Die große weite Wüste rings um einen längst versiegten, imaginären Aralsee irgendwo im Zentralasien der Grenzziehung

Das Tauwetter bringt es an den Tag. Die Karre steht ein paar Zentimeter zu weit über der gelben Linie, die den Parkplatz markiert. Im Schneegestöber vorgestern Nacht waren sämtliche Straßenmarkierungen verschwunden, so dass wir auf gut Glück – besser gesagt nach natürlichem Instinkt – parkten. Knapp vor dem Durchgang für die Bewohner des Hauses, aber nicht so weit vorne, dass die Fahrertür sich nicht mehr öffnen lässt, weil sie gegen die Buchshecke des Vorgartens stößt.

Vor ein paar Monaten stand das Auto ganz woanders neben einem Durchfahrt verboten-Schild am Rhein. Wir packten eine Picknicktasche und hatten schon einen Platz auf einer Kiesbank im Fluss ausgespäht, auf der wir ein Päuschen machen würden. Mit Blick auf Liechtenstein und Heidiland. Von fern näherte sich ein SUV auf dem schmalen Teerweg auf dem Rheindamm, auf dem die Durchfahrt, nur mit Bewilligung, erlaubt ist. Je näher das Fahrzeug kam, desto besser war zu erkennen, dass es ein Polizeifahrzeug war. Vier Meter Platz bis zur anderen  Wegseite. Noch einige andere Autos standen auf dem Areal, das zwischen Straße und verbotenem Weg wie geschaffen wirkte, das Auto abzustellen und zu flanieren oder den Hund zu gehen. Ein grauer Mann in Uniform steuerte das Polizeiauto, verlangsamte, als er uns begegnete, kurbelte die Scheibe runter, flaumte uns an, das Auto stehe zu mehr als der Hälfte jenseits des Verbotsschilds. Die Buße für solch eine Ordnungswidrigkeit betrage 100 CHF. „Was würden Sie mit 100 Franken alles anfangen?“ fragte er, „Wieviel könnten Sie dafür tanken, wieviele Kilometer fahren, schick essen gehen …“ Pipapo-Rhetorik inklusive rassistischem Machtspiel, denn er spulte auch die gesamte Leier herunter à la „Bei sich zu Hause würden Sie das nicht tun, oder?“ Die anderen Fahrzeuge auf dem Platz trugen Schweizer Kennzeichen, parkten nicht zur Hälfte jenseits des Schilds und ihre Besitzer waren auch nicht vor Ort.

Jetzt bloß nichts sagen, Herr Irgendlink, dachte ich. Pipapo-Rhetorische Fragen darf man nicht beantworten. Demütig bat ich um Entschuldigung, versicherte, das Auto wegzufahren und überlegte dennoch, ob es 100 Franken wert wäre, Paroli zu bieten, nur, um den Mann zu quälen. Die Worte lagen eigentlich schon bereit im Hirn und sie hätten ihn sehr hart getroffen und ihm den Feierabend nachhaltig verdorben, dessen bin ich mir sicher. Letzten Endes hielt ich die Worte nur zurück, um ihn zu verschonen, ihm den Feierabend nicht zu verderben, nicht etwa des Geldes wegen. In derartigen Konfliktmomenten setzt bei mir oft die materielle Vernunft aus und dann ist es mir plötzlich egal, wieviel eine gezielt auf verbale Vernichtung des Gegners abzielende Antwort kosten würde.
Die Konsequenz, dass stattdessen ich den Konflikt ein zwei Tage mitnehmen musste und ihn mit mir selbst verarbeiten musste, war mir durchaus bewusst. Märtyrer des kleinen Mannes, ich. Auch, dass irgendwann eine Geschichte aus der Sache werden würde, wenn auch nur diese.
Es gab keine Buße. Ich parkte das Auto auf dem offiziellen Parkplatz. Wir picknickten im Fluss und schichteten Steinmännchen.

