Draußen im freien Raum, der immer lieb zu dir ist

Radweg entlang eines Kanals. Frühling, noch jungknospende Pflanzen. Ein Rennradler auf dem schmalen geteerten Weg, der rechts vom Kanal verläuft.

It’s a holiday by accident. Der Nieselregen manifestierte sich in der Morgendämmerung. Vehementes Hämmern aufs Zelt wie mit tausend kleinen Uhrmacherhämmerchen, die den halbkupfernen Deckel einer verbeulten, uralten Taschenuhr dengeln und wieder in Form bringen. Einer jener Tage zum nicht-Aufstehen, zum nicht aus dem Zelt gehen, zum zum-Buch-greifen, es aufschlagen, an einer Stelle weiter lesen. Donnerstag. Oder Mittwoch? Die Turmuhr schlägt. In der Gegend, in der ich mich befinde schlagen die Kirchturmuhren zur vollen Stunde immer zwei Mal: eins zwei drei vier fünf sechs und ein paar Minuten später noch einmal eins zwei drei vier fünf sechs, zähle ich. Drehe mich noch einmal um. Die Isomatte knartzt. Unheimlich bequemes Ding, das mir die Liebste mitgegeben hat auf die Reise. Zwei Wochen Urlaub, wird mir im Halbschlaf klar. Junge, du hast es tatsächlich durchgehalten, zwei Wochen lang das Blog nicht anzurühren oder in einem sozialen Medium über das Vorantreiben auf Reisen zu schreiben. Du hattest Urlaub. Sags laut: DU HATTEST URLAUB!

Das mag sich für die Lesenden dieses Blogs merkwürdig anfühlen. Der Typ ist doch immer auf Urlaub! Ich seh das doch. Ich les doch die Blogeinträge, wie er mal hier, mal da radelt oder wandert oder sonstwie tourt um irgend ein Land. Das Irgendlink-Blog ist eine Ausgeburt gelebten freien Lebens. Ohne Zeiteinteilung und Drangsale durch einen Chef oder eine Chefin. 24 Stunden, 7 Tage die Woche Reisegenuss pur. Ich seh das doch!

Gegen acht bin ich wieder wach, raffe die wenigen Lebensmittel in einen Beutel, stopfe den Schlafsack, zwänge mich in die Radelhose, verstaue alles in den Packtaschen. Zuletzt das nasse Zelt, nur notdürftig ausgeschüttelt. Tacho auf null stellen, GPS starten, Track aufzeichnen. Das sind die einzigen Handlungen, die ich aus dem „herkömmlichen“ Reisekunstbetrieb mitgenommen habe in den Urlaub. Track aufzeichnen stresst nicht besonders. Du drückst morgens einen Knopf am Handy und abends, wenn das Zelt aufgebaut ist wieder. Außerdem freut sich die geliebte Frau SoSo zu Hause stets, wenn ich ihr meine Tour sende. Sie kann dann auf der dünnen Linie an Hand der Zeitstempel ungefähr nachvollziehen, wie sich die geradelte Strecke wohl anfühlt. Bist du langsam, gehts berghoch, pausierst du, hängst du womöglich in der Hängematte zwischen zwei Bäumen und ruhst dich aus. Einmal war ich erstaunt, als Frau Soso mir vor ein paar Tagen aufgeregt sagte, boa ej, da hattest du bis vier Uhr erst vierzig Kilometer im Sack und bist dann doch noch auf insgesamt über hundert gekommen.

Ich erinnere mich an den Tag. Ich war so müde, schlief gegen halb eins bei einer Kanalschleuse am Rhein-Rhône-Kanal in der Hängematte ein. Es war warm, nein heiß, so heiß, dass selbst der starke Wind, der unter der Hängematte durchwehte mich nicht auskühlte. Zwischen dem eisernen Griff einer Leiter, die hinunter führte in die Schleuse und einer Laterne hatte ich die Matte aufgehängt. Blick auf den Radweg, der an diesem Tag gut bevölkert war. Zig Reiseradelnde, ein Radrennteam, Freizeitradler, Spaziergänger. Ein langsamer Mahlstrom glücksuchender, sich entspannender, irgendwohin wollender oder irgend eine Absicht hegender Menschen, die da an mir vorbei flanierte. Der Radweg als Bühne. Der eigene Kopf das Hinterstübchen einer geheimen Regiekammer, in der das Theaterstück dirigiert wird. Ich hatte den Impuls, die Klapptastatur auszupacken und etwas ins Blog zu notieren. Baumelte stattdessen, schlief, trank ab und zu einen Schluck, dachte etwas, vergaß es wieder, dachte etwas anderes und vergaß auch dies. Schon da spürte ich deutlich die heilsame Wirkung des Nichtstuns auf Reisen. Loslassen. Sich zu nichts zwingen. Das Daheim, die Sorgen, die man zurückließ sind weit weg. Die Zukunft: muss nicht geplant werden. Allenfalls plagt einen die Sorge, dass man vor Ladenschluss keinen Supermarkt mehr erreicht, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Doch selbst diese Sorge ist gering, wenn man verinnerlicht hat, dass es da draußen im freien Raum, der immer lieb zu dir ist, auch mal eine Nacht ohne Essen geht, ohne Anspruch auf normale Gewohnheiten. Noch so eine Erkenntnis. Das Korsett der Alltagsgewohnheiten, das einen beherrscht. Das unseren Lebenstakt bestimmt wie eine frisch gedengelte, halbkupferne, uralte Taschenuhr. Das Korsett, das mich beherrscht und in das ich im Laufe des halben Jahrhunderts Lebens in dieser meiner Gesellschaft so sehr hinein gewachsen bin, dass ich mir ein Leben ohne diesen ebenso schützenden wie zwängenden Lebensgewohnheitspanzer gar nicht vorstellen kann.

