So lange rund ums Saarland radeln, bis die Pandemie vorbei ist

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.

Hygiene, jawohl, Hygiene, das wäre mal ein Vorname, Hügiene mit fettem Ü und einem schönen, langgezogenen I wie in Gesine. Man könnte diesen Namen als Zweitnamen einsetzen wie zum Beispiel Maria: Rainer Hygiene Rilke, Hygiene Theresia, Klaus Hygiene Brandauer, Hygiene Magdalena, Hygienekäfer, ich hatte eine Hygieneerscheinung usw.

Spaß bei Seite, bzw. ein bisschen Galgenhumor. Die Pandemie macht mir im Vorfeld der Reise zu schaffen. Noch vor anderthalb Wochen schien die Welt halbwegs in Ordnung. Damals, als ich eigentlich hätte starten wollen, wäre das Wetter denn nicht so schlecht gewesen und, naja, hätte ich das Fahrradersatzteil rechtzeitig gekriegt. Vermeintlich Schuldige am Ausgang der Dinge und an den Zuständen wie sie herrschen sind immer schnell gefunden. Im Falle der geplanten Radelreise: Nein, das Wetter war nicht schuld! Und nein, das Ersatzteil hätte ich auch schneller haben können, wenn ich es nicht beim Fahrradhändler meines Vertrauens bestellt hätte.

Das alles ändert aber nichts am derzeitigen Zustand. Ich habe ohnehin richtig und vernünftig gehandelt. Ein ehernes Gesetz beim Start einer Radelreise lautet: Fahr nicht los, wenn es dauerregnet. Und es regnete ja dauer.

Dienstag soll der Frühling ausbrechen. Ideale Bedingungen für das Reiseprojekt. Momentan habe ich mir folgendes überlegt: Bis Dijon in Burgund sind es etwa fünf Tage zu radeln und ich bewege mich nicht sehr weit weg von daheim. Könnte notfalls, wenn die Gegend wegen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie unbereisbar wird, mich per Radel in die Schweiz oder zu Freunden ins Jura durchschlagen oder einen TER-Zug zurück nach Saargemünd (quasi bis fast vor die Haustür hier in der Pfalz) nehmen. Wenn der Zugverkehr noch aufrecht ist.

Vorgestern kaufte ich im Nachbarstädtchen ein Brot – mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, sich in die Nachdenklichkeitsspirale zu begeben. Die Bäckerin in der winzigen Dorfbäckerei neben dem Stadttor packte den Laib mit bloßen Händen, tütete ihn ein und überreichte ihn mir strahlend. Woraufhin ich mir die Bretzel zum Direktverzehr kurzerhand verkniff. Das Brot, ich zahlte mit Münzgeld, sagte ich mir, kannst du ja eine Weile liegen lassen, bis allenfalls darauf klebende Viren vergehen. Ich habe einmal gehört, dass die Viren nach acht bis zehn Stunden nichts mehr anrichten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, nichts Genaues weiß ich nicht. So klemmte ich das Brot auf den Gepäckträger, fuhr nach Hause und ließ es über Nacht im Atelier zum Dekontaminieren. Ich Genie.

So weit so gut. Unterwegs herrschen aber andere Bedingungen. Wenn ich unterwegs Brot kaufe oder eine in Frankreich so oft angepriesene leckere Pizza oder Eclaire oder sonst irgendwo etwas einkaufe, kann ich nicht erst alles auf dem Gepäckträger zwölf Stunden dekontaminieren. Zudem ist Hände waschen auf Radelreisen nicht so einfach wie daheim, wo man immer fließendes Wasser hat. Wie reist man im Falle einer Pandemie? Packtaschen voller Mehl und Couscous und sich permanent selbst versorgen, möglichst niemandem begegnen, immer wildzelten, sich in frühlinghaft frischen Flüssen baden? Klingt gar nicht so unmöglich, diese Vorstellung.

Oder ganz normal reisen wie immer, auf Teufel komm raus?