Monate später rückte ein Bautrupp an, um vor Frau SoSos Haus Markierungen anzubringen. Die privaten Parkplätze direkt vorm Vorgarten wurden ausgemessen und nach Plan mit gelber Farbe markiert und mit Nummern versehen. Wo früher vier Autos Platz hatten, waren nun drei große Parkflächen markiert. Erstaunlich, wie abrupt sich das Parkverhalten änderte. Plötzlich parkten auf den drei Parkplätzen nur noch drei Fahrzeuge luftig leicht. Insbesondere die Fläche mit dem Smart der Nachbarin wirkt seither wie eine große weite Wüste rings um einen längst versiegten, imaginären Aralsee irgendwo im Zentralasien der Grenzziehung.

Ich habe einmal von einer Stadt gelesen, die im Verkehr nahezu erstickte. Unfälle und Stress zu Hauf und ewiger Stau, bis ein holländischer Verkehrsplaner eine revolutionäre Umplanung vornahm. Alle Markierungen, Ampeln und Schilder der Stadt wurden abmontiert, der Verkehr quasi sich selbst überlassen, jegliche Schranke war gefallen, Regeln gab es kaum noch und die Menschen mussten wieder selbstständig denken, statt sich auf Regeln zu berufen. Eine Ode an die Vernunft? Die Maßnahme habe jedenfalls eine deutliche Verbesserung gebracht. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt.

Nachtrag: @kaffeebeimir hat den Verkehrsplaner Hans Monderman gefunden. Hier ein Wikipediaartikel zum Thema.

Heute Morgen, als ich die Schneeschmelze beobachtete und nach und nach erkannte, wie unser Auto aus dem Zustand des natürlichen, vernünftigen Parkens geradezu heraus schmolz in die Schablone der Verkehrsregeln, die das Erscheinen der gelben Markierungen hervorgebracht hatte, musste ich daran denken. An diese merkwürdige Regelversessenheit von uns Menschen. An die Standard-Entschuldigung, dass es ohne Regeln nun einmal nicht geht, bei so vielen Menschen auf so engem Raum, dass wir Regeln brauchen, um die Schwachen zu schützen. Regeln sind Grenzen. Und ich fragte mich, ob die Regeln nicht oft nur deshalb aufgestellt werden, um die Starken und die Mächtigen zu schützen vor diesen lächerlichen kleinen Schmeißfliegen von Menschen, die mit ihren verbeulten uralten Karren mehr als zur Hälfte jenseits von Verboten-Schildern parken.

96 Verbotsschilder als Postercollage
96 Verbotsschilder als Postercollage – für weniger als eine Hundert-Franken-Buße in der Sektion „Kunstwerke“ dieses Blogs erhältlich. Dort kann man es auch ein wenig vergrößern, wenn man es anklickt. Jedes Bild ist ein multiples Unikat, ein sogenanntes ‚Uniquiple‘.

Unterwegs im Herzblatt-Hubschrauber der Reiseliteratur

Herr Irgendlink, wo sehen Sie sich in fünf Monaten?
Auf der Straße.
Genauer auf Radwegen.
Rings um Rheinland-Pfalz.
Oder rund um Bayern.
Oder auf dem Atlantik-Radweg.

Was klingen mag wie ein vermurkstes Bewerbungsgespräch für einen Junior- oder Seniorposten in einem kosmodämonischen, international agierenden Unternehmen, ist nur eine grobe Analyse einer Künstler-nah-Zukunft. Wie jedes Jahr gegen Ende halte ich die Jonglierbälle meiner Projekte – rein gedanklich – einen Moment an und betrachte, wie die Planung fürs nächste Jahr aussehen könnte.

RLP-Explorer – radelnd, erlebend, schreibend auf Forschungsreise in den Heimaten Rheinland-Pfalz‘

Da ist zum einen der Projektvorschlag für den Kultursommer Rheinland-Pfalz, den ich im Oktober abgeschickt habe. Das Thema „Heimat(en)“ des nächsten Jahres ist ebenso unbequem wie reizvoll, so dass ich nicht umhin kam, ein Projekt einzureichen. Mich reizt die Kontroverse. Und ich habe als radelnder, schreibender Künstler einiges beizutragen. Das Projekt unter dem Titel Rheinland-Pfalz-Explorer trägt die Registernummer 182. Es wird schwer werden, gefördert zu werden, zumal meine Bühne ausschließlich virtuell ist und mit den vielen Bühnen aus Holz und Stahl konkurieren muss.

