Wie ich vor dem Lidl stand in Wörth und zwei Tage später in Wildbad – Wurmloch zur Hölle | #UmsLand BaWü

Hellblau blassrotes Schriftmotiv, trikolorisch geteilt von zwei schrägen Linien. Schrift "Unter den Heilpflanzen ist das Fahrrad eine der wirksamsten".

Die Jonglierbälle sind mittlerweile alle in der Luft. Ich bin allein im uralten Fahrradabteil des uralten Zugs mit den drei Stufen hoch hinaus. Das Radel schaukelt. Winden, Kandel, Wörth, runter auf den Bahnsteig, Fahrstuhl kaputt, zig Stufen abwärts in die Unterführung und drüben, Blog seis gelobt, der Aufzug funktioniert! Endlich im Sattel. Baden-Württemberg ist nicht mehr weit. Nur noch Agglomerationsgewusel, Beton, Monstermärkte, Brücken, das Geschrei von Schienen unter Radreifen, das Zischen von Autoreifen auf Teer und der Rhein. Wörth ist nicht charmant. Viel Industrie. Große böse Straße. Daneben der Radweg, der aber irgendwo die Straße kreuzt. Ich hasse das. Einkaufen. Ein Lidl.

Ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es in Lidlfilialen in der Eingangsschleuse Kaffeeautomaten gibt, die den „besten Kaffee der Welt“ ausschenken. „Und supergünstig,“ sagt Frau Laut zwei Tage später „und deine eigene Tasse kannst du auch mitbringen.“ Wir sind in Bad Wildbad an der Enz. Ein feines Kurstädtchen. Der Eingang des Lidlmarkts zeigt fast exakt nach Süden. Samstagsgeschäftige Welt. Sonne pur und unglaublich blauer Himmel, eiskalt zwar, aber die Sonne ist schon stark. Ich packe das Zelt aus, das noch voller Eis und Schnee ist von der letzten Nacht, schüttele den Schnee raus, hänge es am Ende der Einkaufswagengasse auf. Frau Laut ist im Laden, hat meine Tasse mit und wird uns ein kleines Frühstück on the Road zaubern. Mit dem weltbesten Kaffee, den es in der Eingangsschleuse zu Lidlmärkten für einen Euro zu kaufen gibt.

Ein wunderbarer Tag. Es dürfte gegen Mittag gehen. Wir haben noch gut 20 Kilometer bis Pforzheim. Geschäftiges Hin- und Her unterschiedlichster Menschen. Eine Frau mit dreirädrigem Elektroroller. Wir plaudern ein bisschen über dies und das, über die heilsame Kraft des mit geringen Mitteln mobil seins. Die Frau hatte vor nicht allzu langer Zeit auch noch ein Fahrrad, tourte im Alltag, aber nun, die Knie, die Hüfte, das Alter und der kleine Elektroroller sei ein Segen. Ein schönes Gespräch, das unser aller Herzen wärmt. Sonne tut ihr Übriges.

Wir fragen rum, welches der beste Radweg Richtung Pforzheim sei. Die Karte verzeichnet nämlich mehrere Möglichkeiten, eine Radroute links der Enz, eine rechts der Enz und verstricken uns in ein Gespräch mit einem freundlichen Mann. Noch. Freundlich. Das Übliche da lang soundso, dort lang soundso und da ist Waldweg, dort Teer. Der Typ kennt sich aus und scheint uns und Radelnden allgemein geneigt, jaja und das Wetter, ein Segen, tut sooo gut, da sind wir uns einig. Ein Smalltalk-Schnipsel gibt den nächsten und wenn wir rechts der Enz fahren, so sollten wir spätestens in Höfen nach link der Enz wechseln über Schiene, Straße und Fluss.

Das Gespräch ist so sonnig und blauhimmlig wie die Samstagswelt. Der Kaffee getrunken und eigentlich müsste man nur noch Tschüss sagen und wir wären im Frieden und mit guten Gefühlen auseinander gegangen. Genau so wie wir mit unserer Elektrodreiradfreundin auseinander gingen.

Hätten wir nur nicht erwähnt, dass wir zu Gedenkfahrt von Natenom unterwegs sind. Dass Andreas ein Freund war, dass er bei einem Unfall getötet wurde, dass es sich jährt, dass wir alle zusammen kommen zum Gedenken, sagen wir und der Typ antwortet: „Jaja, ich weiß. Der war selber schuld“.