Oder nicht reisen?

Oder statt nach Andorra zu radeln so lange rund ums Saarland fahren, bis der Spuk vorbei ist (irre Idee, zwar nicht ernst gemeint, aber als Kunstprojekt verlockend). Ich sollte erwähnen, dass der große Saarlandradweg, der ziemlich genau an der Grenze des meistverglichenen Bundeslandes der Welt führt, nur 350 Kilometer lang ist und fast direkt vor meiner Haustüre beginnt. Im Herbst 2018 bin ich die Strecke in fünf Tagen geradelt. Man begegnet auf dem großen Saarlandradweg kaum Menschen :-).

Dieses Gedankensammelsurium klingt vielleicht merkwürdig. Aber ich versuche mir vorzustellen, wie sich das Ganze entwickelt und nehme als Blaupause Zustände wie sie momentan in Italien herrschen … vielleicht doch besser abwarten?

Wäre das Wetter bloß nicht so verlockend und das Reiseradel hufscharrend im Atelier.

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.
Auswahl an Postkarten des Projekts iDogma AnsKap 2015.

Hier habe ich das Projekt Zweibrücken-Andorra einmal auf einer Karte skizziert.

Mitreisewillige und Bloglesende können hier iDogma-Karten bestellen. Manche werden sich an die Reisen zum Nordkap und nach Gibraltar erinnern, auf denen ich etliche dieser kleinen Mailart-Kunstwerke kreierte. Hier zum Beispiel die iDogma-Karten des Projekts #AnsKap.

 

Ich hab‘ vergessen, dass ich nichts weiß

Fiktive Zeitung Muds Health mit Schlagzeilen und Skandalen um Heiko Moorlander

Ich musste abschalten. Mehr oder weniger und so gut es denn geht. Die informations- und desinformationsgeflutete Welt macht dem Gemüt arg zu schaffen. Fernsehen habe ich schon seit zehn Jahren nicht mehr. Radio auch nicht. Die Augen vorm Internet zu verschließen ist für einen, der darin und damit arbeitet leider nicht so einfach. Meide die Sozialen Medien, überlies die Nachrichten so gut es geht, konzentriere dich auf deine kleinen feinen Themen. Lullifulliethemen, Randgebiete dessen was gelesen werden will, was gewusst werden kann – wenn ich es mir genau betrachte stehe ich un(scharf)informiert einem gewaltigen Zwitschern von Meinungen, Informationen und scheinbar Wissbarem gegenüber, aber als kleiner Mensch habe ich nicht die Möglichkeit so weit in die Tiefe zu schürfen und zu überprüfen, ob Meldungen richtig oder falsch sind, ob sie diesen oder jenen Zweck erfüllen, ob man in diese oder jene Richtung beigebogen wird, mitzumeinen im großen Meinungskanon.

Man könnte sagen, ich habe vergessen, dass ich nichts weiß. Und ich beiße mich an all dem Wissbaren fest, das wie lecker Nahrung breitwürfig informativ in den Medien ausgebracht wird. Im Prinzip wie einkaufen und ins Supermarktregal greifen und diese oder jene Marke dieser oder jener Preisklasse herausfischen. Neben dem hochwertigsten, unter idealsten Bedingungen produzierten Bioprodukt lauert billigst gepanschtes Zeug, das es irgendwie durch die Kontrollen vorbei an den Normen geschafft hat und man kann es kaufen, man kann es essen und es schadet einem womöglich nicht. Das Perfide bei Information wie auch bei Lebensmitteln ist, man kann niemandem trauen und doch muss man vertrauen. Sonst würde man verrückt oder verhungern. Okay, bei Lebensmitteln hat man noch einen Ausweg: Man produziert sie selbst, wenn man denn ein Stückchen Garten hat. Aber auch da kommen möglicherweise giftige Unwägbarkeiten ins Spiel: Versprüht der Nachbar krebserregende Pestizide auf dem Feld, die keinen Halt machen vor Grundstücksgrenzen? Wer hat das Saatgut, das man nutzt, unter welchen Bedingungen hergestellt? Wie ist die Luft- und Wasserqualität rings um meinem Garten? Und so weiter.

