Liveschreiben #13 – zurück in die Gegenwart

Herr Irgendlink lässt und lässt nicht locker. Zwar schwächelte ich fast ein Jahr, was das Reisen und das darüber Berichten angeht, aber nun, seit erst drei Tagen unterwegs, spüre ich schon wieder die Faszination, die der stete Lebensstrom ausübt, wenn er über die Katarakte der Fremde rauscht. Aus der Reise Ums Meer habe ich ein immenses Wissen über diese, meine direkte Form der Reiseberichterstattung gewonnen und, by doing, eine gute Fingerfertigkeit entwickelt. Wenn ich heute Morgen noch fabuliere, ich zeige nienienie wieder Bilder in einer Ausstellung, es sei denn, ich erhalte ein Honorar, ich trotziger Kunstbub, so weiß ich nun, was ich garantiert immer wieder tun werde: live von unterwegs bloggen.
Es dauert ein zwei Tage, bis man drin ist in der Tour. Heute bin ich in dieser Tour drin. Also Punkt Eins: Gedulde Dich und lass Dich vom Unterwegssein weichklopfen so lange, bis die Worte fließen. Der nächste wichtige Punkt ist Disziplin. Ehrlich gesagt, just im Moment würde ich viel lieber nackt im Hotelbett liegen, die Glotze surren und den Abend ausklingen lassen.
Stattdessen vorm geistigen Auge den Tag revue passieren lassen, gleichzeitig auf dem winzigen Smartphonebildschirm diese Zeilen tippen. Ein Urban Artwalk morgens, um das einzig renovierte Haus in einer zerfallenden Häuserzeile zu fotografieren (abends war das Licht ungünstig).

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Verirrt in der Zitadelle verpassen SoSo (auch sie schreibt live) und ich beinahe das Festbankett, müssen kilometerweit durch die Nordstadt irren. Boulogne ist verdammt hügelig. Das Bankett mit etlichen hundert Gästen in einer Turnhalle anlässlich des 54jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft Boulogne Zweibrücken.

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In der Kunstschule EMA offeriert man mir, die Ausstellung noch einige Zeit im Kubus zu lassen und sie mir per Post zu schicken. Prima. Netzwerken. Das ist was Feines. Fünf Busse voller Netzwerker.
Stadtszenen von unseren Urban Artwalks. Boulognes Häuser haben einfach die schönsten Hausnummern. Diagnose: in dieser Stadt müsste ich mindestens eine Woche arbeiten. Südlich des Flusses Liane etwa, gibt es einen Stadtteil, den ich noch gar nicht kenne.
Urban Artwalk Boulogne am 19. Mai 2013.

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Ein Jammer, dass die Reise Morgen endet. Ich merke, wie faszinierend dieses, mein Experiment am offenen Herzen der Literatur ist. Obschon noch immer unklar ist, ob es sich um Literatur oder Kunst oder Dokumentation oder dilletantisch redigierten Privatjounalismus mit larmoyanten Einlagen, oder um ein schlichtes Bad in der virtuellen Menge handelt. Manche nennen es einfach Appspressionismus.
Credo von Liveschreiben #13 – lass nienienie den Strom der Gegenwart enden.

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Das Zwitschern der Rikschafahrer

Die Siegessäule ist es nicht wert, als erstes und einziges Bild aus der großen Stadt gepostet zu werden – obschon im Glanz des gestrigen Tages eine schöne Hipsta-Collage gelungen ist. Unterwegs am Rikschastrich, umschwirrt von zahllosen Rikschataxis, erhalten wir von einem gewissen Christoph eine Gratis-Einführung in knapp 150 Jahre Siegessäulengeschichte. Dass sie zunächst am Brandenburger Tor stand und viel kleiner war und erst 1938 erhöht und verstellt wurde und man höhnisch den Kanonen, die zuoberst nachträglich aufgestockt wurden, die Köpfe verbogen hatte, so dass sie ohne Brille betrachtet, wie erektionsgestôrte Penisse wirken. Rikschamann Christoph gabelt uns auf einer Parkbank im Tiergarten auf, seine Geschichte ist gratis, gehört aber zum Lock- und Verkaufsgespräch. Nachher, unzählige Rikschafahrtenanbandelungsgespräche später, meine ich den Rikschastrich zu durchschauen. Die Fahrer sind alle selbständig, mieten die Rikschas. Es gibt akkugestützte Rikschas mit Carbonrahmen und gute alte, schwere Dinger, ohne jeglichen Komfort. Alle haben eines gemeinsam: es passen zwei Touristen rein und vorne sitzt ein Fahrer, der seine Haut verkauft. Christoph macht in „architektonische Stadtführung“. Ein anderer macht in „Berliner Schnauze“ usw.
Die Siegessäule liegt in einem riesigen Verkehrskreisel. Durch zwei Tunnel kann man sie zu Fuß von Osten oder Westen erreichen. Für Geld darf man bis ganz nach Oben steigen. Was wir uns, nicht zuletzt wegen der Doppeldeutigkeit dieses im Grunde kriegerischen Denkmals sparen. Auf dem Fundament wird auf vier etliche Meter langen Bronzetafeln die Geschichte des Sieges im Krieg 1870/71 erzählt und die Geburt des dt. Kaiserreichs. Erschöpft knien die Verlierer und reichen den hoch-zu-rossen Siegern die Kapitulationsurkunde. Das Bronzerelief ist durch die beiden Weltkriege mitgenommen. Schusslöcher. Abgerissene Köpfe, Spuren ewig schwelenden Konflikts.
Ich will nicht weiter auf das Denkmal eingehen. Seine zwei Seiten jedoch sind faszinierend – Sieger und Verlierer- spontan nenne ich es Verlierersäule. Soso, die als Ausländerin völlig unbeleckt in die deutsche Geschichte schliddert, nennt es schlicht „der Engel“. Man sieht eben nur die Flügel. Der marode Hintergrund und die Querelen bleiben meist verborgen. In den Tunneln sind gläserne Lichtinstallationen angebracht, die auf die Bewegungen der Durchlaufenden reagieren. Wenn man ganz nah an der Wand entlang läuft, oder sie mit der Hand berührt, leuchtet sie und es entsteht, auf den etwa 12 Metern ein Licht – Schattenspiel der Passanten. Fasziniert stehen sie vor der Wand, betasten sie, machen Faxen usw. Nicht ahnend, dass die Lichteffekte durch Sensoren auf der gegenüberliegenden Seite des Durchgangs erzeugt werden. In Abständen von ein paar Metern sind unscheinbar auf Kopfhöhe kleine Quadrate. Wenn man die Hand davor hellt, strahlt die gesamte Wand.
Eine wunderbare Analogie an die Zweideutigkeit und die Verworrenheit allen Seins. Sieg und Niederlage, Licht und Schatten, aufgeschlossene Rickschafahrer, die scheinbar nur dich kennen und wenn du ihnen eine viertel Stunde später zuwinkst, wenn längst andere Gäste in ihren Rikschas sitzen, starren sie dich mit hohlen Augen an und im Frühlingswind säuselt ihr individuelles Lied von der Schönheit der Stadt.