Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier

Landkartenausschnitt in blassen bläulichen Farben. Finnland, Norwegen und Schweden. Von Helsinki folgt eine blaue Linie der Ostseeküste und führt schließlich bis zum Nordkap. Einige rote und blaue Stecknadelpunkte befinden sich am Verlauf der Linie

Privatartikel oder nicht Privatartikel? Ich sitze zwischen den Stühlen. Im Regelbetrieb, daheim, in der Künstlerbude, den Holzofen wärmend im Rücken, hacke ich seit einem Monat wilde, unkorrigierte Artikel, damit ich mich wieder ans tägliche Schreiben gewöhne. Ich bin schnell, die Texte sind voller Vertipper und unförmiger Formulierungen, stelle sie auf „privat“, was ganz praktisch ist in einem WordPress-Blog. Ich kann ja nicht jeden Tippfehler auf die da draußen, auf Dich, Dich und Dich loslassen. Zudem unkoordiniertes Textwerk mit springenden Gedanken von diesem zum jenem, denen jegliche Regie abhanden gekommen ist.

Ich muss schon sagen, so eine Reise ist die beste Regie für Gedanken, für das Aufschnüren von Erlebtem und Gedachtem auf eine imaginäre Perlenkette, die es gibt. Es ist die Magie des zurückgelegten Wegs, die die Geschichte wie von selbst formt. Wie ein Geländer, das dem Ängstlichen Halt gibt, um eine Treppe hinab zu steigen.

Ich habe meine Projektkarte für das Vorhaben, ans Nordkap zu radeln mittlerweile vollständig überarbeitet. Der ursprünglich angelegte Plan, von zu Hause durch Deutschland, Dänemark und Schweden bis nach Norwegen zu radeln ist passée. Man findet ihn noch in nicht eingeblendeten Kartenebenen – falls also jemand mal eine Strecke von der Pfalz bis ans Nordkap benötigt, voilà.

Unterwegs an den elsässischen Kanälen grübelnd wurde mir bewusst, wie mächtig die Möglichkeit ist, die Reise vorzeitig aufzugeben, wenn ich daheim starte. Ich schätze, dass ich es nicht einmal bis Hamburg schaffen würde. Ich vermute – ich kenne mich ja – dass ich spätestens in Bad Karlshafen das Projekt umwidmen würde in ein #UmsLand/Hessen. Fluchtgeschwindigkeit nicht erreicht, Rücksturz zur Erde rings um den Vogelsberg.

Wenn ich es wirklich noch einmal schaffen möchte, ans Nordkap zu radeln, muss ich schnell so viel Strecke zwischen mich und daheim bringen wie möglich. Mich gewaltsam hinaus katapultieren. Das ist zwar anstrengend, aber vermutlich der einzige Weg. Ich erinnerte mich an die Reise von Fediversefreundin Bahnhofsoma im vergangenen Jahr: Gibt es da nicht eine Fähre von Deutschland nach Finnland? Und eine Zugverbindung von der Pfalz an die Ostsee? Gibt es. Schnell war die Verbindung gefunden: per Bahn via Mannheim und Hamburg nach Travemünde und mit der Fähre, die um zwei Uhr nachts ablegt die restlichen etwa 1200 Kilometer bis Helsinki erschaukeln.

Zack, drin. Wie geboren werden, nur noch brutaler mit all dem Gepäck am Bein und den Unannehmlichkeiten, die das eingepferchte Reisen insbesondere mit der Bahn so mit sich bringt. Für etwa 300 Euro kann ich es innerhalb von 48 Stunden von daheim bis Helsinki schaffen.

Es dauerte ein paar Tage, bis mir der Plan unausweichlich schien, ich die Kartenebenen des Norwegenplans durch die des Finnlandplans ersetzte. Seit gestern geht es rund mit der Planung, habe ich die Strecke, meist auf Eurovelo-Routen bis zum Nordkap grob skizziert, forsche ich mit dem Mauszeiger auf der Landkarte nach Sehenswertem und Einkaufs- und Zeltmöglichkeiten. Ich nutze für die Planung sowohl meine Umap, in die ich die Punkte eintrage, als auch Googles Map und Satellitenbilder und die Streetview. Es ist erstaunlich wie dreidimensional die Erforschung auf der Landkarte ist. Als ich eben das Museum „Fanjunkars – the House of Aleksis Kivi“ in meine Karte eintrage wird ein weiterer Aspekt des Reisens bewusst. Ich bin längst unterwegs. Die Grenze des Unterwegsseins zum Nichtunterwegssein verschwimmt. Ich könnte sozusagen auch zu Hause bleiben und ein reines Sofaforschungsprojekt gestalten. Ohne Stechmücken, Salz im Haar und Schärengartenschwitzerei. Schon bemühe ich Wikipedia, wer denn dieser Alexis Kivi überhaupt war, schon schaue ich mir die Bilder aus dem Museum an, schon sehe ich das Schlafzimmer des Mannes, der einst den ersten nennenswerten Roman in finnischer Sprache geschrieben hat, schon beneide ich das Archiv und stelle mir vor, wenn es einmal ein Irgendlink Museum geben sollte, dann wünsche ich mir auch für mein Bett eine Absperrung aus rotweißem Flatterband, damit die Museumsgäste sich nicht respektlos hinein legen.