Doch zurück zur Information und zur großen Quoten- und Klickschlacht in den Medien. Wem kann ich vertrauen? Welche Nachricht ist echt und gut recherchiert und welche ist nur ein billig produziertes Konsumgut? Hier gibt es zum Glück Medien, die halbwegs seriös sind. Manchmal namhafte große Medienhäuser, aber auch und vielleicht sogar insbesondere die weniger namhaften, noch nicht institutionalisierten Graswurzelmedien, einzelne Fachbloggerinnen und -blogger, die sich mit dem jeweils beackerten Thema auskennen, Menschen, die informieren wollen um des Informierens willen – das ist etwa so schwierig wie eine Putzhilfe zu finden, die putzt, um zu putzen. Die Komponente Geld und Rentabilität in inniger Paarung mit menschlichem Egoismus, Narzissmus und Gier spielt sicher eine große Rolle bei der Produktion von … ja von was? … von eigentlich so gut wie Allem. Wenn ich mein Geld mit Fleisch verdiene, schaue ich, dass ich das Fleisch so wirtschaftlich wie möglich produziere; auf engstem Raum mit billigstem Futter, aufs Schnellste gemästet. Wenn ich das Geld mit einem Campingplatz verdiene, bin ich als gewiefter Giermensch natürlich darauf aus, so viele Zelte wie möglich auf dem kleinen Areal unterzubringen. Egal wie sich das für die Campierenden anfühlt. Idealer Weise liegt der Campingplatz bei einer unausweichlichen Sehenswürdigkeit, einer Stadt, die jeder besuchen möchte (Kiel zum Beispiel). Bin ich Nachrichtenproduzent, dann achte ich auf Reizworte und gebe den Informationen, die ich mir so billig wie möglich einkaufe klangvolle Namen, die den Nerv meines Klientels treffen, Nachrichten, die süchtig machen. Es ist mir egal, wie gut oder schlecht der Artikel relotiert ist, Hauptsache, er verkauft sich. Bin ich schwedischer Möbelproduzent, so schaue ich im Laufe der Jahrzehnte, dass ich die für mich scheißteuren Bilderrahmen aus Echtholz mit poliertem Glas durch genau gleich aussehenden Dreck aus gepresstem, furniertem Sägemehl ersetze. Bin ich Industrieller, so sehe ich Arbeitskraft als Kostenfaktor und kaufe sie dort, wo sie möglichst billig ist. Habe ich meine Drecksgriffel im Rohstoffegeschäft, ist es mir ein großes Anliegen die Umweltkosten so gering wie möglich zu halten, meine Rohstoffe in Ländern mit korrupten bestechlichen Behörden einzukaufen.

Uns so weiter und so fort.

Wo hatte ich begonnen? Ach ja. Beim Dichtmachen. Beim nicht mehr Medien konsumieren. Was nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit gänzlich wegschauen. Natürlich weiß ich, was vorgeht in der Welt und wie übel unsere Karten sind. Ähm nein, wissen ist falsch! Hab ich doch glatt verdrängt, dass ich nichts weiß. Aber ich bin auf der Spur. Ich habe eine ungefähre Ahnung. Mein Bild ist unscharf. Ein ungefähres Etwas von Realität, das erst dann, wenn es ganz nah ist an Schärfe und Wucht gewinnt.

Quäl dich, du Sau! Schreib!