Als Rheinland-Pfalz-Explorer (RLP-Explorer) sucht der Autor und Künstler nach Spuren von Heimat und tritt in Kontakt zu Land und Leuten, um herauszufinden, wo die eine Heimat beginnt, wo die andere Heimat endet. Denn vor allem eines wurde […] klar, eine große, landesweite Heimat, die alle Bürgerinnen und Bürger des Bundeslandes gleichermaßen empfinden, gibt es nicht in Rheinland-Pfalz. Die Frage, ob Heimat womöglich ohnehin nicht an Grenzen festzumachen ist oder gar nach einer Art Zwiebelprinzip funktioniert und in ihrer Intensität zum jeweiligen Individuum hin zunimmt, steht zur Diskussion wie auch die zeitliche Komponente des Heimatbegriffs.

Im Januar fällt die Entscheidung, ob das Projekt gefördert wird, sprich, ob ich es finanzieren kann.
Vor vierzehn Jahren hatte ich zuletzt ein Projekt im Kultursommer realisiert. Der RLP-Explorer würde mein drittes Projekt der alljährlich zwischen Mai und Oktober stattfindenden Veranstaltungsreihe werden.

Da meine ‚Bühne‘ als klassische Bühne gar nicht existiert, es vielmehr eine virtuelle Sache mit fleischlichem Backend (der radelnde RLP-Explorer, moi même) wird, bin ich schon sehr gespannt, ob die Sache angenommen wird.

Bayern, das dritte deutsche Bundesland, das ich auf Radwegen umrunde

Falls nicht, habe ich noch zwei weitere Asse im Ärmel der Reiseliteratur. Plan B ist, die 2000 Kilometer lange Reise rund um Bayern, die ich letzten Spätsommer begonnen habe, zu Ende zu radeln. Entgegen dem Uhrzeigersinn. Von Lindau entlang der Alpen, ostwärts, nordwärts, westwärts, südwärts bis zurück ins Taubertal. Die ersten fünfhundert Kilometer, die ich im vergangenen August erradelte und schrieb, sind in dieser Rubrik zu finden. Kunst ist auch daraus entstanden: eine Collage mit Bildern zwischen Tauber und Allgäu.

Vélodyssée – von der Bretagne in die Pyrenäen auf dem Atlantikradweg

Zu guter Letzt ist da noch mein schon 2016 ausbaldowertes Projekt auf dem Atlantik-Radweg, das ich bisher noch nicht verwirklichen konnte. Dabei wartet die eigens dafür angelegte Blogbuch-Seite Radlantix schon begierig, gefüllt zu werden.

Landkarte mit den Konturen der grenznahen Radwege rund um Rheinland-Pfalz, Saarland, dem Tourismus-Konstrukt Paminaland (Pfalz, Nordelsass, Mittlerer Oberrhein), sowie nahe der Westgrenze Bayerns von etwa Würzburg bis Lindau. Zwischen den Linien entstehen neue Flächen.
Auf faszinierende Weise entsteht Neuland zwischen den umradelten Ländern, sehr deutlich erkennbar an den Radwegestrecken zwischen Rheinland-Pfalz und Saarland. Grenzerisches Niemandsland. Südlich von Rheinland-Pfalz erkennt man die Radrunde des Paminablogs, östlich die 2018 begonnene Reise rund um Bayern.

Wenn Sie mich fragen, liegt hier eine Win-win-win-Situation vor. Egal was die Zukunft bringt, Fördergeld oder keins, Aufmerksamkeit oder nicht, irgendwo werde ich meinen Reifenabdruck hinterlassen. Und alle dürfen mitkommen, virtuell als Gepäckträgerreisende. (Und eigentlich hätte ich auch Lust, zum Nordkap zu radeln/schreiben. Da war ich schon lange nicht mehr :-))

Also, liebe Leserinnen und Leser, wer soll jetzt Euer Herzblatt sein? Der vielheimatige Rheinland-Pfälzer, der 2018 begonnene Bayer, oder die fast in Vergessenheit geratene Vélodyssée?

