Mehr Diziblin, Muschi #ibcoco

Wo fange ich an, wenn ich längst angefangen habe, aber alles was angefangen wurde und im Gange ist, so unsichtbar ist, dass man nicht sieht, dass es begonnen hat?

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Mitten im Leben sammelt sich der Fluß zu einem See, der, von außen betrachtet, ruhig, liegend, nimmer fortbeweglich wirkt. Nur der Fachmann für Seen, die Flüsse unterbrechen, vermag vielleicht zu erkennen, dass der See nur eine beschauliche Schönwetterwarmwasseransammlung suggeriert, unter deren Oberfläche kalt der Fluss in Wirbeln und Strudeln abtaucht, in unerreichbarer Tiefe bei hohem Druck seinen Weg sucht bis zum Ende des Sees, wo er gewärmt aber ungezähmt austritt und seine Reise fortsetzt.

So komme ich mir gerade vor. Sammeln neuer Kräfte, mich mischend mit all dem Vielen. Abtauchen, taktieren, mich durchschlängeln, die Luft anhalten und schließlich da weiter zu machen, wo ich vor dem großen Schwurbelwirbelchaos aufgehört habe.

Ein Buch ist entstanden, das ich eigentlich schon vor zwanzig Jahren hätte schreiben wollen. In fünfzig Tagen, die ich von Zweibrücken nach Gibraltar radelte, habe ich live, täglich zum Mitlesen meinen Roman ‚Europenner‘ geschrieben. Wenn ich ihn vor zwanzig Jahren geschrieben hätte, wäre es ein vollkommen anderes Buch als es jetzt ist und die Versionen vor fünfzehn, zehn oder zwei Jahren wären auch völlig andere Versionen. Mal wäre es eine Liebesgeschichte geworden, mal ein Reisebuch à la Jack Kerouac, mal ein komplizierter Roman, der vom Tunnelbau handelt – und ehrlich, es gibt all diese Entwürfe noch. Sagen wir einmal, das waren verschwurbelte Kaltwasser-Warmwasserbeimischungen, die sich im Laufe von zwei Dekaden in einem tiefen, langen, breiten See ereigneten und die alle zur Oberfläche hätten steigen können, wenn es die Strudel nur zugelassen hätten.

Nun aber ist ‚Europenner‘ ein einfaches, emotionales Livereiseblog mit vielen tausenden Bildern geworden, Schnappschuss eines Künstlerlebens zwischen Zweibrücken und dem Süden Spaniens.

Ich bin zufrieden. Ich glaube, mit diesem Satz endet das Buch. Und das stimmt.

Die letzten Tage waren anstrengend. Parallel zur Einrichtung eines neuen PCs habe ich mit Arbeiten auf dem einsamen Gehöft begonnen, mit Gartenarbeit – eine ziemlich schlammige Arbeit. Ich kann eigentlich nur mit Gummistiefeln in den Garten, sinke ein bis zum Knöchel. Jede Pflanze, die ich aus den Pflanzgefäßen in den Sumpf versenke, tut mir ein bisschen Leid. Überall quatscht Wasser und auch heute regnete es fast den ganzen Tag. Das Gehöft ist von Gewittern umlauert, wurde aber bisher von Katastrophen, über die man in den Nachrichten allabendlich hört, verschont.

Was ich feststelle: ich komme wieder in eine Position, in der ich arbeiten kann. Nach all dem Aufräumen dieser Tage. Sei es nur, dass ich die Werkstatt in einen derart ordnungsgemäßen Zustand versetzt habe, in dem ich auch einen Vierzehner-Schlüssel finden kann, um den Rasenmäher zu reparieren, oder eben, die Daten alle auf einem neuen PC vereint habe, den Server repariert habe, auf dem dieses Blog läuft und nun, theoretisch, einfach nur ein Browserfenster öffnen muss, um einen Blogeintrag schreiben zu können. Die Maschine läuft rund.

Ich bin wieder da.

Da kommt mir die Einladung von Freund Hagen gerade recht, machste mit bei Ironblogger, fragte er kürzlich per Twitter.

Hä, wassen das?

