Dösedösen

Ray ist verschwunden. Fünf Kilometer vor Cuxhaven sacke ich in eine Hängematte bei einem Strandbad, schlafe sofort ein. Höre nur noch Rays Kameraklicken. Als ich erwache, ist er weg. Es gibt so viel zu sehen an der Elbmündung. Schiffe, Industrie, Bagger, Windräder, Radler, Schafe. So viel zu fotografieren, dass wir staffellaufähnlich auf dem Deich radeln, uns gegenseitig immer wieder überholen, uns nie aus den Augen verlieren. Ein Touristenpaar mit zwei winzigen Hunden treibt hunderte Schafe vor sich her. Die Tiere blöken, haben vor Menschen und Rädern keine Angst, aber die beiden Pinscher schieben die vergleichsweise riesigen Wolllieferanten vor sich her wie ein Gletscher die Endmoräne. Schafslaola. Ob Herrchen und Frauchen die unübersehbaren Hundeverbotsschilder am Eingang zum Deichweg nicht gesehen haben? Der örtliche Schultheiß droht darauf mit Geldbuße. Oder ist es jene Ach-der-tut-doch-nix-Ignoranz, die Hundebesitzern manchmal zu eigen ist?

Morgens auf dem Zeltplatz dachte ich noch demütig, dass es mein demokratisches Schicksal ist, um den Nachtschlaf gebracht worden zu sein, stellt die Truppe mit den vielen Kindern doch eine eindeutige Mehrheit gegen Ray und mich und noch drei-vier arme Teufel, die lieber schlafen wollten. Wenn die Mehrheit nachts Lärm beschließt, ist das eine legitime Sache. Dafür haben wir in Europa seit 1789 gekämpft. Nun ist es mit den beiden Hundchen anders. Wie russische Oligarchen halten sie die Lämmer in Schach.

Kurz nach dem Losradeln spüre ich die Erschöpfung. Werde wortkarg, beantworte alle Fragen, die Ray stellt, morgenmufflig mit Ja, Nein, Schwarz oder Weiß. Ich könnte durchaus verstehen, dass er einfach weiter geradelt ist, als ich in der Hängematte eingeschlafen bin. Mit so einem Murrer will doch niemand radeln. Es könnte auch sein, dass er selbst verpeilt ist wegen wenig Schlaf. Dass er gar nicht bemerkt hat, wie ich rumhänge.

Nun in einem Café in Döse – haha, Döse, das passt -, schreibe ich diese Zeilen, lade das iPhone, wird mir klar, dass die letzten drei Einträge gar nicht entstanden wären ohne die Widrigkeiten. Bloggen also nur eine Art Druckstab im wohl berechneten Fachwerk des Lebens?

Lastfall S wie Störenfried, da soll mir mal jemand nen Cremonaplan für zeichnen.

Ray SMSt, er sei auf der blauen Brücke bei Alte Liebe.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Die dunkle Seite des Clowns

Liebes Tagebuch, was war ich wieder böse letzte Nacht. Mein aufblasbarer Butler James hat sich ernsthafte Sorgen gemacht um mich. Zusammen gesunken habe er mich am Deich gefunden, wo ich mir mit einer Taschenlampe, mit eingeschalteter Stroboskopfunktion, von unter dem Kinn das Gesicht angeleuchtet habe.

Ganz düster habe das ausgesehen, Meine Güte Sire … hat er gesagt, Sire, und mit seinen stets weißen Handschuhen habe er mich an der Schulter packen müssen, versucht, mich wachzurütteln aus meiner Apathie, aber ich habe nur Swing Low Sweet Chariot gesungen und neben mir habe eine dunkle Kuh gelegen, der ich zärtlich die sabbernde Nase getätschelt habe. Nachdem er mir meinen Lieblingstee aus Clownsfußschweiß gekocht hatte und ihn mir tropfenweise eingeflößt hatte, sei ich endlich zu Bett gegangen. Der Tee war sehr, sehr lecker und auf dem Beutel stand: Kein Unglück ist vom Unglück der anderen getrennt. Ob das was zu heißen hat?

Die Clownsschule, die in der Mitte der Zeltwiese ihr Zirkuszelt aufgestellt hat, hat letzte Nacht eine Generalprobe für die Abschlussklasse veranstaltet. Die kleinen, sie heißen alle August, sind zwar verdammt dumm, aber als es darum ging, sich gegenseitig Erdebeertorten ins Gesicht zu klatschen, war es eine Pracht, dies mit anzusehen. Das Erdbeertortenklatschen hört sich ziemlich ähnlich an, wie wenn ein Profifußballer beim Elfmeter einen Ball tritt. Neben der Dummheit eine weitere Analogie, die ich zwischen Clowns und Fußball feststelle.