Neuer Moorlander-Kalender ab sofort bestellbar

Quadratisches Schwarz-Weiß-Foto. Traktorspur im Wald, die mit viel Phantasie aussieht wie ein Rippenskelett.

Eingefleischte Fans werden sich an den legendären Herbst 2017 erinnern: erstmals wartet MudArt-Legende Heiko Moorlander mit einem Jahreskalender auf, der sich durchaus mit den Kalendern berühmter Weltkonzerne messen kann. Statt schicker Autos und junger Mädchen wie bei bekannten Luxusautomarken oder scharfer Kettensägen und ebenso adretten Mädchen wie man es von den Kalendern mancher Kettensägenhersteller kennt, bietet Moorlanders MudArt-Kalender tiefere Einblicke ins Geschehen der internationalen MudArt, die hie und da auch als ‚die schlüpfrigste Angelegenheit seit Erfindung der Kunst‘ bezeichnet wird.

Kurzum: Ein Muss für jeden Fan, jede Sammlerin, jeden Sammler.

Format A4, 12 Monatsblätter, Titelblatt und Infoblatt.

Infos: http://erdversteck.de/2018/11/12/moorlander-2019-der-kalender/

Bestellen können Sie den Moorlander-Kalender 2019 per Mail zum Preis von 12 Euro plus Versandkosten (in Deutschland 3 Euro, Auslandsversand auf Anfrage).

Zwölf Kalenderblätter mit Kalendarium als Miniatur-Vorschaugrafiken im Polaroidstil zufällig verwinkelt angeordnet in einem Raster von vier mal vier Bildern. Sie verpassen keine Bilder. Unter den Einzelnen Grafiken befinden sich die Bildtitel Januar bis Dezember 2019.

Gegend Entwürfe 2018 – Literatur aus Rheinland-Pfalz

Gestern erfahre ich, dass  das Buch Gegend Entwürfe – Literatur aus Rheinland-Pfalz (mit einem Blogbeitrag von mir)  nun doch gedruckt wurde. Soweit ich mich erinnere, war geplant, dass es 2017 erscheint. Als Blogger bin ich mit einer Geschichte aus dem Irgendlink-Blog darin vertreten.

Herrjeh, lief das alles kreuz und quer und zu einem guten Teil muss ich Facebook, die Ratte, dafür verantwortlich machen, dass ich weder erfahren habe, dass das Buch doch noch wahr wurde, noch eine Kurzbiografie dafür eingereicht habe, noch genau weiß, welche Geschichte von mir denn in dem Buch veröffentlicht wurde.

Nachtrag: natürlich kam alles gut. Das Buch wurde sorgfältig redigiert, die Metatexte der beiden Herausgeber bereichern das kleine Kunstwerk, das zudem sehr solid gedruckt wurde und über ein schönes Layout verfügt. Das Lila Lesebändchen ist als eine Art Schwarzer Gürtel der Literatur das Tüpfelchen auf dem I.

Rheinpfalz-Kulturredakteurin Andrea Dittgen hat das Buch hier besprochen.

In einem weiteren Artikel richtet Andrea Dittgen den Fokus auf den Abschnitt ‚Familiengeschichten‘ der Gegend Entwürfe in dem vorwiegend Zweibrücker Autorinnen und Autoren zu Wort kommen.

Die Gegend Entwürfe 2018 sind ein Spaziergang durch die literarische Szene in Rheinland-Pfalz. Als Blogger war ich eingeladen, einen Beitrag zu leisten. Wie das mit dem Bloggen so ist (und mit der Kommunikation auf Facebook): Ich weiß noch nicht einmal, welcher meiner Blogartikel im Buch erschien.

Mein derzeitiger Literaturliebesstatus: warte auf das Belegexemplar.

Es ist ja auch alles schon so lange her. Die Kommunikation über das Literatur-Projekt fand ausschließlich über Facebook statt. Ich bin Facebook-Legastheniker. Der Herausgeber vermutlich auch. Den Rest des kommunikativen Chaos steuerten die Algorithmen bei. Per Direktnachricht hatte ich dem Herausgeber diese beiden Geschichten vorgeschlagen; er könne sich bedienen nach Herzenslust.