Schnell mal Suchmaschine. Sie spuckt 110000 Ergebnisse aus, 250 davon sind relevant. Noch während ich mich durch die Ergebnisseiten scrolle, frage ich mich, hat je ein Mensch alle Suchseiten bei Google durchforstet und falls ja, wie lautet der allerletzte Eintrag? The Omega-Google-Rank sozusagen (feat. das ist ein Beitrag für Twitter (das müssen Sie nicht verstehen)) …

… zurück zum Thema Ironbloggerei. Bei Hagen geht es es irgendwie auch um IT und das CMS Joomla und die Geschichte, wie es zum Joomla-Ironblogger kam ist abenteuerlich mit Alles, Grenzkontrollen, Schikane usw. (englischer Text).

Die Ironbloggerei gibt es aber in verschiedenen Derivaten schon länger.

Frühe relevante Spuren für die Ironbloggerei führen z. B. ins Jahr 2011/2013. Es handelt sich um eine Art Initiative, verwaiste Blogs wiederzubeleben. Die Teilnehmenden bei einer Ironbloggerei verpflichten sich, einen Eintrag pro Woche zu schreiben und wenn sie dies nicht tun, müssen sie einen kleinen Betrag in eine gemeinsame Kasse löhnen. Die Bußgelder werden nach einer Weile von den Teilnehmenden entweder gemeinsam verzecht – die Initiativen sind oft regional und es gibt sie in allen größeren Städten – oder im Fall der #ibcoco, der ironblogger.cocoate.com, werden wir uns zu einer virtuellen Konferenz treffen und gemeinsam beraten, wohin das Geld fließt. Ein Wohltätigkeitsprojekt zum Beispiel.

Unsere Bedingungen sind moderat: Wenn man nicht bloggt, fließen fünf Euro in die Kasse. Gedeckelt wird das Ganze bei dreißig Euro. Das ist glaube ich in vielen Ironblogs so üblich, damit sich niemand verschuldet.

Kalt bin ich und strebsam. Der See kommt mir ebenso recht wie er mir in die Quere kommt. Er bremst mich. Er verwirrt mich. Er macht mich meine Identität verlieren für eine Weile. Wie lange brauche ich, um ihn zu durchqueren und wie sehr wird er mich verändern? Werde ich noch ich sein, wenn ich am Ende – es gibt doch hoffentlich ein Ende, ich darf doch weiter fließen? – wenn ich am Ende des Stehgewässers wieder austrete …

… ich habe es doch tatsächlich geschafft, aus zwei alten Computern und drei Festplatten und etlichen USB Sticks einen nigelnagelneuen Computer einzurichten, der mein gesamtes digitales Dasein seit 2001 birgt. Fast zwei Wochen habe ich Daten aufgeräumt, Fotos kopiert, eine neue Verzeichnisstruktur aufgebaut und das System unter Linux dennoch so schlank gehalten (danke, fslint, dankeee), dass es kein halbes Terrabyte umfasst. Dabei sind mir die alten Blogtexte aus den Urjahren des Irgendlink/Europenner-Schreibimperiums unter die Finger gekommen.

Ich lese normalerweise keine eigenen Texte. Nach zweimal Korrekturlesen ist Schluss.

Deshalb war es fast so, als hätte ich ein fremdes altes Blogbuch aufgeschlagen. Von Brotjobs, Reisen, Alltagsleid und Alltagsfreud lese ich und finde so einige Schmankerl, die sich gut auf Twitter machen würden. Faszinierend, dass dieses Twitter, mein derzeitiges Lieblingssozialesmedium, erst einige Jahre nach meinem Eintritt in die digitale Schreibwelt entstanden ist.

Ich ufere aus.

Lasst mich schließen nun. Es ist halb drei nachts. Ein Blogeintrag aus dem Jahr 2005 gibt diesem Artikel seinen kruden Titel – mit der Bahn fuhr ich durch die Südpfalz in einem verranzten Fahrradabteil in einem uralten klappernden Bahnwagen, an dessen Wand jemand mit Edding den Spruch ‚Eine Muschi mit Diziblin‘ geschrieben hatte.

Ha, Diziblin. Ha, Muschi.

English for the #ibcoco bloggers: It’s impossible to translate this article and even if you try to autotranslate it you will not get a human readable information.