An dieser Stelle sollte ich den Mann erwähnen, der mir kurz vor meiner langen, frühnachmittaglichen Baumelpause auf dem Radweg am Rhein-Rhône-Kanal begegnete. Ein bisschen sah er aus wie ein zeitgeössischer Jesus. Total zerlumpt, ein A4 großes Filzbrett von Haaren rechts des Kopfs, Sandalen, unheimlich dreckige Fetzen am Leib und über der Schulter einen speckigen, dunkelgrünen Schlafsack. Von Weitem rief er mich auf französisch an, bonjour, bonjour, bonne journée. Ein Singsang mit zarter, flötender Stimme, so dass ich das Radel stoppte. Wenn man seine Ruhe haben will und sich surreales Gelaber ersparen möchte, sollte man in so einer Situation nicht anhalten. Wenn man helfen will und die Untertöne im bonjour, bonjour, bonnne journée wahrnimmt, dann schon.

Ich will nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Wir redeten eine viertel Stunde, vielleicht auch zwanzig Minuten. Die Geschichte ist ohnehin wirr. Vor mir steht ein angeblicher Däne, der sich, warum auch immer, in hannoveranischem Deutsch übt, englische und französische Fetzen einflicht in seine Sprache, aber sich wie ein waschechter Deutscher anhört. Auf meine Herkunft, Pfalz, fällt ihm Helmut Kohl ein, Doktor Helmut Kohl, den er sehr bewundere – egal, kann er ja machen – den habe er mal gehört in einem Vortrag über den Westfälschen Frieden. Doktor Helmut Kohl sei nämlich ein echter Doktor und habe zu dem Thema  promoviert. Am Grad meiner Duldsamkeit schräger, nicht linearer Erzählungen gegenüber merkte ich, wie Tiefentspannt ich bin, wie sehr sich der waschechte Urlaub aus Versehen auf mein Gemüt auswirkte. Ich wollte nichts. Nicht nach Montbéliard kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, nicht auf einer Bank sitzen, nicht nicht-zuhören, nicht mich-nicht-einlassen. Während unseres „Gesprächs“ grüßte mein „Jesus“ alle Vorbeiradelnden mit bonjour, bonjour, bonne journée, hart an der Peinlichkeitsgrenze. Aber so ist das nunmal in dem „Beruf“ und das ist seine Masche, den Fluss des Reisenden zu brechen und im Kehrwasser eines Gesprächs eine Art Nähe aufzubauen, damit derjenige ihm ein paar Münzen gibt. Ich gab ihm alle Münzen, die ich im Beutel hatte und wenn ich kleine Scheine gehabt hätte, hätte ich ihm die gegeben. Nicht einmal aus Mitleid oder sonst einem Gefühl – Gefühl kommt immer erst im Nachhinein. Es war eine rationale Handlung. Ich meine: wir waren ja in diese Situation der Zwischenmenschlichkeit geraten und durchliefen diese paar Minuten auf dem Radweg ganz aufgeräumt wie einen Prozess. Der Regelschalter in meinem Inneren sagte mir nunmal, dem gibste was, so will es die gerade ablaufende Situation. Du hast einen vollen Bauch und ein paar Lebensmittel in der Packtasche, bist halbwegs gewaschen, fühlst dich wohl und dein Gegenüber, das sich zwar auch wohlfühlt, hat noch nicht Mal einen Sack dabei mit altem Brot oder was auch immer. Ich kramte eine Banane aus der Tasche und steckte sie dem Westfahlenjesus zu. Die Begegnung sollte mich noch tagelang beeindrucken und wer weiß, vielleicht war sie eines der Puzzlestücke, die dazu führten, dass ich das Alltagskorsett besser verstehe, in dem ich mich verortet sehe. Tage später sollte ich in einer mantrisch verregneten Bergauffahrt den Kapitalismus „besiegen“.

  • Ich darf an dieser Stelle auf die Unterstützungsmöglichkeit für meine Arbeit aufmerksam machen: bonjour, bonjour, bonne journée (SteadyHQ)
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Titelbild aus dem Archiv. In einem Frühling vor langer Zeit in der Bourgogne.

Stehen auf der Betonkante des eigenen Lebensgemäuers

Offene Ateliers 2014 Rinckenhof - Polaroid-Installation - Selfie

Die ‚Nachreisedepression‘ hatte dieses Mal lange auf sich warten lassen. Ich dachte schon, ich wäre ‚geheilt‘. „Ich habe etwas mitgenommen,“ postulierte ich kürzlich im Gespräch mit Frau SoSo und Schauspielerin S., „die Ruhe habe ich mitgenommen von meiner letzten Reise, die Reisegelassenheit, das Gefühl, nichts und niemand kann mir etwas“. Ein beschwingter, sehr gelassener Allgemeinzustand des eigenen Seins, am Ehesten zu vergleichen mit dem GEFÜHL, das mir etwa 2016 abhanden gekommen ist. Ich stehe damals auf der Betonkante unterm Nussbaum auf der Südterrasse und schaue durchs lichte, herbstliche Geäst Richtung Süden, suche Sterne in der Weite. Gefüttert mit der Dunkelheit der Unendlichkeit das Weltalls. Stelle mir vor, wie ich über Kopf in die Tiefe des Weltraums hineinrage, wie ich hänge. Eine Fledermaus zieht rasante Kurven. Ja, genauso wie eine Fledermaus wenn sie schläft und in ihrer Höhle an der Decke hängt, so hänge ich auf diesem Planeten in meinem Universum. Nichts und niemand kann mir etwas, so ist mein GEFÜHL, das abhanden kam, damals im Jahr 2016. Wie sehr ich dem GEFÜHL nachhänge! Es hatte etwas von Selbstabsolution, denke ich, die allumfassende Entbindung von jeglicher menschlicher Pflicht, ein Zustand in dem du nur auf dein Inneres hörst und das Getöse von Außen blendet sich langsam aus, keine Verstrickungen und Bedingungen, keine Wenn-Dann-Sonst-Aber-Schleifen … so geht das GEFÜHL. Ging. Die Gedanken sind gerade, ungebremst, rasant, alle gleichzeitig und doch wahrnehmbar, verstehbar. Stehend auf der Betonkante unter dem Nussbaum, dort wo das einsame Gehöft mit seiner Bebauung endet. Am Rande des einstigen Rinderstalls, an der Kante des Freilaufs fürs Schlachtvieh, das vor vielen zig Jahren hier auf diesem Areal Monate der Mast verbringen musste, bis der Schlachter kam, es durchs Gatter trieb, auf einen Viehanhänger lud, mitnahm, schlachtete, zerlegte, verkaufte … jaja, so stehe ich da wo des Menschen kleines Reich endet und die Natur beginnt, die so viel größer ist als der Mensch in seinem Kleingedenke, so viel ewiger, so viel ausdauernder, beharrlicher, aber auch gesetzt und auf einfachste, aber probate Mechanismen reduziert.