Die Parkbank am nördlichsten Ende von Rheinland-Pfalz

Die Omlette-Situation

Okay. Dann kam Weihnachten 2017 und das Buch war nicht erschienen.

Mein Hirn war auf Waiting For Input geschaltet, sprich, ich wartete, um zu erfahren, welcher der Blogartikel ins Buch kommt, damit ich dem Text den letzten literarischen Schliff geben kann. Als Blogger gehört man ja nicht zum Hochadel der Literatur. Sie kennen das, im Blog geht es zu wie in einer Bildhauerwerkstatt. Aufgeräumt wird immer erst später. Man kreiert Texte auf bestmöglichem Niveau, aber es handelt sich wegen des Literatur-on-the-fly-Gebarens doch stets um Entwürfe, um ungeschliffene Rohliteratur.

So weit so gut. Ich halte fest: Der Herausgeber wollte mich ins Buch haben, ich sagte ja, der Pakt war geschlossen. Die Fähigkeit, das Ganze auf telepathischem Weg zu vollenden, scheiterte. Den Rest hat Facebook verpatzt.

Gestern (November 2018) erhielt ich eine Direktnachricht vom Herausgeber, wohin der Verlag denn das Belegexemplar schicken soll.

Ich scrollte durch die Korrespondenz und entdeckte eine Nachricht vom Januar 2018, in der er nach einer Kurzvita fragte. Peinlich. Die Nachricht habe ich nie gesehen. Oder auch doch? Vielleicht werden auf Facebook Nachrichten und Beiträge nach Gutdünken übermittelt? Ach und es ist ohnehin alles so wischi-waschi, so verwirrend, und überhaupt, es geht ja bei Facebook nicht darum, dass die Teilnehmenden es bequem und übersichtlich haben, die Leute sollen kaufen, Werbung schalten, nix wie drauflos, je orientierungsloser die User sind, desto besser …

Ich bin gespannt auf das Belegexemplar. Der Herausgeber und ich kommunizieren mittlerweile auch per Mail. Also zumindest ich (denn, wie ich der Direktnachrichten-Korrespondenz entnehme, habe ich ihm auch schon früher Mails geschickt) … die Verlagsseite mit der Autorinnenliste liest sich übrigens gut: Rafik Schami, Norman Ohler, Wolfgang Ohler, Monika Rinck … fast dreißig Autorinnen und Autoren versammeln sich mit Texten und Gesprächen in dem 300 Seiten starken Buch.

Apropos Gespräch. Blick über die Schulter: Da steht ein Telefon (das ist das ‚Warum liegt denn da Stroh‘ der Feinen Künste).

Ein Gutes hat die Sache auch. Ich habe meine Bücher-Seite aktualisiert

 

Der innere Bisquitkuchen der Seele

Begleiten Sie mich auf einen Spaziergang durch das einsame Gehöft, in dessen hintersten Winkel über dem Hühnerstall unter einem löchrigen, Moos bewachsenen Dach sich meine spartanisch eingerichtete Künstlerbude befindet. Schlagen Sie die Bettdecke auf in der Morgendämmerung, steigen Sie mit mir die Leiter hinab aus dem Hochbett und vier Stufen wieder hinauf in die schäbige Küche, wo sich seit gestern Abend frisch gespültes Geschirr neben der Spüle stapelt bis auf Brusthöhe. Zapfen wir uns gemeinsam ein paar Deziliter Wasser und erhitzen es in einem uralten Wasserkocher, dessen Wackelkontakt wahlweise dafür sorgt, dass das Wasser nur lauwarm wird oder dass es kocht und kocht und kocht, während wir die Bude verlassen, der Katze die Ateliertür öffnen, damit sie fressen kann, durchs Atelier scharwenzeln. Vorbei am Bierkasten, stellen  wir die leeren Flaschen des Abends hinein, rammen die klemmende Stahltür am anderen Ende des Raums auf und laufen auf der Nordseite zwischen der Halle mit den Wohnwagen und dem Lagerschuppen vorbei zum Hühnerstall. Die zehn Hennen kriegen je 35 Gramm Körner und 70 Gramm Legemehl. Dafür hatte ich einmal zwei alte Blechdosen abgewogen und markiert – damals waren es noch vierzehn Hühner und ein Hahn. Es ist also wichtig, die Becher nur zu zehn Fünfzehntel zu füllen.

