Vom Entstehen, Werden und Vergehen

Irgendwie breitet sich alles vor mir aus wie Brei. Gedanken und Dinge und alltägliche Abläufe mischen sich zu einer undefinierbaren, zähen Masse, die mein armes kleines Hirn zerdenken muss, verdauen muss, wenn man das so nennen möchte.

Auf der Terrasse sitzend, Blick zum Garten, schreibe ich diese Zeilen. Man hört: einen Flieger neun Kilometer hoch, ein paar sonntagmorgendliche Autos auf der Landstraße, das Geräusch von Gießkannen, wenn sie ohne Gießkannenrose über Brokoli und Rotkrautpflanzen ausgegossen werden, Zittern in den Pappeln vom Wind, eine Hornisse im Dachgebälk, viel lauter, als der Flieger und jede Menge Vogelzwitschern.
Nicht zu vergessen das Klappern der Tastatur.

Die Katzen liegen irgendwo in den Lilien oder im hohen Gras. Es ist angenehm warm. Jetzt schon um diese frühe Zeit.

Ich könnte stundenlang nur über die Geräusche auf dem einsamen Gehöft schreiben. Wenn man sich konzentriert – das ist ja nicht nur hier bei mir so und das geht hoffentlich nicht nur mir so – nimmt man plötzlich eine Unmenge ausgeblendeten Seins und einen-Umgebens wahr, das man in der Hektik des Alltags einfach ausblendet, ausblenden muss, um voranzukommen.

Wir leben in einer Gesellschaft, die Stillstand und Leere nicht zulässt, die Langsamkeit und Müsigang geradezu verdammt, die nur eine einzige „Prozessrichtung“ kennt: immer schneller, mehr, größer, besser, weiter. Wachstum auf Teufel komm‘ raus.

So als gäbe es die Natur gar nicht, die uns alltäglich vorlebt, wie das Leben wirklich funktioniert: geboren werden, wachsen, schrumpfen, enden. Oder sagen wir es allgemeiner: entstehen, werden, vergehen. Das ist ein interessantes Wertetripel, das eigentlich alle Prozesse auf diesem Planeten oder gar im Universum exakt abbildet. Egal, ob es sich um den Planeten selbst handelt, oder ein Lebewesen darauf, oder ein Gebirge, einen Fluss, einen Stein, einen Staat, eine Firma, einen Handwerksbetrieb … alles beginnt, wächst, degeneriert, vergeht.

Die Dinge kommen, die Dinge gehen.

Seit ich den Glauben an das ewige Wachstum und das immer besser, immer mehr, immer größer verloren habe, denke ich darüber nach, wie sich diese Formel vom Beginn, vom  Wachstum und vom Ende auf das eigene Kunstschaffen übertragen lässt (am Körper kann ich es ja prima beobachten, wie er nach fast einem halben Jahrhundert langsam dem Ende entgegen geht). Das muss sich auch auf das eigene Denken übertragen lassen und auf das Leben als Künstler, das bei mir ungefähr vor zwanzig Jahren begann. Es handelt sich dabei um einen ablaufenden Prozess wie jeder andere in diesem Universum. Mein Denk- und Künstlerprozess wurde irgendwann gestartet und nimmt nun seinen natürlichen Lauf. Idee um Idee reiht sich aneinander, baut aufeinander auf, wächst und wird sich irgendwann dekonstruieren. Ich meine dabei nicht das wirtschaftliche Wachsen, das sich in Geld ausdrücken ließe, sondern das eigentliche, geistige, denkerische Wachstum.

Wo stehe ich, was bringt die Zukunft, habe ich den Horizont längst überschritten? Die besten Kunstprojekte schon alle erledigt und alles was noch kommt, wird von Mal zu Mal ein Stückchen kleiner, ein bisschen weniger, bis es irgendwann ganz verschwindet.

Ich hatte natürlich auch meine ewige Wachstums-Allmachtsphantasien, dass von Projekt zu Projekt mein Kunstschaffen, mein Schreiben, mein Denken besser wird und es erst dann endet, wenn der Körper aussteigt, sprich, der normale menschliche Lebensprozess endet. Ich tot. 

Vielleicht ist dies nur eine kleine, naive Kunstbübchenrechnung, die ich da mache. Ich stütze mich ausschließlich auf meine Beobachtungen an der Welt und ich kann keine Elemente finden, die gegen meine These sprechen. Die vorliegende Formel muss für alle Prozesse auf der Erde gelten. Muss sie das? Unterliegt tatsächlich alles einem Kreislauf?

Ich weiß es nicht. Erstaunt war ich kürzlich, als ich einen Artikel über den Lebenszyklus von Staaten las, wie sie sich verändern, wie sie zyklisch von Tyranneien über Diktaturen und Oligarchien zu Demokratien werden wie sie ob ihrer Größe korrumpieren, umstürzen, tyrranisiert und diktiert werden, um in blutigen Revolutionen oder Kriegen neu aufzustehen. Plötzlich schien mir dieser Kreislauf so unheimlich plausibel.

Die Dynamik, die Menschenansammlungen und deren Organisation in Gruppen, Vereinen, Firmen, Staaten mit sich bringt, kann man ja am eigenen Leib erfahren, wenn man seinen kleinen heimischen Sportverein näher betrachtet: wie sich darin Untergruppierungen bilden, Hierarchiene, wie man sich gegenseitig begünstigt, wie Gelder und Werte verteilt werden. Das ist selten gerecht und selten gibt es ein kontinuierliches Einheitsgefühl. Diesen Ponyhof, auf dem alle glücklich und zufrieden miteinander leben, den gibt es nicht.
Der Verein im Wandel der Jahre. Wenn ich Deutschlehrer wäre, würde ich meine Zwölftklässler darüber nachdenken lassen und einen Aufsatz zum Thema schreiben lassen.