Nachmittags lief es ziemlich verquer mit einem ersten, informierenden Blogeintrag über das bevorstehende Projekt Zweibrücken–Andorra 2020, bekannt unter dem Hashtag #zwand20. Irgendwie radebrechend an einem Artikel über das Vorhaben und die vielen Unsichtbarkeiten, die – arbeitstechnisch – dahinter stecken, verrannte  ich mich in einen Blogartikel, der mir so ganz und gar nicht gefallen wollte. Ein holperndes, seelenloses Etwas, so diagnostizierte ich resigniert beim ersten Korrekturdurchlauf. Das darf nie nie nie an die Öffentlichkeit, dachte ich. Ich legte das digitale Machwerk zu den Privatnotizen ins Blog und hielt erst einmal ein Mittagsschläfchen. Ziemlich geknickt. Wie soll das bloß werden mit den kommenden Tour, wenn ich denn nächsten Dienstag schon losradele und allen da draußen verspreche, ich berichte über die Reise? Wie gewohnt am offenen Herzen der Literaturin Konjunktion der Klaviatur der Tweets mit der orchestralen Wucht dieses Blogs, ein literarisches Einmannorchester auf den virtuosen, spiegelglatten Tasten des Smartphones, hey! Was für eine Katastrophe, wenn ich mich tagelang in erklärenden Meta-Artikeln über die Eingeweide der Software und was weiß ich, was ich noch alles im Hintergrund geschuftet habe, auslasse. Mann Mann Mann. Laaangweilig. Vergiss den Artikel, sagte ich mir. Er spielt keine Rolle und überhaupt, Junge, du hast doch gar keine Übung mehr im Schreiben. Du kannst nur noch coden und kryptisches Zeug auf dem Terminal tippen, aber eine echte, packende erlebte Geschichte, die kriegste so nie und nimmer hin. Du bist eingerostet. Ein alternder Westernheld, der mit zittriger Hand das Schicksal bedrohter kleiner Westerndörfer zum Guten wenden soll.

Nachdem ich am Wochenende das Reiseradel endlich mit neuen Ersatzteilen bestückt hatte, bin ich sonntags in einer der raren Regenpausen ein bisschen testfahrend unterwegs gewesen, nur etwa zwanzig Kilometer im Kreis (das Hamsterrad des Europareisenden sozusagen) abwärts in die Stadt, dabei einen Track mitlaufen lassend, genau wie beim richtigen Reisen und was soll ich sagen, welch Wohlgefühl! Das neue Schaltwerk, nach elf Jahren erstmals ersetzt, nach mindestens dreißigtausend Kilometern, vielleicht auch mehr, ich kriege die Gesamtzahl nicht mehr auf die Reihe, läuft wie ein Nähmaschinchen. Hätte ich gewusst, wie leicht es ist, eine neue Schaltung einzustellen im Gegensatz zur alten ausgeleierten, ich hätte schon viel früher gewechselt, sagte ich mir. Aber immerhin, es ist gut, zu erkennen, dass man auch eine Schaltung dreißig- vierzigtausend Kilometer fahren kann, nur für den Fall, dass man einmal um die Welt radeln möchte. Egal. Mir dämmerte plötzlich, dass ich sowohl radlerisch, also körperlich, als auch schreiberisch, also kreativlich total aus der Übung bin und dass ich im Vorfeld der Reise nicht nur den Körper in den Sattel hieven muss, sondern mich auch dazu zwingen muss, schreiberisch Fitnessübungen auf mich zu nehmen. Ich muss mich warmschreiben vor der Reise. Der Artikel vom Nachmittag bleibt für alle Zeiten geheim, aber vorhin, in einer Art Anwandlung und Rückbesinnung auf Vergangenes, schrieb ich einen kurzen Artikel, der dem Zyklus UmsLand/Bayern zuzuordnen ist (siehe voriger öffentlicher Blogartikel) und da wurde mir Zweierlei klar: auch Schreiben braucht Training und Gewohnheit, ganz wie Sport, Radfahren, Wandern und es ist verdammt wichtig, ein Thema zu haben, also ein greifbares Etwas, ein Leitfaden, ein Track und nicht solche Lullifullie-Problemschilderungsmomente, in denen sich der Autor, moi même, im Kreis dreht und sich über die uninteressanten unsichtbaren Arbeiten auslässt, die er unter der Motorhaube des Blogs und der ganzen Livereisemaschinerie durchführt, damit das Maschinchen am Ende wohlig schnurrt.