I’m new in ironblogging. And I did not have any contact to Joomla. But I’ll install it on a local server to make my experiences with it. Maybee i’ll write about my experiences. But there are else things to think – and write about.

I guess it’s not only about Joomla, your iron blogging projekt, is it?

Me: Artist, Germany, traveler, photographer, literarian, blogger. Living in the outscirts of a small town near the french border.

Ironblogger auf cocoate.com:

http://daydah.com/about-us/our-blog.html | http://twitter.com/daydah

https://davidaswani.wordpress.com/ | http://twitter.com/susumunyu

http://christinegraf.co.uk/ | http://twitter.com/christinegraf

http://hagen.cocoate.com/ | http://twitter.com/hagengraf

 

 

Das demütige Leben eines Klammermanns am Rande des grauen Bands, das niemals endet

Ich erinnere mich nicht mehr so recht, wie das war mit den Klammermännern oder wie Frau SoSo sie nannte, es war hochphilosophisch, wir standen verabschiedend am Bahnhof in Laufenburg, mein Gefühl sagt mir, dass der Moment eine große Sache der Erkenntnis war – für mich, und wahrscheinlich auch für Frau SoSo.

Abschiede sind nicht schön. Sie tun weh. Wir warteten auf den Zug. Ich um einzusteigen und Frau SoSo um zu winken, was sie dann auch tat. Die Klammermänner waren in ihren orangenen Klamotten am Straßenrand auf der gesamten zwanzig dreißig Kilometer langen Strecke von Frau SoSos Haus bis zum Bahnhof am Hochrhein emsig tätig, Fast war ich versucht, ihnen aus dem Autofenster zu winken. Mit dreiviertelmeter langen Klammern sammelten sie Müll und packten ihn in große Tüten. Könnte mir gut vorstellen, so eine Arbeit zu tun, sagte ich zu Frau SoSo. Es hat sowas Erfüllendes, die Welt schöner zu machen. Man muss sich nur bücken. Dinge aufheben, die andere weggeworfen haben, sie in Säcke packen und am Feierabend, was muss das für ein Gefühl sein, den vollen Sack auf einen Kleinlaster zu werfen, zurückzublicken, sich daran zu erfreuen, dass die paarhundert Meter, die man abgelaufen hat, nun für eine Weile so sind, wie sie von der Natur vorgesehen sind. Das demütige Leben eines Klammermanns am Rande des grauen Bands, das niemals endet, würde ich gerne führen. Ich hätte so gerne meine Ruhe vor den höllischen Kunsthirngespinsten, die mir den Alltag zurümpeln, all den Träumen vom ‚wann kann ich von meiner kreativ korrupten Künstlerarbeit leben‘, so stieg ich in den Zug, Frau SoSo winkte tatsächlich mit Taschentuch, und fünf Stunden später spuckte der Zug mich in der Heimat wieder aus.

Zwei Pakete warteten und ein total versumpfter Garten. Die Unwetter hatten das einsame Gehöft zwar verschont, aber das Grundwasser hier auf 340 Metern Höhe steht so hoch wie seit langem nicht. Es sickert ins Mauerwerk. Vereinzelt sind die Pflastersteine des Atelierbodens voller Wasser und im Garten kämpfen die Kartoffeln tapfer gegen die Fäule. Wenn man sich hinein wagt in den Garten, steht man bis zum Knöchel im Schlamm. Ein Ausnahmejahr, zweifelsohne. Da kamen die beiden Pakete gerade recht. Paket eins enthielt eine erste Tranche von Gibrantiago-Postern, ruckzuck signierte ich sie auf einem eigens dafür eingeplanten Feld. Kunstwerke signieren ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.

Das zweite Paket enthielt den Computer, auf dem ich diese Zeilen schreibe. Seit 2008 mein erster neuer Computer. Ich hatte lange überlegt, ob ich mir das Ding leisten will – immerhin fast zwei Kunstbübchenmonatslöhne gehen dafür drauf.  Die Arbeit auf den alten Gurken war jedoch wegen zu geringer Speicherkapazität zunehmend schwierig … fast eine Woche habe ich gebraucht, um aus zwei alten Rechnern, drei externen Festplatten und etlichen USB-Sticks das neue Schwert zu schmieden. Gerade eben habe ich die Arbeiten abgeschlossen und verfüge über ein passabel schnelles System und – ich glaube – über alle Daten seit meinem Eintritt ins digitale Leben im Jahr 2001.

