich die eigentliche Information befindet. Ist es nicht Irrsinn, dass ich in Vernet-les-Bains, in einem Appartement hockend, überlege, welche Webseite ich aufrufen muss, um Infos über das Dorf zu kriegen, anstatt einfach hinaus zu gehen und mit den Leuten zu reden?
Bei einem Spaziergang durch Vernet entdecken wir an jeder Ecke Infotafeln, die die Geschichte erzählen. Auf Französisch erhält man jede Menge Infos über die Vergangenheit als Kurort, die Landwirtschaft, die Minen im Canigou. Bebildert. Tipp eins: fotografiere sie ab, wenn du sie nicht sofort verinnerlichen kannst. So hast du beim späteren Bloggen eine zwar ungemütliche, aber dennoch vorhandene Recherchemöglichkeit.
Auch Straßennamenschilder sind gute Recherchemöglichkeiten. Oft steht darauf, warum die Straße nach wem benannt wurde. Auch hier gilt: einfach abfotografieren. Neben der Info hast du auch gleich die Koordinaten im Foto gespeichert.
Nicht zuletzt die Menschen! Rede mit ihnen. Egal wie. Auch wenn deine Fremdsprachenkenntnisse noch so gering sind. Jeder Mensch ist Information pur … wie etwa die grauhaarige Frau vor ein paar Tagen, die uns mit zwei Eseln bei einer kleinen Kapelle begegnete. Über die gutmütigen Tiere kamen wir ins Gespräch und ich fragte sie, ob sie eine Farm hätte. Nicht wirklich, sie züchte „Spirulines“ (gesprochen Spirülin), eine Algensorte. Das sei ihre Farm. Das zog denn später doch ein bisschen Recherche im Netz nach, gewappnet mit dem Begriff Spirulines (sowas muss man sich vor Ort entweder aufschreiben oder merken), ging ich auf die Suche im Web. Et voila, entdecke ich ihre Algenfarm gleich im Nachbardorf von Vernet als recht informative Webseite. Aber dieser Artikel handelt nicht von einer Spirulines-Farm, sondern von Recherche im Liveblog.
Ein bisschen die Zähne ausbeißen tue ich mir an dem Mysterium, warum in Vernet gefühlt mehr als die Hälfte aller Appartements, Hotels usw. leersteht, warum in vielen Fenstern ein Schild „A vendre“, zu verkaufen, hängt. Was ist geschehen? Ist die Hochsaison im Sommer? Die nächste Skistation ist eine halbe Stunde entfernt Richtung Canigou hinauf. Für Quadtouren auf den Gipfel ist das Wetter zu unsicher. Vor dem Rheumabad stehen zwar tagsüber Reisebusse, die wohl fünfzig-einheiten-weise Kurgäste bringen, aber die wohnen nicht hier. Die Zeiten, als sich Graf und Gräfin Soundso hier einfanden oder Rudyard Kipling und Nicolo Paganini ihre Leiden kurierten, sind wohl vorbei. Eine Frau mit Hund, die ich vorgestern am Fluss treffe, gibt Auskunft, dass die Jugend wegzieht in die Stadt. Das Dorf stirbt, so vermute ich. Aber so ganz verstehe ich sie nicht. Zu fremd ist ihre Sprache und der Dialekt. Aber vielleicht will sie mir auch nur nicht die Wahrheit sagen? Fast kommt es mir wie eine Verschwörung vor, dass man hier nicht einfach sagt, he, wir sind am Sack. Die besten Zeiten sind vorbei. Wir sind das Bad Münster am Stein der Pyrenäen … Aber vielleicht lege ich ihnen dieses, mein Bild ja nur schablonenhaft über ihr wahres Antlitz? Hier wäre eindeutig Recherchebedarf. Quellenangaben. Wikipediafeste Fakten müssten geschaffen werden. Bloß wie, fremd, draußen, flüchtig und allein, so sind wir Liveblogger doch fragile Informationssamelnde Gebilde auf dem Weg durch stets noch ein bisschen formbare Wahrheitssphären. Tipp drei: Habe den Mut, nichts herauszufinden. Schreibe auf, was du beobachtest.
Zurück nach Vernet. Fakt ist, die riesige Residence du Canigou ein paar Häuser weiter in unserer Straße steht gänzlich leer. Wie bereit zum Abriss. In unserem ca. 60 Parteienhaus sind nur drei Wohnungen bewohnt. Die Miete für unser Appartement war drecksbillig. Wie Verzweiflung fühlt sich unser Mietvertrag an. Als wir mit weiteren Menschen reden, warum das alles hier so ausgestorben ist, sagen sie, das Wetter, die Feiertage, und sie drucksen rum. Die fremde Sprache macht es auch nicht einfach, tacheles zu reden. So bastele ich in meinem Kopf eine unheimliche Geschichte, einen Fluch. Irgendwas Außerirdisches. Ja, ich finde tatsächlich, auch das gehört zur Recherche: der Mut zum Nichtwissen. Etwas dem Leser nicht sagen zu können. Die geforderte Information einfach nicht zu liefern. Mehr noch, auch Fehlinformation ist kein Beinbruch. Immerhin gibt es ja im Liveblog auch die Möglichkeit, in Nachträgen oder in den Kommentaren Korrekturen vorzunehmen. Tipp Nummer ich-habe-vergessen-welche-Nummer-das-jetzt-ist: lass die Lesenden ihr Schärflein zum Gesamtbild beitragen. Die sitzen immerhin daheim an großen Monitoren und erhalten Webseiten in ihrer Muttersprache.