Das Gefühl, nichts und niemand kann mir etwas hielt sich dieses Mal nach der Reise erstaunlich lange. Wie lange ist es her, dass ich von meiner Schweiz-Umrundung zurückkehrte? Zwei Wochen? Ich werde immer besser. Wenn ich es bei der nächsten Reise schaffe, drei Wochen das Gefühl zu bewahren, bei der übernächsten vier, fünf, sechs oder gar exponentiell gesteigert … Hoffnung, stirb zuletzt!

Nun wieder diese Morgen, in denen erst einmal für eine halbe Stunde unendliche Tristesse herrscht, grundlose unendliche Tristesse, ich mich  hinunter in die Sommerküche schleppe, auf halbem Weg kehrt mache, die Leiter ins Hochbett zurück ächze, mich wieder hinlege, die Tristesse dauert an. Sie ist dumpf. Sie ist unfassbar. Sie hat keinen Grund. Vielleicht steckt Angst dahinter, allgemeine Lebensangst, wie ich es früher nannte? Vielleicht Hoffnungslosigkeit? Ob des Außens. Ob der Verwirktheit der Welt. Ob der Verkommenheit der (mancher) Mitmenschen, die einem alltäglich begegnen im Supermarkt, auf der Straße, im Internet, und mit denen man sich herumärgern muss. Von denen man eigentlich nur sagen kann, lass sie wie sie sind, du änderst sie nicht, es ändert sie, oder er, der allgemeine Lebensprozess, der im Hintergrund läuft und die Bude zusammenhält Er, der dem wie wir sind als Gesellschaft eine Form gibt, wenn auch keine schöne Form, wenn auch nicht die Form, die dir selbst genehm wäre. Die Frage ist doch, wenn die Gesamtheit unserer Gesellschaft gerade diese autoritäre, ignorante, beherrschende Form annimmt, dann muss es doch genug Menschen geben, die das befürworten, genug Mitmenschen, die Intoleranz, Hass und Häme so gut finden, dass sie sie praktizieren, aktiv und voller Inbrunst?

Warum kann nicht jeder für sich auf der Betonkante seines Lebensgemäuers am Rande des Universums stehen und in den Himmel schauen, Sterne suchen, die Unendlichkeit genießen, sich vorstellen als Fledermaus in seiner Höhle zu hängen und das GEFÜHL leben? Warum nicht?

Die heißen Tage verbringe ich unstrukturiert, strenge mich wenig an. Bin ja schon alt, muss auf mich achten, besser langsam, aber dafür sicher ans Ziel durchs Labyrinth des Alltags. Arbeite an den Videos, die ich unterwegs auf der Runde um die Schweiz gedreht habe. Schwierig, schwierig, schwierig. Alleine für den ersten Reisetag gibt es über eine Stunde Filmmaterial. Wer soll das alles schauen? Mit Kdenlive schneide ich mehr schlecht als recht die einzelnen Clips zusammen. Ganz normales Reisevideolog eigentlich. Könnte gut passen auf Youtube, denke ich. Der uralte PC ist zu lahm. Kdenlive stürzt hin und wieder ab, erstaunlich selten, aber es nervt. Zudem habe ich so gut wie noch nie Videos  geschnitten, muss also erst eine Lernkurve durchlaufen, hoffe, dass es schneller geht irgendwann, denn so wie es läuft, würde ich für die 20 Tage rund um die Schweiz radelnd noch einmal 20 Tage Videoschnitt brauchen.

Schaue im Rechner nach, oha, ein i3 Prozessor. Ungeeignet für Videoschnitt. Der PC von Journlaist F. steht im Atelier. Er landete nach seinem Tod bei mir, da ich sein Zimmerchen im Pflegeheim räumen musste. Auf dem Gehäuse ist ein i7 Aufkleber. Ob ich ihn zum Videoschnitt einsetzen könnte? Ob ich das will? Ich habe mir darüber noch kaum Gedanken gemacht und irgendwie fühlt es sich falsch an, den Computer eines gestorbenen Freunds platt zu machen und selbst zu benutzen. So als würde man jemandem das Hirn ausschaben und sein eigenes Organ einpflanzen.

Überhaupt, abends, gestern … ich werde langsam etwas fitter, die Hitze, Sie wissen ja, schwinge ich mich ins Atelier und fange mal ein bisschen mit dem Aufräumen an. Das Atelier ist mir ein gutes Beispiel, wie es womöglich in den Arterien des eigenen Körpers aussieht, wenn man ein Blutvolumen voller Cholesterin zu lange hindurchjagt. Bleibt so vieles hängen, rümpelt so viele Wege zu, verstopft die Adern des Gemäuers, aber im Fall des Ateliers werde ich der Sache natürlich nicht dadurch Herr, dass ich Stents setze und die Wege begehbar mache, sondern mit krassem Aufräumen, Rausräumen, Wegwerfen,  mit auf große unförmige Stapel Räumen von Dingen. Wohin, wohin, wohin?

Schon hat sich vor der Ateliertür auf der Nordseite ein riesiger Stapel gebildet. Werkzeug, Kleinteile, Campingzeugs, Elektronik usw. Meine uralte Phantasie, Dinge, die ich über ein Jahr nicht in der Hand hatte, einfach zu entsorgen ist zwar lieb und nett, etwas in mir scheut aber, sie einfach wegzuwerfen. Der Feldstecher zum Beispiel, die Wasserwaage, eine Säge und alte, aber noch ungenutzte Bilderrahmen … die Installation aus dem Jahr 2014 mit hunderten von Polaroids, die eine große Frontwand im Atelier zierte, habe ich abgehängt. Nun ist da nur noch ein etwa zwanzig Zentimeter hoher Stapel von Bildchen, die etwas verstaubt sind und eine Alubox mit den hunderten Klammern, mit denen die Bilder an die Drahtkonstruktion geklammert waren, zu sehen. Und die Drahtaufhängung natürlich. Soll ich die Drähte auch abnehmen? Ich hätte dann eine leere weiße Wand. Ein phantastisches Universum von Wand, das nun wieder alle Möglichkeiten der Welt bietet. Ich könnte die Kunst von Freundinnen und Freunden zeigen. Ich könnte so viel anfangen mit dieser weißen Wand. Fast ist es wie auf der Betonkante am Rande des eigenen Lebensgemäuers zu stehen und ins Unendliche zu schauen.