Puuuh.

Nun kommen mir die Klammermänner wieder in den Sinn. Ich gehe davon aus, dass sie ihre Arbeit hassen, wie jeder normale Mensch, der in die Menschenmühle geknechtet wird. Es ist dabei fast egal, welcher Tätigkeit wir nachgehen, Das Geheimnis der Arbeit und wie werde ich damit glücklich. Als Klammermann hätte ich sicher ein tolles Leben, stelle ich mir vor. Die Künstlerei und Literarerei ist aber auch okay, auch wenn sie mir manchmal ziemlich schwer fällt. Es ist ja nicht so, dass monatlich exakt X Euro auf meinem Konto landen. Wenn ich Klammermann wäre, wäre dem so, Deshalb beneide ich den Klammermann wie er tagein tagaus in so einer Art Natur herum spaziert und den Dreck wegräumt, den andere arglos aus dem Autofenster werfen. Ich beneide auch den Vorstandsvorsitzenden, der im Akkord Aufgaben delegiert und den Amtsmann, der aus Langeweile auf seinem Bürocomputer die Windows-Spiele fleddert – ein Glück, wenn die Systemadministration vergessen hat, den Computer für diverse Internetdienste zu sperren  – ich weiß, wovon ich rede, ich war mal so ein Amtsmann … das große Problem, das wir Künstler haben, ist diese ungemein große andere Welt im eigenen Kopf, die sich partout nicht abschalten lässt (Betonung auf nicht abschalten lassen!) und dann gehen wir dieser oder jener Tätigkeit nach, um irgendwie einen Lebensunterhalt beizuschaffen, aber im Hinterstübchen rattert unaufhörlich die Gedankenmühle an anderen, phantastischen Projekten, die so unglaublich unverkaufbar sind, aber dennoch nicht locker lassen, kurzum, der Moment, an dem man sich eine Teillobotomie wünscht, die einen in den Zustand versetzt, als Vorstandsvorsitzender, Klammermann oder Amtsmann zu leben oder als Dachdecker, IT-Fuzzie, Onlineredaktiosmitglied, egal, als Irgendwas, bloß keine dieser elenden Ideen im Kopf, ach, was wäre das herrlich.

Die beste Zeit meines Lebens habe ich als Tacker in einer Loungemöbelfabrik verbracht. Der Arbeitsvertrag enthielt ungefähr die Bedingungen ‚für immer und für nichts‘, Kurzum, die Stelle war miserabel bezahlt, aber dank freier Zeiteinteilung und, nunja, Hände, die Möbel bauen brauchen ja kein Hirn, war das ein cooler Job – am Monatsende verzeichnete das Konto exakt X Euro Plus. Schlafen bis in die Puppen, zur Arbeit radeln, Möbel bauen bis der Auftrag erfüllt ist, nebenbei denken was man will, war echt toll. Die Firma ging bankrott und ich landete auf einem Provinzkulturamt, wo ich lernte Minesweeper zu spielen, um die Zeit totzuschlagen. Zum Glück erkrankte ich und wurde entlassen.

Ich schweife ab.

Nun sitze ich vor der frisch renovierten Festplatte, die mein gesamtes Datenleben enthält. Alle Fotos, alle Texte, alle Ideen, die Roadmap eines fast zu Ende gelebten Lebens liegt vor mir. Ich muss nur noch der Spur folgen. ‚Keine Arbeit, kein Geld, keine Ahnung wie es weitergehen soll‘, um es mal mit Otto zu sagen. Aber immerhin ein Fundament für das zehntausendstöckige Hochhaus des Scheiterns. Ich bin zufrieden. Der Garten wird wieder trocknen. Nicht alle Kartoffeln verfaulen und die gute alte Lehre, irgendwas wächst immer, gilt auf Ewigkeit. Wenn einem bloß keine Menschen dabei in die Quere kommen. Aber ich lenke schon wieder ab: das Leben eines Klammermanns an irgendeinem verlorenen Straßengraben, in den multiple Idioten ihren Macdonalds-sonstwie-Müll werfen ohne über das Gefüge der Welt nachzudenken, scheint mir in meinem beinahe aufgelösten Zustand gar nicht so unerstrebenswert.