Ich hungere! James ist zwar ein außergewöhnlich pfiffiger Clownfänger – einmal hat er einen Clown unter dem Vorwand, ob er denn schon seinen Namen schreiben kann, in die Falle gelockt und ihn ein Dokument unterzeichnen lassen, das uns auch gleichzeitig seine Schuhe und das Zirkuszelt vererbt, sollte ihm etwas zustoßen. Der Kerl war so dumm, das Kleingedruckte zu überlesen. Aaugkuzt hat er mit seiner krageligen Clownsschrift unter das Dokument gesetzt.

Leider nutzt mir James‘ Finesse heute nichts. Hoher Besuch hat sich angesagt. Stell dir vor, liebes Tagebuch, der deutsche Verkehrsminister Dr. Karl Theodor August zu K. ist angereist, um bei den Veranstaltungen für die Abschlussklasse eine Torte zu werfen. Auch er hat einst in dieser offenbar berühmten Schule seine Ausbildung gemacht. Hier wimmelt es nur von Security. Die Schule ist hermetisch abgeriegelt und sie üben das hysterische Lachen. Einer der älteren Clowns macht es vor, mit einem Zeigestock an einer Tafel: „Ha-Ha-Ha“, und die unbeholfenen Hahaha-Schützen sprechen ihm im Chor nach. Mjam mjam, sehen die lecker aus. Hach, warum kann ich nicht einfach zufrieden sein, mit dem was ist?

Der Platz ist paradiesisch. Direkt hinter dem Zelt verläuft der Weg zum Deich. Dort führen die Leute nun ihre Hundchen hin zum Defäkieren. Und wenn sich zwei Hundchenleute begegnen, spielt sich immer das gleiche Schauspiel ab: zuerst sagen sie Der macht nix, dann fangen die Tierchen an zu knurren und an den Leinen zerren, dann quetschen sich die atemlosen Herrchen aneinander vorbei, lassen die Hundchen schnuppern. Isn Mädchen, fragt dann der eine, ja, sagt die andere und so lavieren sie nebeneinander vorbei, so dass ich gleich noch einen weiteren Aufsatz schreiben könnte mit dem Titel Nadelöhr der Hunde. Hach und nun, da es langsam warm wird im Zelt, sitze ich knurrenden Magens, muss an James‘ Worte denken – er ist weit gereist – dass man am anderen Ende der Welt, wo es keine Clowns gibt, Hunde essen würde. Das Fleisch schmecke ähnlich.

Ich hoffe, es kommen bald wieder bessere Zeiten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Ja genau! Bumm boltz fallera. Muh!

Die dunkle Seite des Mondes. Ich schlafe bis nach neun. Immerhin bin ich nicht so matt, wie nach der Nacht auf der Shetlandfähre. Schwüler Morgen. Im Süden rumpelt ein Gewitter. Wir frühstücken, vergessen die Eier bis sie blau gekocht sind, stecken den Rahmen ab für den Tag. Bis Glückstadt können wir gemeinsam radeln, schlage ich Ray vor. Knapp 30 Kilometer. Dann will ich ordentlich reintreten 100 Kilometer sollte ich machen. Wegen des Termins Anfang August muss ich für ein paar Tage in den Schnellmodus schalten, mich aufs Nötigste beschränken, konsequent an der Kunststraße arbeiten. Schreiben am besten ganz sein lassen. Die Kunstmaschine kann auf Hochtouren laufen, es fehlt ihr dann aber an Geschmeidigkeit.

Mein Plan ist, bis zum 4. Juli an die niederländische Grenze zu radeln, in Oldenburg mit einem Mietwagen in den Urlaub zu fahren mit SoSo, die am 5. Juli in Hamburg landet. In den letzten beiden Juliwochen sollten die knapp tausend Kilometer Kunststraße bis Boulogne fertig werden.

Soweit die Idee. Derweil schlagen die Rechnungen, die ich in Schweden und Dänemark durch Kartenzahlung verursacht habe, auf meinem Bankkonto ein wie ein Meteoritenschauer auf atmosphärelosem Mond.