Alleine, was mir an dem gestrigen Abend bewusst wird und was ebenso beruhigend wie verstörend ist: Ich muss gar nichts. Ich kann es zwar nicht fühlen wie vor sieben Jahren noch das GEFÜHL, aber ich weiß etwas vom „Mussgarnichts“. Immerhin. Wissen geht in diesem Fall nicht vor Fühlen, aber vielleicht geht es das sowieso nie und es wäre ohnehin das Beste, wenn Gefühl und Wissen Hand in Hand gingen.

Nachtrag, weil ich noch mindestens dieses Jahr durchhalten will als Künstler und Schreiber. Hier kann man das fördern: https://steadyhq.com/de/irgendlink/about

 

 

Ballast abwerfen, sich selbst einschlanken

Dekorad im Profil mit zwei Geranienblumenkörben linke Bildseite vor dem Lenker, rechta auf dem Gepäckträger.

Gegen Mittag das Telefon. Zweiter Tag nach Ende der Tour rund um die Schweiz. Ich bin noch immer hundskaputt. Dauermüde, sehr entspannt zwar, aber nicht wirklich zu etwas zu brauchen. Den Reise-lass-auf-dich-zukommen-Flow habe ich bewahrt. Somit ist es ein Leichtes, ans Telefon zu gehen, Künstlerfreund A. ist dran. Eine Vorlesung sei ihm ausgefallen, weil die Studierenden schlicht nicht aufgetaucht seien und ob wir eine Tasse Kaffee bei mir im Atelier … mal wieder plaudern. Aber natürlich! Im verhärteten Normalalltag hätte ich womöglich nein gesagt, weil die Kette der zu Tuns recht hart ist. Im Nachreisealltag ist immer noch alles möglich, kann ich mich treiben lassen. Ein bisschen fühle ich mich wie eine Mischung aus Rekonvaleszenz und außer Dienst gestellt, Selbstpensionierung bei laufendem Betrieb sozusagen.

A. trägt eine Uhr. Ein sehr kleines, gutes altes Rund mit echten Zeigern und ohne Schnickschnack. Damit er nicht immer das Handy rausholen muss, um die Uhrzeit zu schauen und überhaupt, „wusstest du, Irgend, dass man bei den neumodischen Uhren unbewusst ständig am Rechnen ist? Wenn da etwa steht 12:48, dann rechnet es in einem die Zahlen um in Zeit, die man auf der „normalen“, guten alten Uhr auf Anhieb am Stand der Zeiger erkennt.“ Noch besser wäre natürlich eine Sonnenuhr. Wir scherzen. Wir lachen. Die örtliche Fachhochschule wurde gehackt und wird nun erpresst, sagt A. Riesenchaos. Intern sei man zum guten alten schwarzen Brett zurückgekehrt, um die Studierenden zu informieren. Der Schaden muss immens sein. Die Kriminalpolizei ermittelt. A. ist einer von einer handvoll Professoren, die noch ein physisches Backup aller wichtigen Daten haben. Gottlob. A. berichtet von armen Teufeln unter der Kollegschaft, die buchstäblich vor dem Nichts stehen.

Mir wird plötzlich klar, dass ich die Schweiz im Uhrzeigersinn umradelt habe. Ein ebenso haptisches wie zeitkonfuses Konzeptkunstwerk, noch ist es nicht ganz fertig und wenn ichs mir recht überlege, fängt die Kunst gerade erst an. Selbst die unterwegs geschriebenen Liveblogberichte sind noch nicht alle online. An denen muss ich noch feilen.

Auf der Zwölf bin ich in die Runde um die Schweiz eingestiegen, folgte dem Rhein bis nach Landquart am gleichnamigen Fluss, was ungefähr auf der Drei liegt, radelte runter bis zur Sechs nahe Lugano, und kam bei Genf zur Neun. Dann noch knapp sechstausend Höhenmeter auf der Juraroute. Au Backe war das anstrengend!

Der Anstrengung zum Opfer fielen die letzten drei Blogartikel: „Basel da unten“, „Strasbourg en passant“ und „Pirmasens kein Entrinnen“.

Ich werde sie demnächst nachliefern und die privaten Einträge, die ich unterwegs schrieb noch einmal sichten und veröffentlichen.

Im Gegensatz zu früheren Konzept-Reisekunstprojekten habe ich die Arbeitsweise ein bisschen verändert. Ich bleibe nicht mehr alle zehn Kilometer stehen und mache ein Foto der bereisten Strecke. Das ist einerseits schade, denn das Konzept Kunststraße hatte was, finde ich, aber es fördert den Reiseflow, nicht ständig anhalten zu müssen. Unterbrechung des Kurbelns nur noch, wenn Körper und Geist sich einig sind. Hat etwas Natürliches. Ich radele auch mehr, schneller, kontinuierlicher, denke spärlicher aber präziser, erzwinge nichts, bzw. so wenig wie möglich. Ein Novum dieses Liveblogprojekts ist die Videofilmerei. Insgesamt etwa zehn Stunden Filmmaterial habe ich mitgebracht. Mal schauen, ob ich es in Youtubefilme konvertieren kann.

Plaudern aus dem Nähkästchen der feinen Künste. Ist auch wichtig. Längst ist mir klar geworden, dass ich nicht fertig werde mit meinem „Lebenswerk“, dass es nie Frucht tragen wird, mich nie vernünftig ernähren, so wie erhofft, ich dennoch irgendwie weiter machen will, aber nicht mehr so verbissen, nicht mehr so krampfhaft. Nach dem großen Egal verspürt man eine große Erleichterung. Ballast abwerfen, sich selbst einschlanken. Abspecken auf den letzten Lebensmetern bis nur noch das letzte Hemd bleibt und mit einem sanften Ruck reißt man dem schließlich die kleine, fein vernähte Brusttasche herunter. Eine Analogie zur Degradierung vielleicht. Ich schweife ab.