Der Hühnerstall ist eigentlich ein ehemaliger Schweinestall, an dessen Mittelgang rechts und links noch die alten Tröge flankieren. Es ist immer ein Balanceakt – im wahrsten Wortsinn, mit den beiden Bechern durch die hungrigen Tiere zu balancieren, den halben Meter hinauf auf die Trogkante und auf der anderen Seite wieder hinab bis zu den Hühnernäpfen, die eigentlich keine Näpfe sind, sondern aus Brettern zusammengenagelte längliche – ja, ich würde sagen, ebenfalls Tröge. Zwei Stück. Daneben stehen zwei alte Kochtöpfe, in denen Wasser ist. Vergessen Sie nicht, nachzuschauen, ob noch genug drin ist, sonst müssen die Viecher dursten. Auf dem Rückweg schauen wir in der dunkelsten Ecke des Stalls in den Nestern direkt neben den Schlafstangen, ob schon Eier darin sind. Meist sitzt noch ein Huhn in einem der Nester, seien wir behutsam.

Langsam fährt das Hirn hoch. Also meines. Ich weiß nicht, wie es sich mit Ihrem Hirn verhält. Aber meines ist frühmorgens immer so wunderbar unschuldig, noch umlullt von Träumen – hoffentlich guten Träumen – mein Hirn ist dann in einem friedlichen Zustand und voll und ganz integer. Es denkt noch kaum, nimmt wahr, lässt den Körper automatisch funktionieren, lässt ihm wie einem kleinen, süßen, pelzigen Tier die nötige Ruhe, in Unschuld zu erwachen und sich an dem großen, friedlichen Nichts zu nähren, das die Grundlage für ein ruhiges, unbesorgtes Sein ist. Ein Nichts wie ein Bisquitkuchen, kurz bevor er mit Marmelade beschmiert wird und gerollt wird. Eine schier unendliche Weite feinsten, duftenden Bisquits, auf der schlicht alles möglich ist, alles möglich sein könnte, solange man nicht darüber nachdenkt, was möglich ist und was man gegebenenfalls in der Zeitspanne jetzt bis irgendwann erreichen könnte. Der innere Bisquitkuchen der Seele gilt so lange als unendlich unschuldig, bis man anfängt, ihn mit Marmelade zu beschmieren und ihn zusammen zu rollen. Mit diesen beiden Akten wird er festgeschrieben zu dem was er ist und er erhält seine Bestimmung, die er vorher nicht hatte und mit seiner Bestimmung verliert er alle anderen Bestimmungen, die er hätte haben können. Er entsteht. Entstehen macht Vergehen erst möglich.

Doch zurück zu den Hühnernestern. Ein Ei. Nicht schlecht. Ohne das weiße Huhn anzuschauen, das im Nest daneben sitzt, nähern wir uns langsam und greifen nach dem Ei und schon geht das Gegacker und Gezeter los. Hühner dulden keine Nähe. Die Henne flattert ab. Staub stiept. Ein weiteres Ei kommt zum Vorschein, wir schnappen es. Es ist noch huhnwarm.

Vielleicht ist das der Moment, an dem es beginnt, an dem das Hirn, also meins – kommen Sie mal mit rein und schauen sie sich um, versuchen Sie gemeinsam mit mir herauszufinden, ob das der Moment ist, an dem mein Hirn in seltsamen Denkschleifen damit beginnt, Systeme aufzubauen, die nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln betreffen. Das Hirn denkt, das Heu in den Nestern könnte mal wieder erneuert werden. Das impliziert unweigerlich, dass Hände das alte Heu herausnehmen müssen und neues Heu hinein füllen. Kein Thema. Ganz einfache Sache. Doch wohin mit dem alten Heu und woher das neue Heu? Wir lassen die Nester erst einmal wie sie sind und nehmen die Eier. Im Vorraum des Hühnerstalls steht ein Korb mit frischem Heu. Das alte Heu muss in die entgegengesetzte Richtung zur Südseite des einsamen Gehöfts auf den Komposthaufen. Hierzu müsste man die Südtüre des Stalls öffnen, die Gehegetüre öffnen, zum Komposthaufen neben dem Quittenbaum gehen und das Heu dort hinschütten. Um es überhaupt schütten zu können, müssen wir es vorher in einen Korb füllen, den wir zunächst finden müssen und zu den Nestern bringen müssen. Okay, wir könnten auch einen Schubkarren finden und die Nester insgesamt darauf packen und sie am Komposthaufen … ein Schublarren steht bestimmt bei den Körben irgendwo in der großen Halle des einsamen Gehöfts, wo sich allerlei Gerätschaft, Rasenmäher, Traktoren und Schweißgeräte befinden. Wir lassen das erst einmal bleiben mit dem Nester neu mit Heu bestücken, kommen Sie mit.

