Dritter Tag auf dem Saarland-Radweg.
Die heutige Etappe führt von Türkismühle zurück nach Oberkirchen (nicht wie im Artikel zuvor erwähnt Oberthal). Per Zug zunächst von Homburg via Neunkirchen nach Türkismühle. Dort auf dem Saarland-Rundweg einsetzen.
In Homburg ungeplatzt: Kunstreisemorgenblütenträume, dass die Kombination Fahrrad und Bahn in Rheinland-Pfalz und im Saarland doch so praktisch ist. Radmitnahme kostet nix. Aber der Zug hat Verspätung, so dass mir der Regionalexpress in Neunkirchen vor der Nase wegfährt. Ich kann sogar noch den Türknopf drücken. Der Lokführer späht hämisch in den Rückspiegel und fährt.
Nun im Bummelzug, der durch so namhafte Orte gondelt wie Wiebelskirchen, Ottweiler, Niederlinxweiler etc. Ich wünsche dem ignoranten, hyperkorrekt pünktlichen Regionalexpresszugführer einen Maschinenschaden. Möge der Mob das Führerhaus stürmen. Ha.
Die Taktung der Welt wird mir insbesondere im eng verzahnten Liniennetz der Deutschen Bahn bewusst. Eine Minute zu spät und du kannst eine Stunde warten. Das passt irgendwie zu dem Bild der ewig rennenden Leistungsgesellschaft.
Dieses über ein langes Menschenleben antrainierte High-End-Gebaren, jede nur erdenkliche Lücke sinnbringend auszunutzen. Lemminge sind wir auf dem Weg zur Absprungkante. Als ob ich nicht glücklich sein könnte, einen Zug später zu nehmen. Immerhin bleibt hier Zeit, ein paar Buchstaben ins iPhone zu hacken.
Nachher auf dem Radweg werde ich zurückkehren in locker geschichtete Zeitzonen. Terminloses Land. Bummeln in künstlerischer Mission. Mein Plan: zum Endpunkt der vorgestrigen Strecke radeln, ca. 25 km schätze ich, und von da aus in 2,5 km Stücken den Radweg rund ums Saarland dokumentieren. Also von Türkismühle nach Oberkirchen und zurück lautet der heutige Plan.
Nun erfahre ich aus dem Zuglautsprecher, dass mein Bummelzug in Sankt Wendel einen Zwischenstop einlegt. Die Stimme des Zugsprechers klingt wie Hypnose. Du wirst gaaanz müüüde. Ich „verliere“ eine gute Stunde Arbeitszeit. Ganz Leistungsbürger, der ich bin, werde ich die Zeit „gewinnbringend“ nutzen.
Aus diesen Zeilen einen waschechten direkten Blogeintrag schustern. Bild muss her.
Der Saarland-Radweg bei Werschweiler
Meist über Waldwege, nur selten auf Straßen verläuft der Fernweg rund ums Saarland.
Wer auf dem Nordseeküstenradweg ums Meer radeln kann, der kann auch auf dem knapp 350 Kilometer langen Saarland-Radweg um das kleinste Bundesland Deutschlands (ausgeschlossen die noch kleineren Stadt-Bundesländer) radeln. Und alle zweieinhalb Kilometer ein Bild der bereisten Strecke machen. Schon auf dem Rückweg um die Nordsee hatte ich geliebäugelt mit passenden Folgeprojekten. Die Psychologie ist sich einig: Fernradler, die nach Hause kehren, fallen erst einmal in ein verdammt tiefes Loch. Verdruss. Sinnfrage. Orientierungsverlust. Nach einer so langen Zeit mit Ziel, immerhin vier Monate im Uhrzeigersinn um die Nordsee, glänzt der Alltag daheim logischer Weise nicht gerade mit Ziel.
Ein neues Ziel muss her, der Saarland-Radweg
Der Saarland-Radweg liegt zum Greifen nah vor Herrn Irgendlinks Künstleratelier. Neun Kilometer runter nach Homburg (Saar) und ich bin auf der mit „gelben Wutzen“ gekennzeichneten Trasse. Die Wutz, auf gut Deutsch das Schwein. Das Saarland aus dem Weltraum betrachtet hat die Form einer Wutz.
Homburg Talstraße, ein Sonntag Anfang September. Nach meinen ersten Versuchen, mich dem Fernradwerg zu nähern geht es gegen Nachmittag ans Eingemachte. Ich radele die selbe Strecke, wie am Tag zuvor, von Homburg durch den Wald bis nach Jägersburg und noch ein Stückchen weiter, hinauf auf den Höcherberg. Ganz schöner Trümmer. In Jägersburg sagen Hinweisschilder, wo der Hammer hängt: Weg steigt 240 Meter auf knapp fünf Kilometern. Ereignislose Waldstrecke. Wunderschön, gut beschildert. Da geht was. Ich wachse langsam hinein in das neue Projekt. Ziel ist, mich in zweieinhalb Kilometer Abständen rund um das Saarland zu fotografieren. Skelett meines Kunstprojekts sind, wie seit 1995 üblich, regelmäßige Fotos der bereisten Strecke. Alles weitere, das „Fleisch“, so hoffe ich, kommt während des Tuns. Vorbei am Golfkurs Websweiler schwitze ich hinauf zum Höcherberg, kehre bei Kilometer 17,5 um und kehre auf ein Weizenbier und einen Wurstsalat in der Hütte direkt neben dem Aussichtsturm auf dem Höcherberg ein. Freund Journalist F. hatte, als ich ihm die Idee schilderte, durchblicken lassen, dass man daraus ja eine Art Reiseführer machen könnte. So fühle ich mich arbeitsam, gebraucht, wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Datenharvester, der ich nunmal bin. Ich lasse mir Quittungen geben. Sind ja Reisekosten, Datenbeschaffungskosten, wenn man so will. Ich bin ein Mähdrescher, der die Ernte in Form von Pixeln und Satzfetzen einbringt.