Aber erst noch ein paar Kunsthirngespinste zu Ende bringen.

Heißer Sound und die Erinn’rung daran – äh woran?

Das nigelnagelneue Auto meiner Eltern. Ein superschicker, weißer, stromlinienförmiger Schlitten mit SOLCHEN Schlappen und Alufelgen und obendrein einem Bordcomputer, dessen Display bald so groß ist, wie das meines betagten Computers.

Was muss sich der Verkäufer vor einigen Monaten die Hände gerieben haben, als es ihm gelungen ist, die Karre, die schon einige Zeit im Verkaufsraum stand, meinen Eltern anzudrehen. Was das Auto alles kann, musste er dabei kaum erwähnen, denn meine Eltern wissen ja nicht, wie ein Computer funktioniert, was ein USB-Anschluss ist, dass man da ein Smartphone anstöpseln kann, eine Freisprechanlage, eine Mediathek, und das Bedienen des Touch-Displays per Gesten muss ihnen vorkommen wie pure Magie. Es genügte ein satter Rabatt, um die alten Leutchen zum Kauf zu bewegen.

Nun ist das Auto kaputt.

Mein naives, ungeschultes Radlerohr würde auf ein defektes Radlager tippen – aber das kann doch nicht sein, das Auto ist noch keine 10.000 Kilometer gelaufen. Meine Mutter hingegen meint, da stimmt etwas nicht mit dem Auspuff. Mein Vater schließt sich dem an. Früher hatte er immer alles selbst repariert am Auto, aber die Zeiten haben sich geändert. Man muss eine Grenze ziehen. Man darf den Kunden nicht zu viel Selbständigkeit gewähren. Deshalb gibt es heute Spezialwerkzeuge noch und nöcher und die Dinge werden so gebaut, dass man sie nur mit Mühe zerlegen kann. Ich habe gehört, dass man bei manchen Autos nicht einmal mehr eine Glühbirne selbst wechseln kann. Und die finale Hürde, um Kunden vom Do-it-yourself abzuschrecken, bietet die Elektronik. Ebenso unheimlich wie faszinierend. Mein Vater hat gefallen gefunden an dem Touchscreen, mit dem man das Navigationsgerät programmieren kann. Seither fährt er selbst bekannte Strecken immer mit Navi und lässt sich von der Stimme aus den Lautsprechern dirigieren, amüsiert sich, wenn exotische Routen über Waldwege ans Ziel führen. Das Programmieren des Navis geht ihm allerdings nicht so leicht von der Hand.

Das Lärmproblem müsst ihr in der Werkstatt melden, sagte ich den Eltern. Das Auto hat doch noch Garantie. Die müssen das umsonst reparieren. Kann ja wohl nicht sein, dass da jetzt schon der Auspuff abfällt und das Radlager jault.

Gesagt getan. Vermutlich hatte man an jenem Tag, als meine Eltern das Auto zur Diagnose brachten, einen Heidenspaß, denn die Reparatur des kaputten Auspuffs – meine Mutter lag also goldrichtig mit ihrer Vermutung – dauerte kaum eine Minute. Eben so lange, bis die fähigen Hände des Mechatronikers auf dem Touchcreen den Knopf „Heißer Sound“ ausfindig gemacht hatten. Damit könne man den Auspuff lauter stellen. Es handele sich um eine versteckte Funktion, die besonders beliebt sei bei jungen, männlichen Fahrern, die noch nie Sex hatten und die allnächtlich im harten Konkurrenzkampf auf den Parkplätzen der Clubs bestehen müssen.

 

Ein Mann ohne Fahrrad? Welch schreckliche Vorstellung.

Die Rückkehr nach exzessiven Lifereisen ist kein Zuckerschlecken. Ungebremster Aufprall im Alltag mit all seinen Querelen und den zurückgelassenen offenen Baustellen.