Ich schweife ab. Ich weiß ehrlichgesagt gar nicht, worauf ich mit diesem Beitrag hinaus wollte. Er ist einfach so gewachsen. Nun degeneriert er, bald ist er tot?

Es war wohl der Versuch, schreiberisch eine Leere zu schaffen, in der ich von Neuem wachsen kann. Denn das kommende Projekt #AnsKap hat jede Menge Leere nötig. Ein freies, unformatiertes Feld. Eine Geburt, ein Nichts, dessen Wände sich wie ein Ballon aufblasen lassen, wo ein Raum entsteht für Neues, Besseres, Ungedachtes, bis es mit lautem Knall wieder im Alles des gelebten Lebens verpufft.

Auch ein Reisekunstprojekt wie dieses gehorcht vielleicht den Gesetzen des Entstehens, Werdens und Vergehens.

Dieser Beitrag wurde mit den Bordmitteln, die mir unterwegs zur Verfügung stehen, geschrieben: Bluetooth-Tastatur und Smartphone. Man möge mir meine Tippfehler verzeihen.
In der Seitenleiste links habe ich einen Kartenlink eingefügt, der die Reiseroute von 1995 skizziert. Ihr werde ich ab morgen radelnd folgen.

Irgendwann zuletzt vor zwanzig Jahren

Der alte W., den ich nicht gut kannte, wohnte im letzten Haus rechts in der steilsten Straße des Dorfes, ganz hoch oben, so dass man es sich zwei Mal überlegte, ob man zum Spielen bei seinen Kindern vorbei schaute. Nur der Tennisplatz lag weiter oben, in einem alten Steinbruch. Auch wenn ich den alten W. seit über zwanzig Jahren nicht gesehen habe, bestürzte mich sein Tod. Auf dem Klo war er zusammengebrochen – zack, das Herz – seine Frau fand ihn morgens schon fast kalt. Am selben Tag, letzte Woche, starb auch H., den ich besser gekannt hatte, als den alten W. H. war noch kürzlich bei meinen Eltern zu Besuch nach einem langen Tag in der hiesigen Spezialklinik, den er wartend und bangend um sein Augenlicht in den altmodischen Fluren verbrachte. Ich hatte überlegt, mal rüber zu schauen und ihm und seiner Frau Hallo zu sagen, wie geht’s, was macht die neue Hornhaut, und ihm Mut zu machen, die schaffen das schon in der Klinik, die sind Spezialisten, aber der Abend war hektisch, ich hatte einen ach so wichtigen Termin. So kam es, dass ich H. an seinem zehntletzten Lebenstag nicht mehr getroffen hatte und erst per Telefon benachrichtigt wurde, dass der Tumor im Hirn, der ihn zusätzlich zu seinem lästigen Augenproblem zu weiteren Klinikbesuchen zwang, ihn zerfressen hatte. Das Kortison habe aus ihm einen Mann gemacht, den man kaum wieder erkannt habe, aufgeschwemmt, kaum fähig aufzustehen, zudem psychisch so am Ende, dass sein Gesicht kein Lächeln hatte. Da musste ich an den alten Sch. denken, den ich so gut wie nicht kannte, und der mir vor ein paar Jahren, nur wenige Wochen vor seinem Tod durch Hirntumor, sein altes Fotolabor geschenkt hatte, weil er sich frei machen wollte von jeglichem Besitz. Er verbrachte seinen letzten Tage im Bademantel, erinnerungsunfähig mit einer unvorstellbaren Kortisondosis und Morphium.
Der Winter 12/13 hat so viele gekostet, wie nie zuvor.
Eine Weile verbrachte ich letzte Woche damit, zu grübeln, wie schlimm das sein muss, zehn Tage vor dem Tod in einer Spezialklinik Lebenszeit auf den Fluren wartend zu verbringen und zu hoffen, dass man wieder sehen kann. Ich komme schließlich zu der Erkenntnis, dass der eigene Wille einem das Leben ganz schön schwer machen kann und dass man uns Menschen entweder bei der Eitelkeit packen kann, oder bei der Hoffnung, dass es sich zum Besseren wendet, dass am Ende alles gut wird. Ein Zehntel seines Restlebens verbrachte H. im Wartezimmer, bis Ärzte, Schwestern, Laborleute, ihren geheimen Tagesrhythmen gehrochend, ihn endlich durch den Klinikalltags-Loop schleusten. Ein Zehntel Restleben. Während der alte W., nichts ahnend, auf dem Klo, hochoben in der steilsten Straße des Dorfes, die unumstößliche Regel, Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal, zu widerlegen schien.
Die Kalkulation der eigenen kleinen Situation ergibt, dass ein Lebensjahr mittlerweile das Gewicht von einem Dreißigstel Restleben hat, also nun schon doppelt so viel wert ist, wie ein Jahr vor dreißig Jahren – so macht der eintrudelnde Lullifullifrühling kaum Spaß, obschon mich der Gedanke eine Nacht lang beschäftigt, dass irgendwann für jeden der Zeitpunkt ist, dass er einen anderen Menschen vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen haben wird und dass auch er selbst, aus vielen Perspektiven, zuletzt vor zwanzig Jahren jemandem begegnet sein wird – ich weiß, dieser letzte Satz ist holprig, und er macht auch vielleicht keinen Sinn, aber seine Lebenszeit damit zu verbringen, ihn zu denken, ist doch erhellender, als hoffend in einer Augenklinik zu warten.