Zum Training, ich habe ja noch ein paar Tage, bis ich auf Tour gehe (es sei denn, das der Virus funkt dazwischen), habe ich zum Glück noch einige Baustellen lose Fäden, an denen ich weiter knüpfen kann. Die nächsten Tage werden zeigen, ob es mir gelingt, den Blogreaktor wieder in Betrieb zu nehmen. Bleibt am Ball. Oder auch nicht. Ganz wie es Euch beliebt.

Oh, und fast vergaß ichs, der Blogtitel, der ausnahmsweise schon vor dem Schreiben dieses Eintrags feststand, ist ein Zitat des Pfälzer Radprofis Udo Bölts, der, wie Wikipedia schreibt, Jan Ulrich in den Vogesen auf der 18. Etappe der Tour de France 1997 mit diesen Worten anfeuerte.

Bei den Isarwellen – plötzlicher Lustverlust

Blick auf ein Wehr, in dessen Gischt einige winzige Surfer balancieren.

Nachtrag 28. Mai 2019. Verfasst am 10. März 2020.

Es gibt ihn tatsächlich beim Radelreisen, bzw. beim Reisen schlechthin: den plötzlichen Lustverlust. So habe ich das Phänomen 1995 bezeichnet. Damals mit Freund QQlka auf großer Radtour Richtung Nordkap, seit sechs Wochen auf der Straße in einem nicht enden wollenden Schwedensommerhoch; geradezu lustwandelnd radelnd unterwegs bis irgendwann in Lappland an der finnischen Grenze das Wetter kippte (wir nannten den Kollaps Kautokeino-Matt) und wir etliche tausend Kilometer von daheim entfernt nicht mehr wussten wie weiter, wie vorwärts mit unserer ärmlichen, nicht gerade mieswettertauglichen Ausrüstung. Und ab Alta, wohin wir ein- zweihundert Kilometer mit dem Bus fuhren, wird die Straße zum Nordkap erst richtig garstig. Das weiß ich, seit ich sie 2015 geradelt bin und das ahnten wir 1995, als wir aus dem Bus stiegen auf einem unbefestigten Busbahnhofsparkplatz voller Pfützen, in die schräg stehende nordische Sonne blintzelten, uns sagten, geht doch mit dem Wetter, wir probieren es mal und unsere Räder sattelten und auf der E6 die Stadt verließen. Eiskalte Nordwinde. Vorbei am Flughafen, jenem verlockenden Nadelöhr und ich meine mich zu erinnern, dass wir es bis fünf oder zehn Kilometer jenseits des Flughafens schafften zu einer kleinen, markanten Brücke (die mir 2015 so bekannt vorkam, dass ich dachte, bis hierhin sind wir wohl damals geradelt). Dann kam der plötzliche Lustverlust und wir besprachen, dass wir aufgeben und mal zum Flughafen schauen würden, wie man zurück in die Zivilisation kommt. Drei Stunden später landeten wir in Oslo, zelteten neben dem Flughafen und nahmen am nächsten Tag die Fähre nach Kiel.

Ich meine es nicht böse, wenn ich die Waldbahn, die von Bayerisch Eisenstein hinunter führt zur Donau, ein Bimmelbähnchen nenne. Die Wagen sind uralt. Geräumig mit Stufen, die man hinaufsteigen muss und es gibt Zugbegleitpersonal, sehr freundliche und hilfbereite Menschen, die in dem Mikrokosmos auf Eisenrädern allen Belangen der Reisenden zu Diensten stehen. Die Fahrkarte kann man im Zug lösen. Es ist wie früher in den 1970er und 1980er Jahren noch, ein Reisen mit Menschen in einem Transportmittel für Menschen. Wohin mit dem Fahrrad? Ins Radelabteil, klar, Gepäck können Sie auf dem Sattel lassen, ausnahmsweise, es ist noch genug Platz. Ein zwei Stunden keucht das Bähnlein abwärts vom Bayerischen Wald durch die Gegend entlang des Flüsschens Regen. Mit einem – vermutlich – Arbeiter auf dem Nachhauseweg und einigen anderen Leuten im Abteil. Smalltalkend, bis irgendwo – das Bähnlein hält an jeder Milchkanne, ich selbst bin ja bei einem Bedarfsbahnhof zugestiegen in einem winzigen Ort mit ein paar Häuschen – bis an einer anderen Bedarfshaltestelle ein weiterer Radler zusteigt.