Dangdida dangdanggg summt mir Pink Floyds Dark Side Of The Moon dreißig Kilometer weit bis Glückstadt in den Ohren. Die Strecke ist nicht sehr schön. Hochspannungsleitungen an Flachland garniert mit einfachen Klinkerhäuschen. Teilweise entlang einer Hauptstraße auf separatem Radweg. Glückstadt. Eine Dame in der Touristinfo gibt uns Karten mit dem Nordseeradweg bis Cuxhaven, das sei widerlich da drüben am Südufer der Elbe mit den vielen Viehgattern. Alle hundert Meter müsse man sich da durch quetschen. Der kürzeste Weg zur Fähre? Geradeaus bis zum Hafen, dann rechts übern Deich. Wir verirren uns in der Namenlose Straße. Tse.

Kilometerlange Auto- und LKW-Schlange am Fähranleger. Im Zwanzigminutentakt fahren drei kleine Fähren über den paar Kilometer breiten Fluss. 3,50 Euro die Überfahrt. Drüben warten wir ein Gewitter ab in einer mit Reet gedeckten Schutzhütte. So wird das nix mit meinen hundert Kilometern.

Gegen 20 Uhr bringt mich Ray zur Raison, das bringt doch nix, so zu hetzen. So landen wir gemeinsam auf einem von drei nebeneinander liegenden Campings in Ottersdorf. Kurbad. Touristenbuden, Deichspaziergänge. Kühe mit Glocken am Hals. 6,50 Euro die Nacht auf der Zeltwiese, in der eine verdächtige Reihe Mittelklassewagen steht. Familienkutschen, Pavilions, Papis, Mamis, Kinder bis zwölf am Fußball, laut kreischend bolzend. Aber das wird aufhören, bilde ich mir ein. Ich naiver Wicht. Gegen 23 Uhr ist es tatsächlich ruhiger. Papis Softrock krieg ich mit Ohrenstöpseln weg, hoffe, dass nicht ein Bier das nächste gibt. Betrunkene merken nämlich nicht, dass sie laut werden.

Gerade bin ich eingedöst, da plärrt es zehnstimmig aus Kinderkehlen: „Das ist die schönste Nacht in meinem Leben.“ Taschenlampen gehen an. Der Rindslederne wird gebolzt, was dem Einschlafen nicht sehr erträglich ist, impulsartiger Lärm im Fußballtretfrequenzbereich, die Papiherde dreht U2s Where The Streets Have No Name lauter. Im Namen der Liebe schreit Ray Ruhe. Ich rufe hinterher Ruhe. Das wirkt kurzfristig. Die Plagen spielen nun im Flüsterton Verstecken, vergessen sich kurze Zeit später wieder, werden lauter. Scheiß ADS. Schließlich laufe ich zur Rezeption, zu, keine Telefonnummer, um mich zu beschweren. Die Polizei zu rufen, scheint mir überreagiert. Also Spaziergang. Die Sicht vom Deich auf die Elbmündung habe ich schon bei Sonnenuntergang genossen. Stoisch wummern dunkle Schiffe, ziehen Bugwellen hinter sich her, die, längst nachdem die Frachter vorbei sind, wie ein Wasserfall am Ufer rauschen.

Schnaufende Kühe auf der Deichwiese, mahlendes Geräusch, wenn sie auch zu so später Stunde noch grasen. Der Camping nebenan wartet mit einer lauten Gesprächsrunde auf, vermutlich Mittdreißiger, die sich über den Sinn des Lebens betrinken. Ein Typ mit heller Stimme ist besonders nervig. Auf nicht Hörbares, das eine offenbar rücksichtsvolle Person in der Runde erzählt, bestätigt er laut: Ja genau! Wieder und wieder. Wie das Quäken einer Spielzeugpuppe, die man an einer Schnur aufziehen kann. Ähnliche Frequenz wie die Bolztruppe auf meinem Platz (ein Lärmimpuls alle 15 Sekunden). Vom Deich aus kann ich beide Zeltwiesen sehen und hören. Die Kids haben den Stroboskopeffekt an ihren Taschenlampen entdeckt. Ich stelle fest, dass man im Leben immer die Wahl hat zwischen verschiedenen Übeln. So, was willst du, mein Lieber? Die Mittvierziger mit den unerzogenen ADS-Kids, One Man In The Name Of Love, oder die Lebenssinn-Diskutanten mit der aufziehbaren Kasperlepuppe?

Ein Kreuzfahrtschiff treibt gegen Hamburg. Die Kühe kommen zu mir auf die Deichkrone, umzingeln mich neugierig. Ich streichle ihre schnaubenden feuchten Nasen, erzähle ihnen, dass sie bald Fußbälle werden und als Lederkorsetts in Sexshops verkauft, dass man ihre Knochen zu Gummibärchen kocht, sich die Zunge schmecken lassen wird, mit denen sie an meiner Hand lecken. All das Zeug. Diese verrückte Welt. Ich komme aus der Stille, wird mir klar, ich bin nicht resozialisierbar. Nie werde ich hündisch jemandem hinterherschreien dürfen Ja genau, fünfzehnsekundenweise.