Unser Kaffeewasser kocht bestimmt schon. Auf der Nordseite kommen wir am alten Traktor vorbei. Ein schöner, grüner Deutz, der leider kein Tüv mehr hat. Die Motorhaube steht offen. Ein Batterieladegerät hängt an. Da es nach über 24 Stunden noch immer nicht grün leuchtet, können wir davon ausgehen, dass die Batterie kaputt ist. Eigentlich ist die ganze Elektrik im Arsch. Das Hirn gibt schon seit Monaten Anweisungen, dass der Körper sich wie auch immer einmal um den Traktor kümmert. Immer, wenn wir an dem Traktor vorbei kommen, setzt eine Art Mahnreflex ein, der dem Gehirn ja auch nicht gut tut. Wertvolle Rechenzeit geht dabei drauf, wenn man wieder und wieder etwas anmahnen muss, statt es einfach zu erledigen. Doch so einfach ist das nicht mit dem Traktor. Im Prinzip ist es wie mit dem erneuern der Nester. Ein Rattenschwanz an Dingen hängt an der einzelnen Tat, Traktor reparieren. Viele Türen müssen geöffnet werden.

Ein elektrischer Defekt, der wie ein Hühnernest funktioniert. Dafür muss man viel nachdenken und davor scheut man sich. Also besser die Denkenergie ins Mahnen stecken. Das sind immer nur ein paar Sekunden, wenn der Traktor ins Sichtfeld kommt. Um ihn zu reparieren muss man Stunden am Stück nachdenken und obendrein auch noch handeln. Fehler finden, Bauteile bestellen, Schrauben lösen … schnell weg, das vergessen wir besser. Vielleicht den Schubkarren oder einen Korb? Ach ne, das Kaffeewasser erst einmal. Katze frisst. Ateliertür einen Spalt offen lassen, damit sie anschließend raus kann.

Wir schaffen es bis in die Wohnung. Eier in den Kühlschrank. Endlich ein Kaffee. Irgendwie haben wir es geschafft, ohne Größeres zu schaffen, Katze und Hühner zu füttern, zwei Eier zu retten und Kaffee zu kochen und sitzen nun in den beiden Sesseln in der Künstlerbude unterm löchrigen Dach mit dem vielen Moos darauf. Mhmmm Kaffee. Blick zum Fenster. Könnte geputzt werden. Blick zum Dach. Müsste erneuert werden. Gut, dass es nicht regnet und apropos, der Winter naht und man müsste die Regenrinne so umbauen, dass das Wasser nicht mehr in die Regenfässer fließt, sondern über ein fünf Meter langes Rohr direkt in den Garten geleitet wird. Außerdem müsste das Wasser abgelassen werden aus den Fässern und, seit Jahren denken wir darüber nach, alle Fässer einmal gründlich zu reinigen und die komplizierte Schlauchkonstruktion, mit der sie verbunden sind zu erneuern. Sind Sie noch bei mir? Gell, es ist ganz schön verwirrend, in so einem fremden Hirn zu stöbern?!

Der Kaffee tut gut. Unser Blick fällt auf die drei Poster dreier Reisen, die nebeneinander über dem Bürotisch hängen. Der Bürotisch ist genial vor Regen geschützt. Falls es denn mal wieder so stark regnet, dass es durchs marode Künstlerbudendach tröpfelt, denn überm Bürotisch ist auch ein Teil Hochbett. Das Wasser würde also zuerst ins Bett und dann auf den Computer und die Poster. Das Bett rettet die Kunst. Der Preis ist doch vertretbar, oder sollen wir das Dach reparieren?