Der mich und den Rest des Abteils bis Plattling unterhält. Also eher mich und die anderen rollen die Augen. Der Mann ist ganz nett, vielleicht ein bisschen naseweiß, egozentrisch, vielleicht auch narzisstisch, aber nicht unsympathisch. Über das Wo findet denn der Reiseradler, moi même, in der Nacht in Plattling noch Unterkunft kommen wir nach Berlin, wo er ein Haus hat und eine schräge Idee, mittels Containern im Hof des Hauses Wohnraum zu schaffen und dafür braucht er einen Fotografen und weil ich doch unterwegser Fotograf bin, engagiert er mich kurzerhand, wir könnten doch gemeinsam nach Berlin fahren, in den alten Buden wohnen, ich würde auch die schöne große Wohnung kriegen und dann fotografieren wir das Ensemble für ein Prospekt, mit dem wiederum die Geldgeber und künftigen Mieter überzeugt werden. Kurzum, der Mann baut innerhalb weniger zig Kilometer im Bimmelbähnchen auf der Rutsche abwärts vom Bayerischen Wald ein phantastisches Ideenuniversum. Wir tauschen Karten und stellen dabei fest, keiner von uns beiden hat eine Email-Adresse auf die Karte gedruckt, aber egal, ich könne ihn ja anrufen oder er mich und wir lassen die Idee einmal sacken. In Plattling steigt er auch aus, um nach Regensburg umzusteigen und es ist noch ein paar Minuten Zeit, die er vor mir her radelt, um mich in die richtige Richtung zu drehen zu dem kleinen wilden Zeltplatz bei den Isarwellen, dort wo die Surfer immer herumlungern, um auf dem wuchtigen Wehr kurz vor der Mündung in die Donau ihre Schleifen zu ziehen.

Es regnet in Strömen und ich radele in die Dämmerung, habe keine Eile, denn das Zelt muss ich ohnehin im Regen aufstellen. Erreiche den Hochwasserdamm. Dahinter muss der Zeltplatz sein. Ein mobiles Verbotsschild mit Absperrgitter steht an dem Weg, der schräg den Damm hinauf führt und mir schwant Schlimmes. Dass dahinter alles überflutet ist. Aber das Gatter ist zur Seite gestellt. Also erklimme ich die Dammkrone und blicke auf eine kleine Insel, die über eine fast überflutete Brücke erreichbar ist. Soll ich es wagen? Ich bin müde. Diesseits des Dammes ist die Stadt. Unzeltbar. Obwohl ich tagsüber kaum geradelt bin, bin ich von meinem Spaziergang über den Baumwipfelpfad doch etwas matt. Beine tun weh. Keine Lust noch weiter im Regen zu suchen und es hört ja schon wieder auf, heute Nacht, sagt die App, also überquere ich die kleine Betonbrücke und erkunde die Insel. Die Spuren plattgewalzten Grases zeigen, wie hoch das Wasser schon gestanden hat in den letzten Stunden. Die Brücke war wohl tatsächlich vollständig unpassierbar, aber nun konnte ich durch ein paar Meter Pfützen auf die andere Seite gelangen. Direkt bei den Isarwellen. Jenseits am anderen Flussufer hinterm Damm stehen die Wohnmobile der Freaks, von denen sich trotz Verbots wegen des wuchtigen Wassers der eine oder andere aufs Surfbrett wagt und auf dem Fluss hin und her webt. Eine Weile schaue ich ihnen zu, begutachte auch das Höhenprofil der Insel. Es gibt Bereiche, die nicht vom Hochwasser überflutet waren, obwohl man kaum Höhenunterschiede erkennt. Nur das plattgewalzte Gras zeigt, an welchen Stellen einst Wasser stand. Unter Weiden finde ich schöne Zeltmöglichkeiten. Ein Hundegassigänger kommt vorbei. Ich liebäugele mit einem Plätzchen direkt am Seitenarm bei einer Feuerstelle, aber die Vernunft siegt – zum Glück – und ich baue das Zelt am vermutlich höchsten Ort auf. Gewitterneigung. Weiden sollst Du meiden. Egal, zu spät. Erschöpft schlafe ich ein und als mich in der Dämmerung die volle Blase aus dem Schlafsack zwingt, sehe ich, dass der Platz am Seitenarm überflutet ist. Schlagartig bin ich wach, packe zusammen, schaue zur Brücke. Puh, könnte knapp werden. Steigt das Wasser noch, oder fällt es wieder? Ich beobachte den gräsernen Rand im Unterholz, koche erst einmal Kaffee. So viel Gemütlichkeit muss sein. Nach einer halben Stunde ist klar, der Wasserspiegel fällt schon wieder. Aber dennoch, es hätte auch anders ausgehen können und ich wäre in einem überfluteten Zelt erwacht.