Ein zwei Stündchen plaudere ich mit A. auf der Südterrasse des einsamen Gehöfts. Schön warm, aber nicht zu heiß. Ringsum Reiseendchaos. Das Fahrrad entpackt. Schmutzige Klamotten. Das Zelt zum gänzlich Trocknen rausgelegt. Ist schon ein bisschen unordentlich bei mir, aber es stört mich nicht. Ich habe Zeit. Noch. Bin noch nicht zurück im alten Trott. Mehr noch, ich spekuliere, was wäre, wenn du nicht zurückkehrst zum alten Trott, Herr Irgendlink? Sicher gesünder. Schon erinnere ich mich an die stressreiche Zeit vor der Reise – es war ja auch eine Ausnahmesituation mit Betreuung für Freund Journalist F.: Hörsturz, Schlafstörung, Apnoe, Herzschmerzen. So dass ich vor dem Start dachte, was wenn es nicht psychisch ist, sondern tatsächlich körperlich? Ausprobieren. Ein Herzschaden wird sich bemerkbar machen, sobald die ersten Pässe kommen. Nichts passierte. Schon nach zwei Tagen unterwegs war all der Mist wie weggeblasen.

Dass wir unser Vermächtnis regeln müssen, nein sollten, darüber redeten wir und auch im Blick auf den Hochschulhack, wie fragil doch alles digitale ist. A. ist gut aufgestellt, hält er doch ein reichhaltiges Werk bereit aus Gemälden, Büchern und Zeichnungen. Bei mir sieht es etwas düsterer aus. Das Hauptwerk ist rein digital. Ephemer gar.

 

Strasbourg en passant

Da hinten ist der Spielplatz, ein paar Fitnessgeräte, eine Infotafel. Frühe Radler rauschen vorbei. Ich höre das Surren ihrer Ketten, unterbrochen vom Schreddern des Freilaufs. Manche Menschen, denke ich, können Freiläufe an Hand der Geräusche erkennen. Das wäre durchaus mal eine Wette für ‚Wetten, dass …?‘ wert. Wetten, dass ich hundert verschiedene Fahrräder an Hand der Vorbeifahrgeräusche erkenne …? Keine Ahnung, was das für Vögel sind, die da zwitschern. Mein Übernachtungsplatz auf dem Parc de Sante-Spielplatz ist jedenfalls ein guter. Die Nacht blieb ruhig. Die geargwöhnte Jugendbande mit Knattermopeds, Kreise im Sand auf dem Parkplatz ziehend, ist ausgeblieben. Ich bin mutterseelenallein. Der kleine Spielplatz ist so typisch französisch. Aus gehobelten Baumstämmen, die in all ihrer Krummheit kleine schräge Hütten formen und gleich neben Schaukel und Wippe und Kinderhäuschen steht ein Trainingsgerät für die Muckis der Erwachsenen. Ein paar Bänkchen, recht sauberer Platz. Jemand hat eine Mülltüte unter die Infotafel gestellt. Womöglich ein Mensch, der eine Müllsammelaktion gemacht hat? Beim Zusammenpacken nach dem Frühstück nehme ich noch ein bisschen Plastik mit, das irgendwo liegt. Wenn jeder Mensch die Orte, an denen er pausiert, nur um ein Stück Unrat sauberer hinterlassen würde …

Dann schwinge ich mich aufs Radel und wanke … nein, nicht zurück nach Ottmarsheim, sondern hinein in den Hardwald, den ich schon am vierten Reisetag auf dem ‚Hinweg‘ rund um die Schweiz durchquert hatte. Bewege mich durch aufkeimendes Knüppelgehölz, kleine Bäumchen, lichte Ecken, irgendwo saust eine laute Straße. Stoßverkehr auf dem Weg ins Büro. Mühlhausen ist nicht fern, ist gar ausgeschildert dem geteerten Weg in den Wald hinein folgend nur noch 14 Kilometer. Vor achtzig Jahren tobte hier die Hardschlacht, sehr blutig sagt man. Überall gibts Gedenkstätten. Das Grab des Soldatenhelden, vor dem ich am vierten Tag meiner Reise hier stand und sinnierte, ist gleich um die Ecke. Grünhütte, ich wende mich nordwärts auf dem Radweg durch den Wald, komme nach 15 Kilometern wieder auf eine Landstraße, hangele mich hinüber, nach Westen zur ursprünglichen Route der VV13, die ich gestern verlassen hatte. Schöner Bypass, muss ich sagen, quere den Kanal, komme schließlich nach Neuf Brisach. Alte Vaubanfestungsstadt.

Ab dort gehts so gut wie nur noch geradeaus bis Straßburg. Direkt am Kanal entlang, Artzenheim, Marckolsheim, Erstein. Wenn ich eine solche Strecke für 300 Kilometer vor mir hätte, ich könnte in den Olymp des Brevetradelns aufsteigen, fahrn, fahrn, fahrn und ich würde in einem Tag die Distanz schaffen. Weh täte es trotzdem.

Das Flachlandradeln hier am Kanal, dem ich schon so oft folgte, liegt mir manchmal gut, manchmal nervt es mich aber auch. Die Monotonie. Du siehst nur den drei Meter breiten Teerweg, einen Meter daneben beginnt der Kanal. Wenn ich einschlafen würde auf dem Rad oder unaufmerksam wäre, könnte es passieren, dass ich im Wasser lande. Auf der anderen Seite ist ein Streifen Gehölz, teils uralte Bäume, oft Hecken, manchmal nichts und direkt dahinter befindet sich ein Entwässerungsgraben, der den Kanal flankiert und dann beginnen Felder. Mais und Getreide. Oft, nein, fast immer werden sie von riesigen Konstruktionen aus Rohren beregnet. Irgendwo surrt eine Diesel getriebene Pumpe. Hundert Meter lange Gestänge auf Traktorrädern, die im Schneckentempo wie der Tastarm eines Scanners über das Feld fahren und regnen, regnen, regnen.