Das Projekt nimmt mit jeder Pedalumdrehung mehr Schwung auf. Was, wenn daraus tatsächlich ein Buch wird? Yet another Saarlandrundweg Buch? Gähn. Es muss etwas Besonderes werden, hatte mich Journalist F. gebrieft. Somit lautet meine geheime Mission: während du Daten beischaufelst und kurbelst und das Leben genießt, kannst Du auch gleich über die Zukunft nachdenken. Ergebnislos. Halb taub kehre ich auf dem selben Weg zurück nach Homburg. This ist not a North Sea Cycle Route, bei der du monatelang ums Meer radelst und den Bloghelden spielst. Dennoch. Das Kleinod vor der Haustür darf nicht verschmäht werden. Und ein Kleinod isser, der Saarland-Radweg. Die Beschilderung ist beinahe narrensicher nach niederländischer Perfektion. Die Streckenführung, dank Höcherberg als hart einzustufen, aber ein Blick auf die Saarlandkarte verrät, der Rundweg hat auch zarte Seiten, Flachstrecken, Flussidylle. Ich bin eben in die „falsche“ Richtung unterwegs. In Jägersburg liefert man mir im dortigen Heimatmuseum auf dem Rückweg nach Homburg erste philosophische Kitzeleien. Gratis Eintritt in die alte Gustavsburg, die so eine Art Museum beherbergt. Kurz vor Ladenschluss informiert mich der Museumsaufseher in einer Art Crash-Kurs über die Geschichte des Dorfs. Es gab einmal ein Lustschloss, irgendwo da draußen in den Wäldern. Fast sieht es aus wie Versaille. Ein Modell steht im Hauptraum des Museums. Der Mann zieht die Vorhänge zu, bereitet alles vor für den Feierabend und erzählt mir die Geschichte: dass das Schloss nur 40 Jahre lang existiert habe, dann wurde es nach der Französischen Revolution „angestock“ – angesteckt, also niedergebrannt. Die Adligen geflohen, guillotiniert, die armen Leute der Gegend haben mit den Steinen ihre Häuser gebaut. Nichts ist mehr übrig von dem Glanz. Und mit einem Schlag wird mir die Zerbrechlichkeit unserer Existenz bewusst. Warum denken wir immer in Ewigkeiten? Welch grandiose Illusion. Genau wie Mister Kunstbübchen Irgendlink dem Glauben verfallen ist, alle Pixel und Einsen und Nullen, die er ins Internet hackt, bestehen für immer weiter, müssen auch die sypillitischen, von Kopfläusen zerfressenen Aristokraten von anno Siebzehnhundertnochwas geglaubt haben, dass ihre Lustburgen die Jahrhunderte überdauern. Vierzig lumpige Jahre für Glanz, Reichtum, Macht. Und nun radeln Typen wie ich durch jungen, lichten Buchenwald und grübeln über ihre eigene Existenz und hoffen auf den nächsten schönen Tag. Bytejäger, Ideenfänger, Konsumträumer. Die Lebensspirale hat sich dreihundert Jahre weiter gedreht und sie wird sich noch dreihundert Jahre weiter drehen. Inständig hoffe ich, dass ein alter, hinkender Museumswärter in einem Heimatmuseum der feinen Künste der Zukunft die Vorhänge zuzieht, kurz vor Feierabend, und einem interessierten späten Gast erzählt, dieser Herr Irgendlink hat nur vierzig Jahre lang seine Daten auf den Server gehackt, dann haben bei der ersten digitalen Revolution die Franzosen alles gelöscht. Oder so ähnlich.
Auf dem Rückweg zum einsamen Gehöft, durchweg auf Waldwegen, sehe ich antike Aristokraten wie sie auf ihren Rassepferden von Burg zu Burg reiten, von Liebster zu Liebster, passiere den dunklen Wald, in dem einst Schloss Karlsberg stand. Ein noch prächtigeres Schloss, als Versailles. Das habe nur zwanzig Jahre existiert, hatte mir der Museumsaufseher erzählt. In Fußballfeldern ist die Größe der Anlage kaum zu beschreiben. Aber sie war einst wahr. Nun ächze ich zwischen verächtlich in die Vergangenheit blickenden Buchen dahin. Fotografiere die Jägerträume des kleinen Mannes – hatte ich erwähnt, dass ich seit einiger Zeit Hochsitzbilder sammele. Es ist erstaunlich, zu welch kreativer Phantasie der gemeine Jäger des 21ten Jahrhunderts fähig ist.