Eben noch radelte ich in Andalusien und schaffte es via Gibraltar und Tarifa bis zum Flughafen Jerez de la Frontera, wo mich ein Flieger verschluckte mitsamt Radel und dem Reisegepäck, zisch nach Madrid und spätabends dann in Zürich und nach ein paar Tagen in der Schweiz per Bahn zurück in die Pfalz. Puuuh. Eiskalte Künstlerbude. Kein Wasser zwar, das war wegen der Frostperiode noch abgestellt, aber hey, ein kuscheliges Bett, immerhin, das erste gemütliche Bett seit Ende Februar. Mit Eigengeruch.

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Am zweitletzten Reisetag brach der Webserver zusammen und alle Inhalte die in den letzten zwei Monaten auf dem Projektblog europenner.de geschrieben wurden, waren weg. Sowie etliche andere Webseiten aus dem Irgendlink-Cluster und noch ein paar Freundes- und Verwandtenseiten.

Ich nahms entspannt. Schließlich war das ja unter anderem auch ein Thema der Reise: der Niedergang, das Enden, der Tod, das alles schwang ja mit in den letzten Wochen. Ich bin gemeinsam mit dem Tod durch halb Europa geradelt.

Und nun bin ich zurück. Vollgetankt mit spanischer Gelassenheit. Das Radel, die Ausrüstung und ich, alles hatte sich aufgelöst (so sehr, dass ich in der beinahe menschenleeren Abflughalle in Jerez für einen Moment geliebäugelt hatte, ohne Gepäck heimzukehren, das Radel jemandem zu schenken, bzw., das, was noch davon übrig ist). Allein, ein Mann ohne Fahrrad? Schreckliche Vorstellung.

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Ein guter Freund hat mir die Freundschaft gekündigt. Eigentlich einer meiner besten. Diese Kälte. Ich hatte ihn mal wieder auf das ‚Problem‘ angesprochen. Gleich am ersten Tag nach der Rückkehr. Telefonate, Anrufbeantworter, SMS, die er wahrscheinlich ignorierte, bis ich ihm eine SMS schrieb, auf die er nur mit ja oder nein antworten sollte: ob er mir den Schlüssel für das Auto geben könne, das er seit einem Jahr vor meinem Atelier stehen hat. Er schrieb ja und ich besuchte ihn, um den Schlüssel abzuholen, und um zu reden. Eiskalter Empfang. Schlüssel. Da. Nimm. Wie so ein Hund.

Was denn noch?

Wann er es denn abhole.

Herumdrucksen.

Also sagte ich, dass es Miete kosten würde, ab jetzt. Mehr Kälte und ein sehr knapper Abschied. Spätnachts kam eine SMS mit zwei Jahren Frust und Anschuldigungen und es sei ja genug Platz bei mir.

Wozu Miete? Fast schon ein guter Titel für eines der vielen nichtgemalten Paul Klee Bilder. Kurzum, mein Freund war stinksauer, enttäuscht, wähnte sich im Recht.

Ich mich auch.

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Der Server ist unreparierbar. Wir brauchen einen neuen, sagte mein Cousin, der Admin. Er ist derjenige, der davon Ahnung hat. Er hat die Backups und im Prinzip ist alles ganz einfach, aber eben auch Arbeit und Zeit ist nie da in diesen Alltagen.

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Warum ist unterwegs – radelnd und sich siebzig achtzig Kilometer am Tag voranschaffend auf den Straßen Europas – so viel Zeit und so wenig Sorgen, aber daheim im echten Leben kocht alles heiß, treffen die Fronten aufeinander, fährt man am Limit, treibt in permanentem Schadensbegrenzungsmodus? So muss sich mein Freund mit dem Auto fühlen. Ewiger Schadensbegrenzungsmodus.