Dieses Mal fahre ich den Weg sehr demütig. Nichts tut weh, kein Muskelkater, kein Floh im Hirn, dass ich dann und dann da und da sein möchte. Meine beiden Killerschwäne, die mir und überhaupt allen Radlenden in den letzten Jahren das Passieren in der Nähe von Marckolsheim erschwerten, weil ihr Nest direkt am Radweg liegt, sind schon junge Eltern, haben die grauen Jungschwänchen abseits des Radwegs, müssen nicht mehr das Nest verteidigen … und eigentlich ist es ja umgekehrt, wir Radelnden, machen dem brütenden Paar alljährlich im Frühling das Leben zur Hölle. Es ist aber auch gerade an einer Stelle, die man schwer umfahren kann. Vogelfreunde hatten im letzten Jahr immerhin Gatter rings ums Nest gestellt und so blieb fürs Vorbeiradeln ein schmaler Streifen zwischen Kanal und Gatter. Dennoch gifteten die Tier mit ihren langen Hälsen.

Nächste Attraktion: Nutrias. Putzige, oft neugierige Tierchen. Man erkennt ihre Stellen an kleinen, röhrenähnlichen Trampelpfaden am Kanalufer. Zwei Mal sehe ich die etwa 20 cm langen Wasserratten, steige vom Rad, krame die Gopro raus, will sie filmen, aber schwupp fliehen sie ins Wasser. Einmal warte ich einen Moment am Ufer, baue die Kamera vor ihrem Pfädchen auf, hoffend, dass sie kommen, bis es mir zu lange wird, ich die Kamera einpacke und weiterfahre.

Klappere meine ‚Wasserstellen‘ ab. Ein Supermarkt mit kleinem improvisiertem Café-Bereich in … wie hieß das noch? Soufflenheim? Egal, gleich am Radweg, gefühlt auf halber Strecke zwischen Marckolsheim und Straßburg. Es gibt dort Automatenkaffee, den man per Münze für einen Euro kaufen kann. Verschussele den Becher, so dass die Hälfte des Konzentrats daneben läuft, ich im Grunde nur heißes Wasser mit Milchpulver trinke. Mist.

Zwölf Kilometer bis Straßburg gibts bei der Schleuse von Plobsheim einen schönen großen Picknickplatz. Längst überfällige Pause. Überlege, einen Blogartikel zu schreiben (diesen hier, der nun erst am 13. Juli verfasst wird), bin müde, will weiter oder ruhen oder nichts tun. Zwei Menschen auf einer Picknickbank nebenan. Ich hatte beim Ankommen nicht so genau geschaut, auch vergessen, sie ordentlich zu begrüßen. Die Hitze. Der eigene Kopf, so Endreise-Unruhe-gefüllt. Wobei Unruhe das falsche Wort ist. Es ist mehr ein Dahintreiben in den letzten Tagen, ein sich nähern dem Delta des Alltags. Hab vergessen, welcher Tag ist.

Als ich den Platz verlasse, ungeschrieben, frisch gegessen, getrunken, ein wenig gedöst, schiebe ich bei den Beiden vorbei und wir plaudern ein bisschen. Dasss sie vermutet hätten, ich würde auch hier zelten wollen. So wie sie. Ich begegne also Franci le Pelerin und Gina Tina, die seit Mai rund um Frankreich wandern. Für einen guten Zweck, die Kinderkrebshilfe sammeln sie Geld ein und sie berichten jeden Tag auf ihren Youtube-Kanälen. In Arles gestartet, haben sie nun schon fast zwei Seiten des ‚Hexagons‘ geschafft. L’Hexagone ist eine Bezeichnung für Frankreichs Umriss, der einem Sechseck gleicht.

Mein Weg könnte mich – theoretisch – noch bis nach Hause führen am heutigen Tag. Ab Straßburg sind es je nach Strecke noch etwa 100 Kilometer. Ich müsste allerdings bis spät in die Nacht radeln. Könnte es auch. Bloß wozu? Erst einmal Straßburg. Bleibe brav am Wasser und nehme die westliche Stadtdurchquerung, da ich mich bei der östlichen oft verirre und es dort auch viel hektischer zugeht. Begegne einem wortkargen Schweden, der seit einem Jahr durch Europa radelt. Griechenland, Balkan, nun auf dem Weg nach Hause ist. Seine Kette quietscht. Er lässt sich zurückfallen, hat wohl keine Lust, zu reden. Hält den Reisenden, mich, nicht auf.

Rhein-Marne-Kanal. Kurz vor 21 Uhr in Brumath. Gerade rechtzeitig, um noch im örtlichen Carrefour Express einzukaufen. Der Verkäufer erkennt mich entweder wieder, schließlich war ich im Frühjahr schon einmal hier, oder er sieht mir den Deutschen an. Jedenfalls sagt er mir die Summe, die ich zahlen muss auf Deutsch: X Euro funfundachtzig. X Euro Quatrevinghtcinque, frage ich, nein X Euro Cinquatnehuite. Im weiterradeln denke ich den elenden die Straße begleitenden Radweg hinauf nach Kriegsheim darüber nach, wie verwirrend das ist: Achtundfünfzig zu Fünfundachtzig. Da kann doch kein fremder Mensch drauskommen und ich gewinne dem markanten Quatrevinght, vier mal zwanzig, geradezu etwas Höheres, etwas von mathematischen Genies Geschaffenes ab.

Die Gegend zwischen Brumath und Haguenau lädt nicht ein zum Wildzelten. Felder, Felder, Felder. Erst hinter Haguenau gibt es wieder lauschige Wiesen … wobei die gar nicht so lauschig sind. Das hatte ich nicht bedacht, dass dort direkt die Autobahn anliegt und beschallt. Also schleppe ich mich in der Abenddämmerung weiter bis nach Walbourg. Fünf Kilometer durch verstechmückten Wald noch. Ich könnte theoretsich ja auch im Wald, will aber nicht. Meine Wildzeltprägung ist nun einmal so, dass ich gerne offene Gegend mit einem Sichtschutz im Rücken habe. Doch Walbourg mit seiner Abtei hält eingezäuntes bereit. Bei der Abtei könnte ich auf der Wiese neben dem Friedhof unterkommen. Ich stand kurz davor, das tatsächlich zu tun. Ein Hundegassigänger warnte mich jedoch, dass morgens die Leute mit den Hunden hier Gassi gehen. Die Tiere würden mich womöglich wachbellen.