Nur grob skizzieren möchte ich an dieser Stelle dieses Thema Recherche im Liveblog. Im nächsten Jahr werde ich meine Liveblog-Tipps mal alle zusammenfassen und einen kleinen Ratgeber daraus bauen.
Dieser Artikel würde wohl den Titel Livebloggen XV tragen. Ich glaube nicht, dass es der letzte der Serie ist.

Straße, je t’aime

Dann doch wegfahren. Obwohl kaum Geld auf dem Konto. Ein Angebot auf Francevoyage.com lockte mit einem Appartement für 170 € die Woche. Ganz unten in den Pyrenäen. Nur fünfzig Kilometer vom Meer. Nix wie gebucht. Die anfallenden Fahrtkosten und Autobahngebühren liegen zum Glück noch im Blinden Fleck.
Dienstags abends die 300 km Fahrt zur SoSo in die Schweiz sind schon speziell. Vorbei an den Vogesen, dunkle Silhouette vor Sonnenuntergang, aggreable Fahrt, wenig Verkehr. Müde und angeschlagen bin ich – morgens gab es noch eine Hörsturzdiagnose inklusive hochdosierter Kortisoninfusion – was eine Art Trotzreaktion auslöste, jetzt erst Recht. Raus aus dem alljährlichen Weihnachtstrubel. Wie auch immer hat uns am acht Uhr frühen Heiligen Abend 2014 die Straße wieder. SoSo kutschiert uns durch die morgenfrostige Schweiz vorbei an der Aargauer Industrie, Gewerbeparks, Glasfassaden, dampfende Schornsteine vor Jurafels. Hinüber ins Seeland, Solothurn und Biel-Bienne zur Rechten, Bern zur Linken. Lange Schatten von einzelstehenden Bäumen auf grün-raureifiger Wiese, garniert mit zwei Reitern. Hundegassigänger. Vom Beifahrersitz versuche ich die Szenen fotografisch einzufangen. Vergeblich. Die Leitplanke stört. Andere Autos und LKWs, die wir oder die uns überholen stören. Immer schiebt sich ein Hauch Geschwindigkeit ins ansich ruhige Bild. Man müsste anhalten können. Autofahren, selbst nur als Beifahrer, und Fotografieren geht nicht. Schon lange denke ich darüber nach, welche Kunstform mit welcher Art, sich fortzubewegen gut harmoniert. Fotografieren und Radfahren oder Wandern hat sich bewährt. Überhaupt könnte der Grundsatz gelten, je langsamer, desto Kunst. Dass es auch etwas gibt, was mit dem Autofahren harmoniert, sollte ich am gestrigen Heiligen Abend erkennen. Längst sind wir in Frankreich. Rauschen auf Grenoble zu. An LED Infotafeln über der Fahrbahn blendet die Mautgesellschaft Vinci immer wieder Botschaften ein. Fröhliche Weihnachten. Achtung Baustelle.
Straße, je t’aime, denke ich plötzlich. Ich liebe dieses von Menschen geschaffene Monstrum, das sich durch Tunnel und über Brücken kreuz und quer durch die Lande zieht.
Pollution. Reduisez votre vitesse, wird uns in der Nähe von Valence auf den Tafeln mitgeteilt. Schon sind wir im Rhône-Tal. L’Autoroute du soleil. Aber mit Sonne hat dieser eigentlich sonnige Tag nichts zu tun.
Der Himmel ist gelb. Die Horizontlinie wirkt schmutzig. Die Sonne ist ein schmieriger Ball, der in einer Kloake zu schwimmen scheint. Die Luft ist verpestet. Pollution! Jetzt wissen wir, was die Vinci Botschaften auf den Tafeln bedeuten: Luftverschmutzung, langsam fahren.
Der fünfte Apokalyptische Reiter, das sind wir. Wir Menschen. Der fünfte Apokalyptische Reiter ist ein zieseliges, schizophrenes Kollektiv egoistischer, voranstrebender Individuen. Unaufhaltsam schiebt sich einjeder von uns durch seine Welt in seine ihm wohlgefällige Richtung und trägt damit zur natürlichsten Form der Apokalypse bei, phantasiere ich. Das wäre mal ein Blogartikel wert. Dass es die biblische Form der Apokalypse zwar nie geben wird, dass die Wesen aber sehr wohl und ohne es zu ahnen, ihre eigene Apokalypse kredenzen. Von innen heraus, wuchernd wie Krebs.
Auf dem Beifahrersitz twittere ich, während SoSo das TomTom zum Jaulen bringt. Immer wenn sie die zulässige Geschwindigkeit überschreitet, bimmelt das Ding. Vorbei an Montélimar. Atomkraftwerk. Hundert Meter hohe Dampfsäule über Kühlturm in giftgelbem Himmel neben einem schrägen Ausläufer des Zentralmassivs, dessen Abhang so gerade verläuft, als wäre er von deutschen Ingenieuren konstruiert. Das Kernkraftwerk von Pierrelatte, dessen Kühltürme mit spielenden Babys bemalt waren. Ich vergesse, zu schauen, ob die Gemälde noch immer darauf sind. Vorbei an Montpellier. Eine französische dreispurige Autobahn vermittelt einem irgendwie das Gefühl galanten Miteinanders. Kein Gemetzel wie in Deutschland manchmal, wo man mit 250 km schnellen Geschossen rechnen muss, die von Hinten wie aus dem Nichts auf einen zurasen.
Die Fahrtrichtung führt uns immer genau Richtung Sonne. Zunächst nach Süden und ab Bezier/Perpignan dann nach Westen. Die Helden reiten in den Sonnenuntergang. Wir beiden millionstel apokalypischer Reiter, wir.
Gegen 19 Uhr erreichen wir unser Domizil in Vernet-les-Bains. Die Hausverwalter sagen, wir sind 750 Meter hoch. Das hatte ich nicht bedacht. Dennoch. Der Winter ist noch nicht gekommen. Tagsüber 12 bis 15 Grad. Nachts leichter Frost. Das Studio ist ein gemütlicher Raum in einem Appartementhaus, Balkon nach Osten. Die Sonne sollte bald hinter den Bergen hervor kommen.
Die Luft wirkt sauber.
Nachtrag: Hier geht es zu meinem Twitter-Account