ZACK!

Erst etliche Minuten später spüre ich, was passiert ist. Das war ein eiskalter, gemeiner, mindestens unsensibler, wenn nicht sogar niederträchtiger Schlag in die Magengrube. Ich kenne das Gefühl. Wohl jeder Reisende,  jede Reisende kennt es. Dissonante Begegnungen, die unterschwellig unangenehme Gefühle auslösen, die sich erst Minuten oder Stunden später in einem ausweiten und Macht gewinnen und es gibt keine Möglichkeit, das einfach so zu den Akten zu legen. Und was hätten wir auch tun können? Zum Pöbeln und Beleidigen waren wir erstens nicht impulsiv genug und zweitens viel zu freundlich und besonnen. Der Typ verschwindet im Gewusel des Parkplatzes und wir schleppen den Boxhieb in die Magengrube nun Kilometer weit mit. Trotz aller Ablenkung und allem Schönen, das das Reisen per Fahrrad bietet, kann es zig Kilometer dauern, bis man die Demütigung, die Unsensibilität, die Gemeinheit mit sich selbst geklärt hat. Oft ist man ja alleine unterwegs. Was dann bleibt, ist der Zeit zur Dauer verhelfen. Heilung kommt. Irgendwann.

Darüber reden, wenn man zu zweit ist, hilft. Darüber bloggen – auch eine Woche später, so wie jetzt – hilft. Zu wissen, dass so etwas mit den unberechenbaren Unsensiblen oder gar Bösen, die da draußen herum laufen, immer wieder passiert und es zu akzeptieren, hilft.

„Warum konnte er nicht einfach nichts sagen?“ frage ich Frau Laut „, ich meine, stell Dir vor, jemand sagt, er gedenkt eines Freundes, einer Freundin, die tragisch ums Leben kam, sagst du dem dann einfach so ins Gesicht, der war selber schuld? Oder irgend etwas anderes als, mein Beileid? Hm? Vielleicht tun ihm seine Worte ja jetzt leid, Frau Laut?“

„Nein.“

Schweigend radeln wir und das nächste Gute, an das ich mich erinnere, ist ein schattiger, eiskalter Wald, in dem hunderte von Ästen herumliegen, auf denen sich Haareis gebildet hat.


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Ums Land Bawü – Prolog

Underfootaufnahme eines bepackten Reiserads, das offenbar auf einem Deich steht. Blauer Himmel mit seichten Kondensstreifen und Gegenlicht über Grasbewuchs. Im Hintergrund lugt links des Rads ein kahler Laubbaum.

Der Baum

30. Januar 2025. Der Wecker steht auf 7:30. Kurz zuvor bin ich wach, schalte ihn aus, drehe mich noch einmal um. Die Künstlerbude mit ihrem rudimentären Holzofen ist nicht gerade förderlich, früh aufzustehen. Jenseits des Betts herrschen meist nur 5 Grad Celsius. Oder, wie ich es scherzhaft gerne sage: Brrr Grad Celsius. „Tage zum R-rollen üben“, nennt dies die Frau Hauptstadtethnologin. Im Halbwach erscheint „der Baum“. Verschiedene Zukunftszweige: Nehme ich den geplanten ersten Zug nach neun Uhr (ab neun ist Radmitnahme in RLP und Bawü kostenlos), oder nehme ich den Zug eine Stunde später?

Kürzlich fand ich ein recht faszinierendes Meme im Internet, das den Lebensbaum zeigt mit all den Entscheidungen, die man schon getroffen hat und die einen von Ast zu Ast, von Zweig zu Zweig dahin führten, wo man sich gerade befindet. Das Meme räumt auf mit der Annahme, dort wo man gerade steht, sei der Endpunkt. In einer zweiten Grafik wird auf den aktuellen Standpunkt gezoomt und es zeigen sich Abzweigungen und Wege für die Zukunft und das sieht sehr kongruent aus zu den Vergangenheitsverzweigungen. Ein positives Bild, das mir Mut machte, denn hin und wieder beschleicht mich das Gefühl, mit meinen vielen Jahrzehnten auf dem Buckel bin ich abgehalftert, bereit zur Ausmusterung, zu nichts mehr zu gebrauchen und überhaupt, welche Chancen hab ich noch … die Zukunft gehört der Jugend. Den Nassforschen, denen, die sie sich nehmen. Nur nicht mir. Und so geht das manchmal. Ich drehe mich noch einmal um. Das Bett ist schön warm, vergesse den Wecker, erwache gegen acht auf natürlichem Wege und da isser, der Zukunftsbaum: Abzweig eins: Zug um 9:48  wie geplant oder 10:48 oder noch später oder gar nicht? Die Möglichkeiten sind schier unendlich.