Der plötzliche Lustverlust, so wie ich ihn aus dem Jahr 1995 kenne, ist natürlich, nach vielen weiten Fahrradreisen nicht mehr vergleichbar mit der jetzigen Situation. Heuer spielt die Vernunft die tragende Rolle und die hatte zum Abbruch der Reise gemahnt, da ich die restliche Strecke UmsLand/Bayern in der mir zur Verfügung stehenden Zeit ohnehin nicht mehr hätte schaffen können, sprich, ich sowieso noch einmal aufs Radel muss im kommenden Jahr 2020. Ein dritter Abschnitt sozusagen nach dem Prolog von etwa Osterburken via Creglingen und Rothenburg ob der Tauber bis Lindau im Jahr 2018 und dem diesjährigen Intermezzo von Lindau bis nach Zwiesel.

Bühnenbild der Seebühne in Bregenz mit einem rieigen Gruselclownkopf hinter leeren Stuhlreihen.
Beim Ausrollen von Lindau auf dem Bodenseeradweg bis zur Rheinmündung passiert man Bregenz und die berühmte Seebühne, die im Jahr 2019 Rigoletto darbot.

Der Rest des Weges: von Plattling nach München und dort mit einer ähnlich komfortablen Verbindung per Privatbahn ‚Alex‘ nach Lindau, und ab dort zum Ausrollen an die Rheinmündung, wo mich Frau SoSo aus der Homebase schon sehnsüchtig erwartete.

Einige Monate später sollte ich am Bahnhof Homburg/Saar die Verlockung der Bahnverbindung entdecken: Es fährt ein IC ab Saarbrücken namens Dachstein mit Halt in Homburg. Das klingt verlockend. Ohne Umsteigen könnte ich zurück ins Einsatzgebiet, vielleicht bis nach Rosenheim fahren und dort die Schleife zum Königssee nachholen, die ich wegen des Dauerregens ausgelassen hatte. Aber das ist ein Projekt für 2020.

Hey, denk mal nach, die Hauptwindrichtung führt doch vom Bärlauch zum Kernkraftwerk und nicht umgekehrt!