Auf keiner Reise zuvor habe ich so sehr gespürt, wie anders es anderswo sein kann. Wohl bin ich deshalb so pienzig. Ray liegt vermutlich schlafend im Zelt. Ich bin über einen Zaun geklettert auf ein Gelände voller Strandkörbe. Allesamt sind sie abgeschlossen, so dass ich mich auf einen Betonweg lege direkt am Flussufer. Das Brillenetui ist mein Kopfkissen und Schiffsbrummen und Wellenrauschen und Kuhglocken sind mein Nachtlied.

Tag 94 – die Strecke

Von Itzehoe nach Glückstadt und dort mit der Fähre über die Elbe sind die beiden heute gefahren. Anschließend auf dem Elbradweg Richtung Cuxhaven. In zügigem Tempo, denn Irgendlink will am Dienstag, spätestens Mittwoch, in Oldenburg sein.

Die Rückkehr in die Welt der Kalender. Es gilt, die eine Wirklichkeit gegen die anderen einzutauschen.

In der Nähe von Cuxhaven sind Ray und Irgendlink nun auf einem Camping, in Otterndorf, an- und untergekommen. Nach neun Uhr. Morgen wolle er früher losfahren, sagte Irgendlink vorhin. Es ist so, wie es ist.

>>> Itzehoe – Otterndorf: zum Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

>>> zum OpenStreetMapLink: bitte hier klicken!

Freiblog für alle

Irgendlink schenkt Deutschland 41 Millionen Blogeinträge

Tag 92. Frühmorgendliche Mail aus der Kunstzwerg-Zentrale: das Festival, das letztes Jahr auf dem einsamen Gehöft stattgefunden hat, wird in diesem Jahr vom 3. bis 5. August stattfinden. Mister Oberverpeiler Irgendlink hatte das Ereignis mit Performance und anderen schrägen Künsten für Ende August in Erinnerung. Das bringt Sorge. Mir wird die Zeitknappheit bewusst. Ich kann nicht gleichzeitig durch die Weltgeschichte radeln und in meinem Atelier ein interdisziplinäres Kulturfestival veranstalten.

Graue kalte Wirklichkeit, durch die es sich plötzlich ganz anders radelt. Der Takt. Der Arbeitstakt. Die strenge Verzahnung multipler Menschenleben. In sich verschränkte Sphären verschiedener Interessen. Ich trete ordentlich rein auf der Strecke ab Tating bis Sankt Peter Ording. Widerliche Touristengemeinde. Ich kann kaum verstehen, einmal „dazu“ gehört zu haben, es genossen zu haben, Eis leckend an T-Shirt-Läden vorbei flaniert zu sein. Der zwölf Kilometer lange und bis zu zwei Kilometer breite Sandstrand, der in meiner Touristenkarte als die größte Sandkiste der Welt bezeichnet wird, verbirgt sich hinter einer Phalanx aus Pensionen und Hotels. An der Wand eines glänzenden Bettenpalasts steht in Großbuchstaben EMPFANG. Willkommen fremder Gast, willkommen Kunstbübchen.

Ich fühle mich unwohl unter den Regenkleiderwurstähnlichen Wesen. Satzfetzen zwischen Fußball und wie wird das Wetter schwirren durch die Luft. Eine fette Limousine mit Münchner Kennzeichen spuckt einen braun gebrannten Kerl aus. Poloshirt, Sonnenbrille auf Haartransplantat.

Diese Zeilen sollten eigentlich gar nicht geschrieben sein. Ich hatte sie begonnen, nachdem Ray und ich über Sankt P.-O bei strömendem Regen bis Meldorf geradelt waren, klatschnass nach achzig Kilometern in den Zug gestiegen sind und für 9€ die letzten fünfunddreißig Kilometer bis Itzehoe überbrückt hatten. Kommentator Stefan, mit dem ich mich für den Abend verabredet hatte, erwartete uns am Bahnhof. Aufzug außer Betrieb. Willkommen Deutsche Bahn. Der Takt. Schon kann ich ihn deutlich spüren. Die Reise endet. Monatelanges Nichts, Unformat und Leere gehen nahtlos zurück in die getaktete Welt. Schwer zu erklären, wovon ich rede, vielleicht muss man „da draußen“ gewesen sein, das erlebt haben, was ich erlebt habe, um das Dasein im verzahnten deutschen Land als unangenehm eng zu empfinden. Stefan lotst uns per Hase und Igel-Technik durch die Stadt zu seiner Wohnung, indem er ein Stück Weg erklärt durch die Fußgängerzone, das er per Auto nicht durchqueren kann, uns am anderen Ende erwartet, aus dem Wagen steigt, das nächste Wegstück erklärt, wieder an einer Ecke wartet und das letzte Stück erklärt. Immer steht er igelhaft an einer Straßenkreuzung und wartet auf uns. Im Garten bauen wir die Zelte auf.