Naja, vier Möglichkeiten erst einmal: 9:48, 10:48, per Rad los oder gar nicht.

In der Tat gaukeln diese Zukunftszweige allesamt gleichwertig, während ich den ersten Kaffee trinke. Das Radel steht gepackt, die Wasserleitung noch abstellen und leeren, sonst friert sie ein während ich weg bin – sehen wir da eine feine Tendenz in Richtung Aufbruch? Zack minus ein Möglichkeitsast, nämlich die Möglichkeit gar nicht erst aufzubrechen.

… und dann geht alles ganz schnell.

Nur mit einem Kaffee im Bauch stehe ich drei Minuten vor Abfahrt am Bahnhof. Der Zug hat Verspätung. Der Möglichkeitsbaum entfaltet neue Möglichkeiten. Ich hab den „frühen“ noch geschafft, ich Held, aber werde ich wegen der Verspätung in Pirmasens-Nord (scherzhaft nenne ich es auch Pirmasens-Fnord), hängen bleiben? Was dann bedeuten würde, eine Stunde warten, frieren, nicht schön da oder ab dort schon radeln (wieder eine Verzweigung)?

Der Anschluss klappt. Und wie die Bimmelbahn so dahin gondelt Richtung Pfälzer Wald, tun sich abermals ungeahnte Möglichkeitszweige auf. Ich muss nicht, wie geplant, in Hinterweidenthal raus, über die Radwege runter Richtung Frankreich und rüber zum Rhein. Der Zug ist schön leer. Ich kann bis Annweiler mitfahren oder bis Landau. Die Strecke Richtung Frankreich kenne ich ohnehin zur Nöche von den vielen Mit-dem-Rad-zur-Liebsten (mdRzL) Touren.

Zack Landau. Am Gleis gegenüber fährt bald der Zug Richtung Karlsruhe. Bloggesurteil: Wenn es nicht zu voll wird und ich mit dem Radel gut reinkomme, dann nehme ich auch den. Längst bin ich auf einem ungeahnten Lebenszukunftszweig, den ich mir am frühen Morgen nie hätte träumen lassen. Der Karlsruher Zug ist nicht barrierefrei. Das Radel muss einen guten halben Meter über drei Stufen hoch gewuchtet werden. Eine junge Frau, die das Problem kennt, hilft mir beim Hochschieben.

Und nun? Wingen, Kandel, Wörth und Karlsruhe stehen zur Auswahl. So will es die Deutsche Bahn. Ich entscheide mich für Wörth am Rhein. Das ist noch in Rheinland-Pfalz. Ein stabiler Zukunftsast manifestiert sich. Ich werde auf dem Eurovelo Rhein aufwärts radeln, mich über die Brücke bei Beinheim (so zumindest war es geplant, es kam anders) nach Rastatt hinüber schaffen und so lange wie es die Kräfte zulassen das Murgtal aufwärts radeln.

Hab ich ein Ziel? Ja. Pforzheim. Wie wollte ich da hin kommen? Per Zug nach Hinterweidenthal, per Rad ins Murgtal, am nächsten Tag nach Freundenstadt, Frau Laut (aka Radeltante) treffen. Gemeinsam durch den Nordschwarzwald zur Enzquelle radeln und das Enztal abwärts bis Pforzheim, wo sonntags eine große Fahrraddemo und Gedenkfahrt anlässlich des Jahrestags des Todes des Radlers und Kämpfers für Gleichberechtigung im Straßenverkehr, Andreas Mandalka stattfinden wird.

Bin ich auf Kurs? Definitiv ja. Liegen Abzweige vor mir? Immer. Ist das gut oder schlecht? Ja …

Wo stehen wir gerade? In Wörth und die Reise wird im nächsten Blogartikel fortgesetzt.

Ich habe viel Zeit. Das Projekt Bawü hat gerade erst begonnen und es wird so lange dauern wie es dauert.

Hier gehts zur Projektskizze in der Umap, die stetig erweitert wird. Hinweise auf Punkte von Interesse in „The Länd“ sind sehr willkommen.


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