Jenseits des Ortes finde ich offenes Land, eine geerntete Weide neben einer Pferdekoppel. Gutso. Baue auf. Es tröpfelt ein bisschen, ein halboptimaler Lagerplatz nur, aber er taugt.

(Bericht 27. Juni 2023 – zweitletzter Tag UmsLand Schweiz)

Basel da unten

Graffito an einer Backstein Gartenmauer, innerstädtisch. Zu sehen ist ein Pinguin und ein Elefant. Aus den Ritzen vor der Mauer wachsen grüne Pflanzen, die Szene prima ergänzen.

Schnecken mal wieder. Ich dachte schon, es gibt sie nicht mehr. Die trockenste Tour aller Zeiten, postuliere ich halbwach im Zelt. Neben mir rauscht der Fluss Lucelle. Man möge mir verzeihen, dass ich den französichen Namen des Flusses benutze. Er gefällt mir einfach besser als das dahin geschnodderte „Lützel“ mit all seiner Härte inmitten. Aber vielleicht passt der Flussname an seinen verschiedenen Flusskilometern ja zur Landschaft? Die Gegend ist hart hier unten. Ringsum blecken kalkweiße Felsen. Auf vielen von ihnen weht die Schweizer Flagge, das weiße Kreuz auf rotem Grund im unheimlich warmen Wind, der sich heute womöglich nicht ganz so stark gegen mich wenden wird wie gestern in der Hochebene. Hoffentlich.

In Flussnähe ist es feucht genug, dass sich die Schnecken aus der Erde trauen. Dunkelrote Nacktschnecken. Kriechen übers frisch gemähte Gras, das schon zu Heu wurde, noch ein bisschen restfeucht. Vergessenes Heu, das mir ein weicher Zeltunterboden war. Ich muss aufpassen, dass ich beim Packen keine Schnecke ins Zelt einwickele. Schüttele den Tau vom Oberzelt, drehe und wende das Innenzelt, schüttele Krümel und Insekten aus. Die Hängematte spanne ich an diesem Morgen nicht auf. Meine Entscheidung steht: Ich werde nicht dem Lützel folgen bis zur Birs und schließlich zum Rhein, nein nein, ich tue das, was der fremde Mann gesagt hat, ja ja, was er wohl eher suggerierte: Herr Irgendlink, denk dran, je näher Basel, die Großstadt kommt, desto mehr Brumm. Und der Radweg führt oft auf oder direkt neben der Straße. Willst Du mit diesem letzten, hektischen Eindruck vom Verderb der durchs Jahrhundert driftenden Motorgesellschaft die Schweizrunde beenden? Oder wählst Du nicht besser, den dornigen (besser steinigen (noch besser unendlich steilen)) Weg, den die Juraroute vorgibt?

Ich fühle mich fit und so radele ich den Pfad am Fluss entlang. Es sind nur ein zwei Kilometer bis ins Dorf. Der fremde Mann am gestrigen Abend sagte doch, man kann da radeln. Nuja. Man kann da radeln, aber man muss sich zwischen Hecke und einem frisch keimenden Maisfeld hindurch zwängen. Die Schößlinge sind gerade mal fünf Zentimeter hoch, stehen in Reih und Glied. Irgendwo liegt ein Baum quer, so dass der geneigte Radler schließlich doch durchs Feld trampeln muss, um vorbei zu kommen. Ich folge den Spuren des fremden Mannes und seines Sohnes, um so wenig Schaden wie möglich anzurichten, überquere einen Steg, lande beim Sportplatz. Sieh an, auch hier hätte ich prima zelten können.

Die Möglichkeiten, die man hat im Leben und die einen wie eine Wolke dunkler Materie umgeben, tun sich in seltenen Fällen posthum auf. Das ist dann der Moment, der einen in Selbstvertrauen aufgehen lässt, der einen stärkt, der konserviert werden muss, bzw. in einer geheimen Schublade im Sekretär des inneren Zweiflers abgelegt werden muss, die man in Momenten, in denen man – ja, bleiben wir beim Zeltlagerplatzsuch-Bild – dann aufzieht, wenn man irgendwo in der Dämmerung steht. Nahe einer großen Stadt womöglich und partout keinen geeigneten Zeltplatz zu finden scheint. Es ist verdammt schwer, bei Dunkelheit einen Zeltplatz zu finden, der taugt. Dennoch sind sie da. Immer. Es gibt viele und überall. Sie verstecken sich in der dunklen Materie, die im Moment eben nicht zulässt, dass man die paar Quadratmeter für die Nacht an gemütlicher Stelle findet, die man braucht.

Aber was rede ich. Ich hatte doch den besten Platz der Welt. Im Dorf angekommen, radele ich zum kleinen Volg-Laden, vergleichbar etwa mit, ja was? Unvergleichbar. Man kann dort jedenfalls alles, was das Reisendenherz begehrt, kaufen. Ich kaufe Käse, ein Brot, Milch, Saft, einen fertigen Hörnlisalat, dann ist mein Geld alle. Nur noch vier Franken nochwas. Und begebe mich zum Abzweig der Juraroute. Dort stehen die für die Gegend üblichen Hinweisschilder für RadlerInnen, dass die Strecke soundsoviel Meter auf soundsoviele Kilometer steigt. Ich meine, es waren sechs Prozent angezeigt, vielleicht auch neun. Egal, hau rein. Nennt mich „Erster-Gang-Irgend“, oder „Irgend der Erstgänger“ (in Anlehnung an das obskure Wort Wiedergänger?).