Ich schmunzele, setze in meiner Umap den Punkt für die Sehenswürdigkeit „Alexis Kivi-Museum“ und weil man den Punkten jewede Information in Text und Links mitgeben kann, schreibe ich ins Textfeld den Link zum Wikipediaartikel und ein paar Zeilen – erwähne die Sache mit dem Flatterband, achwas, plötzlich merke ich, dass ich ins Plaudern gerate und dass das Textfeld dieses Markers ein ganzer Blogartikel werden könnte, den ich dem Datensatz mitgeben könnte. Welch Macht in diesem simplen Mapping-Tool steckt und wie kreativ man es künstlerisch und literarisch einsetzen kann! Das ist Appspressionismus at it’s best. Vermengung von Karten, Bildern, Informationen jedweder Art, Datenbankeinträgen mit Geokoordinaten und eigenen und fremden Texten und eigenen und fremden Bildern und Routen – welch ein Reichtum! Irgendwann denke ich mir mal ein kollaboratives Umap-Projekt aus, denn das ließe sich ja auch gar prima realisieren. Wir stehen gerade mal am Anfang dieser jungen Schöpfung.

Es gibt schon einige zarte Umsetzungen der Umap-Kunst. Vermutlich sind Zweibrücken-Andorra und UmsLand Bayern die am besten ausgearbeiteten. Ich muss mal eine Liste anlegen. Viele meiner Umap-Projekte sind unvollständig, zudem auf zwei verschiedene Umapserver verteilt.

Aber aber, Herr Irgendlink, muss doch vorwärts gehen. Manchmal denke ich an den längst verstorbenen Autor Michael Holzach (Deutschland umsonst), der so voller Lebensdrang war, dass er sagte, schreiben könne er immer noch, er müsse erst einmal erleben. Jaja. Hatte er recht. Erleben geht vor Schreiben wie Schere vor Papier.

Ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Dass ich mir nicht sicher bin, ob ich diesen Artikel ins Unveröffentlichte oder ins Veröffentlichte einsortieren soll.

Der Tag ist noch jung. Die Karte wächst.

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In meinem Onlineshop gibt es jede Menge Kunstwerke zu kaufen. Meist sind sie unterwegs auf der Straße ins Netz gegangen. Oft „appte“ ich sie schon während der Reise.

Neue Schnelligkeit

Eine Astknolle, eine Bildidee, bissel schleifen, Potchkleber aufbringen, Papier abrubbeln et voilà le Kunstwerk.

Schon während des Waldspaziergangs war mir klar, dass genau dieses Bild, das ich um Weihnachten geappt hatte, auf die Fläche transferiert werden soll.

Frauengesicht in Grungetechnik auf abgesägter Astknolle. Frontaler, düsterer Blick graublau auf Sägespuren und Verletzungen des ovalen Holzstücks.
Frauengesicht in Grungetechnik auf abgesägter Astknolle.

Das Ganze verdanke ich meiner ’neuen Schnelligkeit‘. Die Ideen nicht im Kopf verfaulen lassen, weil man auf Idealbedingungen wartet, sondern einfach machen.

Multiple App Games

Die Kombination verschiedener Bildbearbeitungsapps ermöglichte die folgenden Bilder. In „Multiple App Loops“ entstehen spielerisch kleine Kunstwerke. Ähnlich wie bei modernen Webseiten, die Design und Inhalt strikt trennen, wird bei diesen appspressionistischen Kreationen Design und Sinn getrennt. Dies hat den Vorteil, dass sich der Künstler spielerisch frei um die Gestaltung kümmern kann, während in einem zweiten Arbeitsschritt, meist durch die Rezipienten, der Sinn, der hinter dem Werk steckt, geliefert wird. Zum Einsatz kamen ProCamera, TinyPlanet, Diptic, PhotoWizzard, DynamicLight, Polamatic, sowie der erweiterte Icon-Zeichensatz des Smartphones.

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Warum kommt der Sinn erst nach der Erschaffung des Kunstwerks? Vermutlich ist dies eine, wenn nicht die Kernfrage schlechthin des Appspressionismus. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Wir leben in einer zunehmend unmateriellen Gesellschaft. Wir überfluten einander mit einem kaum überschaubaren Strom aus geistigen Produkten, Schöpfungen aus den Tiefen unseres Seins, das wir doch selbst nur so schwer verstehen. Wir sind ständig auf der Suche nach Sinn. Nach Lebenssinn im Großen, wie auch nach dem Sinn, der hinter einer Sache steht. Und wenn wir ihn nicht finden, fabrizieren wir ihn kurzerhand. Die Produktion von Sinn geht Hand in Hand mit der Produktion von Sinnlosem. Sobald irgendwo in der Welt ein Sinnvakuum entsteht, füllen wir es, indem wir unseren eigenen Sinn kreieren. Es entstehen Parallelsinne. Sinniversen, einander widersprechende Sinne. Und nur wer ganz mutig ist und die Leere ertragen kann, verzichtet auf Sinn.