Das chinesische Insekt ist auch hier, sagt der Mann. Ein sonniger Tag in einem gespenstisch leeren Aargauer Dorf. Eigentlich wollten Frau Soso und ich nach einem Spaziergang entlang der Aare – wie schon so oft – in dem feudalen Café im örtlichen Schloss eine heiße Schokolade trinken und den Sonntagnachmittag genießen. Das Café ist aber zu. Vor der Tür liegen Kisten. Der Briefkasten quillt über.  Es sieht ein bisschen verwahrlost aus oder mindestens, um es brachial schwedisch zu sagen, ‚for ever stengt‘, für immer zu. Wir setzen uns auf Korbsessel in dem parkähnlichen Innenhof und Frau Soso versucht, die Baumart zu bestimmen, die uns überragt. Buchen vielleicht? Oder Eichen, mutmaße ich. Nee, da liegen doch Ahornblätter. Quatsch, das ist Efeu. Frau Soso fragt die App und die sagt, es sind asiatische Platanen, riesige Wesen, die in den letzten zig Jahren hier was-weiß-ich-schon-alles gesehen haben mögen. Das Dorf ist wie verlassen. Wir begegneten auf unserem Spaziergang nur wenigen Menschen. In einem Hinterhof ist ein Weinlokal geöffnet. Halligalli in dunklem Raum voller presswurstähnlichem beseeltem Klientel. Wir beobachten den plaudernden Frohsinn durch offene Türen.

Dann der Mann mit dem Insekt, den ich erst einmal gar nicht verstehe. Hä, wassen für ein Insekt? Ist da etwas Schlimmes, denke ich? Will schon naiv fragen, ob eine Spezies in die Schweiz eingewandert ist, die es den örtlichen Bauern schwer macht und die Weinernte frisst. Jenseits auf der kleinen Insel in der Aare pumpt das Kernkraftwerk ganz unscheinbar und hier an der Glastüre des Besucherzentrums hängt ein Zettel, dass das Zentrum bis auf Weiteres geschlossen bleibt und da dämmert mir, dass der Typ, ein alter, verkautzter Kerl, mit dem Insekt, das Virus meint. Schallend kracht der Groschen endlich. Ich bin geneigt, zu husten. Nur so aus Trotz, archetypisiere den Kerl als konservativ bis rechten Drecksknauser, der ganz gewiss die SVP wählt, aber vielleicht habe ich unrecht. Mögen tue ich ihn auf keinen Fall. Es gibt solche Menschen, leider immer mehr, die man auf den ersten Blick und wegen ihrer Äußerungen kategorisch nicht mag. Er nähert sich uns nicht, treibt sich stattdessen im Park herum, wo es einige physikalische Experimente mit sich drehenden Maschinen gibt, wohl um das Klientel des Besucherzentrums des Kernkraftwerks auf die Führungen einzustimmen. Wer weiß, vielleicht mache ich solch eine Führung auch einmal mit, wenn denn das ‚Insekt‘ endlich wieder weg ist. Eines der schönsten Experimente in dem Park ist eine akustische Installation zweier Parabolschalen, etwa fünfzig Meter voneinander entfernt, gegenläufig ausgerichtet, in die man sich hineinsetzen kann, einer hier, einer dort und sich in normaler Lautstärke unterhalten kann. Frau Soso und ich konzentrieren uns jedoch darauf, im Innenhof des Schlosses, neban des Besucherzentrums auf den Korbstühlen zu lungern und über die asiatischen Platanen nachzudenken und uns die Frühlingssonne auf die Körper brateln zu lassen. Später finden wir in einem lichten Wäldchen jenseits der Kernkraftwerksinsel ein halbhektargroßes Areal mit jungem Bärlauch, ernten unser Abendessen und abends, als wir den Sack voll Bärlauch, den wir ernteten in eine köstliche Lasagne verwandelt hatten, kamen kurz Bedenken, hey, Kernkraftwerk da und Bärlauch hier, in Spuckweite voneinander entfernt und nur das naive Bärlauchsammelbübchen in mir argumentiert, hey, denk mal nach, die Hauptwindrichtung führt doch vom Bärlauch zum Kernkraftwerk und nicht umgekehrt, genieße die Köstlichkeit. Aber so einfach ist es leider nicht.