Die drei 31. Junis – oder Höllenritt nach Rostock #AnsKap

Irgendwann reift die Erkenntnis, dass der Juni nur 30 Tage hat. Wann war das? Gestern? Vorgestern?Zweihundert Kilometer bis Rostock, sagt mir jemand auf Twitter. Das sind drei Reisekünstler-Tagesetappen, wenn das Wetter stimmt.

In der Gegend westlich von Berlin ereilt mich diese Erkenntnis mit dem nicht vorhandenen 31. Juni.

Das Jerichower Land um Havel und Elbe ist eigentlich viel zu schön, um es links liegen zu lassen. Hätte ich bloß nicht die Verabredung in Malmö mit meinem Freund Ray, der sich als Expeditionsmaler in die Reise einklinken wird.

20 Uhr, Bahnhof Malmö, am ersten Juli. Das ist mein 31. Juni.

Es gibt ’ne Schaltsekunde, tröstet man mich auf Twitter. Aber erstens ist das ein 24 mal 3600ster Teil meines 31. Juni und zweitens wird die – glaube ich – abgezogen vom Monat.

Über die B 107 verlasse ich das Jerichower Land. Schnurgerade führt diese, zum Glück nur schwach befahrene Bundesstraße durch Havelberg nach Pritzwalk. Die ersten neun Kilometer sogar auf einem schönen Radweg durch brandenburgischen Kiefernwald. Ich liebe diesen Duft.

Es geht hart ran. Die prognostizierte Hitze bleibt zum Glück aus. Ein Seewind umspielt den Reisekünstler. Ich beschränke mich an diesem Tag und an dem beiden darauf folgenden 31. Junis vor allem aufs Radfahren. Die Kunst und das Schreiben stehen hintan.

Opportunitätskosten. Das Wort aus BWLer-Zeiten kommt mit in den Sinn. Einen Blogartikel zu schreiben kostet mindestens zwanzig Kilometer. Geschenkt kriegst du nichts. Alles ist konvertierbar in dieser Welt. Zwar geht Denken und Radfahren ganz gut zusammen. Nicht aber Schreiben und Radeln. Auch das Veredeln der Fotos auf dem iPhone zu Kunstwerken braucht seinen Raum. Kurzum: bei so einer digitalen Expedition jonglierst du immer mit diesen Kräften des Körpers und des Geistes. Im Idealfall stellt sich ein guter Flow ein. Vorankommen und Stillstehen pendeln sich gut ein.

Längst hinter Pritzwalk – ich steuere auf den Treptowsee zu, den mir ein Autoschrauber als Nachtplatz empfohlen hat – stoppt ein liegengebliebener ukrainischer Kleinlasterfahrer meine Hatz. Ich ertelefoniere ihm einen Keilriemen für seinen Sprinter. Und zwar total chaotisch. Die Suchfunktion im Handy bringt mich an die Rezeption eines Golfhotels – seltsam – wo mir die nette Rezeptionistin einen Mercedeshändler in Parchim ergoogelt, dem ich das Problem schildere. Ich hoffe, er konnte dem Havarierten helfen. Eine halbe Stunde dauert das Telefonieren. Einen halben Blogartikel lang. Dennoch: kam genau richtig, dieser kleine Zwangsstopp.

Nach hundertzwanzig Tageskilometern treffe ich entspannt am Treptowsee Sven und Margret, die ich zehn Jahre nicht gesehen habe.

Als wäre keine Zeit vergangen sitzen wir am Strand und ein Feuerchen lodert.

Die Muskeln brennen. Seebad tut not. Eigentlich könnte man hier bleiben. Für immer.

Tag zwei des Höllenritts. Gestern, der 31. Juni. Gut möglich, den Rostocker Überseehafen zu erreichen bis abends. Über die Landstraße sind es vielleicht hundert Kilometer.

Da ich nicht weiß, wann die letzte Fähre fährt und zudem mit fünfzig Kilometern auf der B 107 mein Landstraßenbudget aufgebraucht ist, wurstele ich mich ab Dobbertin östlich nach Krakow rüber zum Radweg Berlin-Kopenhagen. Das entschleunigt mich. Nichts ist kreativitätsschädigender, als Hektik. Und Wollen. Vorankommenwollen.

Fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie vom Überseehafen Rostock entfernt schlage ich mein Zelt auf einer Privatwiese auf. Hart erkämpfter Lagerplatz. Die Gegend an der Warnow quillt über von Getreidefeldern. So dass mir nur übrig bleibt, das Zelt direkt am Weg aufzubauen, oder auf dem Sportplatz. Bei einem Landwirt und einem Kleingärtner, die ich frage, blitze ich ab.

Finde schließlich doch noch einen Platz.

4:15 Uhr raus. Schon wieder ein verdammter 31. Juni. Ungefrühstückt zum Hafen. Eine gute Entscheidung. Gegen 7 Uhr kaufe ich das Ticket für die ‚Huckleberry Finn‘, die um 8 Uhr ablegt nach Trelleborg.

Nun sitze ich hier, vorne in der Lounge, Blick nach Schweden. Wasser bis zum Horizont. Steuerbords dänische Inseln. Auf dem Boden zwei Meter neben mir schnarcht eine Frau. Gemurmel. Ein Fernseher dudelt auf schwedisch. Das Wetter ist schön. Ich bin müde und wach zugleich.

Und freue mich auf Schweden.

Und dass dieser verflixte 31. Juni endlich aufhört.