Ich als Künstlerleichtfuß kriege ja nur die Spitze des Eisbergs mit. Ich hab ja gut reden. Geradezu spielerisch analysiere ich die Situation und sage mir, hey, das lief doch alles prima, ich war weg, habe meine letzte wichtige große Reise gemacht und die letzten Puzzlestücke für mein schreiberisch-künstlerisches Gesamtkonzept eingesammelt und dabei festgestellt, dass die Sache mit dem Tod, dem Niedergang, dem Verlust doch ganz natürlich ist, hey, ich habe Frieden gefunden …

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Runter in die Stadt. Das war letzte Woche. Meine Bank ist weg. Verflixt. Ich wollte doch nur Kontoauszüge ziehen, aber der Automatenraum ist zu und an der Tür hängt ein Zettel, dass sie nun am anderen Ende der Fußgängerzone ist. Beim Busbahnhof. Übles Pflaster und wie es das Schicksal will, lümmelt vor dem nigelnagelneuen Glaspalast mit der automatischen Schiebetür eine Bande irgendwelcher komischer Jungs mit unisono knallroten Baseballmützen, die Los Angeles-Bande des kleinen Mannes sozusagen, Ghettoblaster, Gangstermusik, grimmige Gesichter. Würden Sie in diesem Schalterraum Geld abheben? Arglos hinausspazieren, ihren Atem spüren? Die Stadt ist trist.

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Der Galerist um die Ecke. Noch so eine Baustelle. Seit über einem Jahr liegen Bilder bei ihm, die er in Kommission verkaufen wollte. Das ist sinnlos. Wenn Bilder ein Jahr beim Galeristen liegen und nicht verkauft werden, wird er es auch in zwei Jahren nicht schaffen und nicht in drei und auch nicht in vier. Es ist genau wie mit einem Auto, das jemand vor der Ateliertür geparkt hat. Es ist nicht im Interesse des Galeristen, Bilder zu verkaufen, ähm, ist es doch, aber es gibt diese Art Galeristen, die die Künstler als Rohstoffquelle sehen und, solange es sie nichts kostet, die Rohstoffe horten. Ich holte also die Bilder ab, damit ich sie im eigenen Atelier aufhängen kann, wo sie zwar vermutlich auch nicht verkauft werden, aber eben, es ist wie mit Autos … ich rede wirr? … im Prinzip ist es egal, ob ein fremdes Auto auf deinem Grundstück steht, oder deine Bilder im Archiv einer Galerie vergammeln.

Ich habe Freundschaft geschlossen mit der Vergänglichkeit. Das macht stark. Ich erzählte dem Galeristen von der Reise und deutete an, dass ich rein künstlerisch eine Episode abgeschlossen habe. Die Galerie hat sich mächtig verändert. Aus einem Ausstellungsraum sind drei geworden. Statt Ausstellungen im drei-Monatsrhythmus gibt es nun alle vier Wochen eine Ausstellung. Das erhöhe den Entscheidungsdruck beim Kunden, höre ich. Entscheidungsdruck. Gutwort.

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Nun hier. Spätabends. Das Irgendlinkblog hat der Cousin grob restauriert. Es fehlt noch die Kommentartabelle. Deshalb wird es nicht funktionieren, hier einen Kommentar zu schreiben, aber wir arbeiten an dem Problem und ich kann das wohl selbst zurechtfummeln.

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Obschon ich keine Lust habe.

Ich habe erkannt in den letzten Monaten.

Unterwegs auf Europas Straßen habe ich vielleicht das Ganze gesehen. Mein eigenes kleines Übel wie das Übel der Welt. Den programmierten Niedergang. Wie alles wächst und vergeht. Wie es zum Vergehen hergestellt, geboren, erzeugt wird. Waren wie Ideen. Alles. Auch ich. Und dazwischen Möglichkeiten. Was ich kann, was ich nicht kann, was mir liegt, was mir nicht liegt.

Und ich sah die Welt. So viele Menschen. Elende. Reiche. Böse. Gutmütige. Normale. Spinner. Mich. Meine vielen lieben Freunde. Den Tod. Die Vergangenheit. Das bisschen Zukunft, was mir noch bleibt. All das sah ich. Hab alles durchlitten. Alles genossen. Weiß wo ich stehe. Weiß wo die anderen stehen. Vielleicht Du, Du und Du, aber vielleicht bilde ich mir das auch  nur ein in meiner kleinen Künstlermorgenblütenselbstherrlichkeit? Ich ahne den Prozess, den wir durchlaufen.

Ich bin höchst zufrieden.