Schon seit Sommer sollte eigentlich ein viertes Poster an der Wand hängen, das halb fertig designt im Computer gaukelt. Sieht ziemlich gut aus, aber ich bin noch nicht ganz zufrieden. Sie wären auch nicht ganz zufrieden, wenn Sie ich wären, vermute ich. Irgendwas müssen wir daran noch ändern, kommen Sie, wir schalten mal den Computer ein und klemmen uns hinter die Sache. Derweil gackern die Hühner im Stall unter uns. Wieder ein Ei im schmutzigen Nest. Während das Betriebssystem lädt, könnten wir doch die Körbe, damit wir die Nester, aber dann müssten wir am Traktor vorbei, der ja kaputt, ach herrjeh, was nicht alles kaputt ist, steht nicht irgendwo bei den Schubkarren und Körben auch das Schweißgerät, mit dem wir das Blechteil des großen Balkenmähers schweißen könnten, damit entweder Sie oder ich später, wenn wir mit der Computerarbeit fertig sind, das hohe Gras unter den Quittenbäumen mähen könnten …

Das System ist geladen. Was wollten wir? Erst einmal Mails checken und bis das Mailprogramm geladen ist, den Browser öffnen und da er nicht richtig beendet wurde am gestrigen Abend – waren Sie das, der den Computer einfach so ausgeschaltet hat, oder ich – öffnen sich alle Fenster vom Abend, Twitter gucken, Facebook. Achgott und da ist noch die Bestellung beim Elektronikladen, die wir noch nicht weggeschickt haben, weil wir erst einmal das Bankkonto anschauen müssen in einem anderen Browserfenster.

Die Mails sind da. Jemand will was zu einem bestimmten Zeitpunkt und da fällt uns siedend heiß ein, dass wir eine Sache verbummelt haben und deshalb einen Umweg machen mussten und warten mussten bis Bedingung A und B erfüllt sind, damit wir uns an C aktiv ranmachen können und dem, der per Mail etwas will, endlich zur Seite stehen können. Alles kein großer Akt, aber so filigran zerzieselt wie ein Fraktal. In Twitter gibt es diverse interessante Nachrichten, kommen Sie, wir lesen erst einmal diesen verlinkten Zeitungsartikel über die Regierungsbildung in Bayern. Diese Freien Wähler sind Ihnen doch auch suspekt, oder? So eine Art CSU, nur anders, ach, lassen wir das, der Artikel ist hinter einer Bezahlschranke. So ärgerlich. Sollen wir uns beschweren bei dem Twitterer, dass er solche Artikel überhaupt verlinkt?

Die Bestellung kann raus, auf dem Bankkonto ist genug Geld.

Wir schauen mal im Ordner mit dem Poster, was wir noch ändern können … Obschon, das Hirn ist mittlerweile derart durcheinander, dass es zu kreativen Dingen überhaupt nicht mehr fähig ist. Blitze zucken. Was für ein Donnerwetter. Alles, was wir jetzt anpacken und was Feingefühl benötigt, wird zur groben Masse – wenn es ein Bisquitkuchen wäre, würden wir einen hässlichen, übel schmeckenden Kuchen zusammenrollen, der keinerlei Gehalt hat und sogleich in seine Einzelteile zerbröseln würde.

Irgendwo ist noch ein Browserfenster offen mit einem Blogartikel, den wir begonnen haben lange bevor alles aus dem Ruder lief hier bei unserem Spaziergang durch mein Leben, durchs einsame Gehöft, vorbei an all den Dauerbaustellen. Ein kleines Wunder von Blogartikel. DIESER hier. Ein Glück, dass alles, worüber in diesem Blogartikel berichtet wird noch nicht geschehen ist. Ich finde, wir sollten ihn publizieren. Was meinen Sie?

Und dann setzen wir uns einen Kaffee auf, füttern die Katze und die Hühner und machen einen Spaziergang durchs einsame Gehöft.