Eine gute Stunde Arbeit und ich bin oben. Zwischendurch messe ich meine Höhenmeter pro Sekunde in Erinnerung auf meine Radlerbegegnung mit Christian, dem Mikroelektronikingenieur, komme auf zehn bis zwölf Zentimeter pro Sekunde. Aber meine Messung ist nicht präzise. Zwanzig sind es jedenfalls nicht. Muss schmunzeln ob der Zahl zwanzig, die ja auch beim männlichen Geschlecht die Messlatte allen Seins ist, schmunzele mich den Berg hinauf und lande auf der großen Wiese, von der aus man mutmaßlich die Alpen sehen kann. Da sind keine Alpen. Da ist nur Dunst, Sonne, verderbter Sommer, leidendes Gras, Kühe, die im Schatten von hohen Bäumen grasen, Elektrozaun, Stacheldraht gar, aber auch viel Offenes. Es hätte für mich am gestrigen Abend genug Wildzeltmöglichkeiten gegeben, selbst auf der kleinen, sich windenden Bergstraße schon. Eine Stunde Kurbeln und die dunkle Materie des Wildzeltreisenden wird plötzlich sichtbar. Sie offenbart einen prächtigen, gemütlichen Wohlfühlplatz nach dem anderen. Irgendwo gibt es sogar einen Schuppen, etwas abseits der Straße, in dem sich ein Selbstbedienungsladen befindet, der Produkte eines nahe gelegenen Hofs bereit hält. Fleisch, Käse, kühle Getränke in einer Styroporbox. Ich wäre nicht verhungert. Zahlen kann man mit Bargeld oder Twint, ein Handybezahlsystem, das in der Schweiz sehr populär ist. Auf treu und Glauben.

Ich ruhe bei dem Picknickplatz neben der Hofladenscheune. Zwei Feuerstellen gibt es, Bänke, ein Tisch, viel Schatten, schreibe den Blogeintrag vom Vortag, habe viel Ruhe und Zeit. Es mag gerade mal zehn Uhr sein, ich bin fast oben. Basel noch etwa zwanzig Kilometer entfernt.

Die Strecke hat sich tatsächlich gelohnt. Die kleine Straße gehört mir alleine. Weiter gehts durch Felder und Wiesen vorbei an Kühen. Noch ein Alpenblick ohne Alpen, dann sehe ich plötzlich die andere Seite. Nach Norden zeichnet sich fern ein Gebirge ab mit runden, ballonartigen Bergrücken. Die Vogesen? Der Grand Ballon? Da stand ich vor zwei Wochen und schaute in meine Zukunft. Hierher. Nun gehts weiter. Mariastein. Ein wuchtiges Klosterstädtchen. Baustelle. Schlechte Umleitungsausschilderung. Ich mogele mich hinterm Briefzusteller durch die Bauarbeiter. Wie andere Radlerinnen und Radler auch. Nächste Kuppe. Nächster Blick in die Tiefe. Basel da unten. Industrie und hohe Häuser, zum Greifen nahe und auf einem Hügel gleich vor mir eine riesige Ruine. Sie heißt Landskron. Wie die Ruine Landskron nahe Oppenheim am Rhein. In dem Städtchen wohnte ich einmal eine Weile.

Wenn Du auf der Kuppe hinter Mariastein mit Blick zur Landskron angelangt bist, denkst Du unweigerlich, ach Basel, gleich bin ich da. Weit gefehlt. Der Radweg macht noch ein paar Schlenker, Basels Agglomeration verschwindet noch einmal hinter einem Bergrücken. Als würden Kulissenschieber in einem überdimensionierten Theater Szene um Szene neue grünwaldige Bergrücken heranschaffen. Plötzlich in Frankreich, Sundgau, Bahnlinie, der Radweg bleibt gnädig flach. Zwei Fußgänger irren suchend umher. Sie haben die Hülle eines Fernglases verloren. Der Wind hat sie womöglich verweht. Ich verspreche, die Augen offen zu halten und sie auf einen Pfosten zu hängen, falls ich sie finde. In der Tat wurde die Hülle gefunden. Von einem Mann mit Elektromobil. Er kehrte extra noch einmal um, um es den beiden Fußgängern zu holen.

Natürlich verirre ich mich. Natürlich gabs noch mal eine kleine Baustelle auf dem Radweg irgendwo in oder nahe Oberwil. Die letzten fünf oder mehr Kilometer führen mehr oder wenig durch die Agglomeration, durch Wohngebiete, am Ende schnurgerade auf einer Fahrradstraße bis zu einem Park namens Totentanz. Der ist unweit des Rheinufers.

Am Totentanz hatte ich mich mit M. verabredet. Ein Plausch am Nachmittag und vielleicht würde sie sogar ein paar Kilometer mitradeln. Ihre Bude ist nur wenige hundert Meter vom Radweg entfernt in der Altstadt.

In einem Park lümmeln wir eine Weile auf der Wiese, quatschen, radeln schließlich weiter am Rheinufer bis zum Hünigenkanal, den ich von meinen Mit-dem-Rad-zur-Liebsten-Touren nur zu gut kenne. M. kennt die Gegend in- und auswendig. Komm mit, sagt sie, ist aber nicht unbedingt schön zu radeln, ich möcht dir was zeigen. Zunächst folgen wir der Kanalroute ein paar Kilometer, verlassen das kleine Hunigue, kommen in die Petite Camargue, ein Idyll aus Schilf, Froschgequake, Libellen und anderen Insekten. Durchzogen vom Kanal. Biegen links ab und stehen nach ein paar Minuten in einem turbulenten, hektischen, lauten typisch französischen Gewerbegebiet. Hier gibts die großen Supermärkte, Baumarkt, Fastfood, Parkplätze, Kreisverkehre. Ganz verloren per Radel steuert M. uns auf einen kahlen Bau zu, eine riesige Boulangerie und Café. Lädt mich ein auf Törtchen und Kaffee. Wir schleppen unser Tablett hinauf in den ersten Stock und raus auf die Terrasse, von wo man einen wunderbaren Blick hat übers Getümmel. Tja, M. hat meinen Geschmack für Skurriles gut getroffen. Dunkle Materie mal wieder. Da radelte ich in den letzten Jahren so oft an diesem „Kleinod“ vorbei, ahnungslos, nur wenige hundert Meter vom wirklichen Naturidyll entfernt …

(Verfasst am 2. Juli 2023)