Die nassen Kleider zum Trocknen auf den Dachboden. Ein Problem sind die Schuhe. Trotz Neoprenüberziehern völlig durchweicht. Die müssen ausgestopft werden. Stefan erinnert sich, dass er kürzlich seine erste Bildzeitung im Briefkasten hatte. Deutschlands meist weggeworfene Tageszeitung – es dürfte auf der Hand liegen, dass ein Produkt, das als das meist genutzte gilt, in unserer hochgradig auf Konsum getrimmten Gesellschaft, auch gleichzeitig das meist weggeworfene Produkt ist.

Zum sechzigsten Geburtstag hatte das Blatt sich etwas ganz besonderes ausgedacht, jeder Haushalt des Landes sollte ein Exemplar des Blatts im Briefkasten haben. Zum Ausstopfen der Schuhe taugt es vorzüglich. Freibild für Alle. Das erklärt den Titel dieses Artikels, den ich gestern irgendwann begonnen habe, wegen Speedlifes und Stadtspaziergang und Kommunizieren aber nicht zu Ende geschrieben habe.

Vorhin, kurz nach drei soll sich das ändern. Die Nachbarn kommen heim, stratzvoll und feiern in der Wohnung über dem Garten weiter. So säuselt schon bald Reggaemusik, nicht unangenehm, aber wie das so ist, mit Saufgelagen, sie werden nach und nach lauter, man singt letztlich mit, wenn es heißt Stand up for your right dumdidelda, dumdieldei.

Nun bin ich vollends zurück im Lautleben Deutschland, wird mir klar. Ich überlege, aufzustehen für mein Recht auf Schlaf, beschließe stattdessen, den Artikel fertig zu schreiben und mir Gedanken zu machen, wie ich das bevor stehende Speedleben wieder bremse. Dass ich auch das Kunstzwergfestival vergessen konnte – als Gastgeber und Atelier-zur-Verfügung-Steller, muss ich vor Ort sein. Erstmals auf der Reise muss ich Zeit einteilen. Es dient nur Deiner Resozialisierung, genau wie die laute Musik der Nachbarn. Ha. Mit Gedanken über die vielfache Interpretierbarkeit des Begriffs Rücksicht, döse ich gegen sechs Uhr wieder ein. Der Arbeitnehmerstadtlärm übertönt nun Pink Floyd, welches seit Reggae sphärisch säuselt. Versteh einer das Nachtvolk, versteh einer das Tagvolk. Am besten ist, man hält sich von beidem fern. Ich werde die nächsten Tage alleine weiterradeln, um meinen Takt wieder zu finden. Die Kunstmaschine ist erheblich gestört.

Erstaunlich, wie wenig es braucht, dass es so weit kommt. Mein Plan ist, bis Oldenburg zu radeln, Freund S. zu besuchen, das Gepäck dort zu lassen, 10 Tage Urlaub mit der geliebten SoSo in Hamburg zu machen, und anschließend von Oldenburg bis Boulogne zu radeln, wo mich hoffentlich ein Komitee aus Zweibrücken abholt. Die Strechtlimousine des Oberbürgermeisters wäre mir gerade gut genug, mit Champagner, Blondinen – streich die Blondinen, das könnte SoSo verletzen (aber das gehört doch rein in das Klischee der Stretchlimo) –, Ausschweifungen, Eimer Koks auf Spiegel … stop, stop, stop! Zurück zu Reggae und Pink Floyd.

Ein Gespräch mit Stefan über den Wert der Dinge oder die Welt der Dinge, wäre erwähnenswert und der grandiose Besuch auf Planet Alsen – allein, ich bin nicht in der Lage, das in Worte zu fassen, ja, insbesondere die Sache mit dem Wert der Dinge, würde prima in den Artikel zum Thema Mangel passen, ungeschrieben, eine Blogleiche, an die ich mich nicht heranwage. Das Liveschreiben hat eindeutig seine Grenzen, wenn es darum geht, komplexere Themen auszuarbeiten.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)