Saint Victor

Unerwartet entspannt am Heilig Abend morgens die Schweiz durchquert, vorbei an Bern, Yverdon, Lausanne und durch das unheimliche Genf, in dem einst Gehörtgesagtes Schwarze Löcher suggeriert wegen des unterirdischen Teilchenbeschleunigers und Smoke on the Water seit Jahrzehnten herübertreibt vom anderen Seeende und sich Alpen und Jura zu einem Trichter verjüngen, der uns jenseits des Rhône-Durchbruchs ausspuckt Richtung Süden. Derweil die schneebedeckte Alpenkulisse, angereichert von französisch pompösen Gewerbegebieten und gezuckert mit temporärem Starkwind, der unser kleines Auto mitunter meterweit versetzt – rotweiße Windsäcke vor jeder Brücke und die Displays prangen metergroß über der Fahrbahn, Achtung Vent fort und: die Menschen mit den gelben Warnwesten sorgen für votre securité. In der Tat wuseln alle paar Kilometer kleine Straßenarbeitertrupps und beseitigen vom Orkan gebrochene Bäume oder reinigen die Rastplätze. Gegen halb sieben erreichen wir unser Domizil in Saint Victor, eine künstlerbudengroße Gîte.
Ein erster Spaziergang durchs uralte Dorf lässt im Dusterlicht nur das Beste vermuten: Fremde! Stille und dieser kleine Funken Exotik, der einen schon wenige hundert Kilometer von zu Hause stets anspringt.
SoSo schlägt den direkten Weg zum Castell ein, das mit einem schneeweißen Strahler, der unten im Dorf angeschlossen ist, taghell geradezu nachtfaltresque einen verleitet, hinauf zu kraxeln. Aber ich mahne, wir sollten uns diese Sehenswürdigkeit noch aufheben für die schlimme Zeit der Feriendepression und der Sinnfrage, die sich irgendwann nach ein paar Tagen vor Ort vielleicht einstellt und SoSo fragt, du meinst wie mit den Essen, das Gute zum Schluss? Ja, sag ich. Aber wenn man fettgefressen ist vom Wenigerguten, dann tut das Gute zum Schluss doch auch weh?
Allein die Dunkelheit hält uns ab, schon abends zum Schloss hoch. Am nächsten Tag bietet sich dem geneigten Château-Erklimmer schließlich folgendes Bild:

Panorama Saint Victor Blick ins Rhônetal