Vielfalt menschlichen Lebens in einem Café in Itzehoe an einem Sonntag kurz vor Gewitter

Tag 104 – ich muss nachzählen, sonst verirre ich mich. Es gibt nichts besseres fürs Gemüt, als Entscheidungen zu treffen. Möglichkeiten zu reduzieren. Das friedliche Leben auf Hof Basten trägt zur inneren Klarheit bei. Außer Hund Kessie, der immer dann bellt, wenn Fremde am Haus vorbei laufen, und dem täglichen Milchlaster, gibt es hier kaum Geräusche. Ab und zu ein Auto. Ein gerufenes Wort, das Schlagen des Hoftors, Regen aufs Dach. Besinnung pur. Wir lesen, fummeln auf dem iPhone, tummeln uns im Netz, hängen ab. Gutes Lazy-Leben. Bei schönem Wetter können wir den Neulingen zuschauen, wie sie vor einem riesigen, vertikal gespannten Netz den Swinggolf-Swing üben: Schläger in den Händen, Hüftschwung, Ball fixiert. Nach einer halben Stunde Üben gehts dann ab auf das Neunloch-Feld.
Wenn das Wetter stimmt.
Aber es regnet mehrheitlich, so dass mir nur eines einfällt, was man tun könnte: Radfahren … ne, Quatsch. Spässle gemacht.
Frühmorgens rechne ich mein Leben durch und komme zu dem Schluss, dass ich die Runde doch zu Ende bringen kann. Ab 15. Juli habe ich genug Zeit, durch Holland und Belgien zu radeln und mich in Boulogne sur Mer in den Zug zu setzen, der, mit einmal Umsteigen in Paris, bis Saarbrücken fährt.
Die Terminsorgen des Alltags gehen mir ein bisschen auf die Nerven. Und das Rechnen, Zeit in Geld zu verrechnen und umgekehrt. Opportunitätskosten. Und die unsichtbaren Gedankengebäude, die man erschafft, wenn man daran denkt, wie man zum letzten Mal ein voll gepacktes Radel in einen Hochgeschwindigkeitszug gewuchtet hat. Bald zehn Jahre her, kein Zuckerschlecken. Hochgeschwindigkeitszüge haben etwas verwahrlost Unmenschliches, so als würden sie dir das Herz rausreißen und es gegen einen Stein eintauschen. Das Gequengel, die trockene Luft, die unsichtbaren Gepäckfachterritorialkämpfe und die gleichzeitige kalte Stille hart arbeitender Irgendwohinwoller international.
Muss ich mir das jetzt vorstellen? Muss das in meinem Kopf sein?
Warum nicht einfach unbeschwert hier abhängen, danach nach Boulogne radeln, zum Bahnhof gehen, das Ticket kaufen und erst dann die Szenen in „echt“ erleben?
Dann hätte ich im Jetzt auch die Muse, über den Besuch in einem Café in Itzehoe zu berichten.
Der war nämlich richtig spannend wegen der vier verschiedenen Welten, die dort an einem Sonntagnachmittag aufeinander treffen. SoSo und ich bestellen Kaffee und Kuchen, setzen uns nach draußen an einen Tisch in der Fußgängerzone und beginnen mit unseren Fons zu arbeiten. Zu „appen“, wie man so schön sagt. Unsere Welt ist voller seltsamer englischer Fachbegriffe: Jag das Bild doch durch Tiny Planet und verarbeite es dann mit Photo Wizard. – Mit welchem Hipstafilter haste denn das gemacht. Ich ruf ma eben Mails ab, vielleicht hat Journalist F. schon die Kunstzwergpressemitteilung fertig.
Und so weiter. Ganz anders Welt Nummer zwei, das vergnügte Gespräch zweier Mittvierzigerinnen, die beide nicht muttersprachlich deutsch reden, aber dennoch auf Deutsch über Livestyle reden. Die arabisch wirkende hat der fernöstlich aussehenden Frau ein Geschenk gemacht. Parfüm. Ein Hauch Chanel vibriert. Ein Tisch daneben sitzt ein Intellektueller alleine, starrt in den Himmel, vermutlich fabuliert er an einer Doktorarbeit. Er wirkt müde. Drei ältere Damen reden übers Wetter. Ihre Rollatoren stehen wie eine Wagenburg um den Tisch. Sie werden nicht müde, die Temperaturen zu diskutieren, die Luftfeuchtigkeit, den angekündigten Starkregen. Längst tue ich es dem Intellektuellen gleich, starre in den Himmel, runzele die Stirn, fabuliere an einem Blogbeitrag, der davon handelt, das verschiedene Menschentypen in einem Straßencafé an den Tischen sitzen und ihre verschiedenen Gesprächsthemen sich ineinander schieben wie die Ebenen einer überdimensionalen abstrakten Stahlskulptur. Abgang Intellektueller. Sofort setzt sich eine triste Frau an den Tisch mit rot geweinten Augen unter Sonnenbrille, Wetter von links hinten, Lifestyle von rechts vorne. Das wäre echt toll, denke ich in den Himmel starrend, wenn ich mir die Dialoge hier alle merken könnte und daraus einen rein dialogischen Blogbeitrag schreiben könnte. Titel die Vielfalt menschlichen Lebens in eine Café in Itzehoe an einem Sonntag kurz vor Gewitter.
Hohe dunkle Wolken ziehen auf und erinnern mich, dass ich eine Entscheidung treffen muss.

Fipptehler lasse ich drin.

Bildtafeln 35 bis 39

Tafel 35 – km 5440 bis km 5590

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Tafel 36 – km 5600 bis km 5750

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Tafel 37 – km 5760 bis km 5910

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Tafel 38 – km 5920 bis km 6070

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Die angefangene Tafel 39 endet nach acht Streckenfotos am Hauptbahnhof Emden. Km 6080 bis vorläufig km 6150.
Ab 15. Juli werde ich an dieser Stelle auf dem Nordseeradweg weiter radeln.

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Itzehoe

Ein erster Artwalk in der holsteinischen Metropole. Zu sehen Straßenszenen, sowie der Radweg (Baumbild), den ich vor knapp einer Woche Richtung Glückstadt eingeschlagen hatte. Damals noch mit meinem schottischen Freund Ray unterwegs. Nun ist die Nordseerunde bis 15. Juli unterbrochen. In Oldenburg bei Bremen habe ich das Radel in einen Mietwagen gepackt und bin zurück nach Hamburg, Homebase SoSo am Flughafen abgeholt, zwei Tage in Rendsburg, nun eingemietet auf Hof Basten, für eine gute Woche abhängen, Sightsehen, Artwalken. Die heutige Wanderung in die Stadt endete in einem massiven Gewitter, das uns völlig durchnässte. Auf den Hügeln, die von der letzten Eiszeit übrig geblieben sind, hatte ich jenseits aller Blitzableiter tatsächlich Angst, dass uns ein verirrter Blitz holt. Wäre sicher ein fulminantes Tourende gewesen :-)
Es gibt vier Möglichkeiten, die Reise fortzusetzen:
Am 15. Juli weiter nach Boulogne. (wenn die geplante Kunstwanderung, die wir vor dem Kunstzwergfestival machen wollten, nicht stattfindet – danach sieht es aus)
Den Rhein runter per Rad. (Zeitnot mit Kunstwanderung)
Mit dem Mietauto heim am 15. Juli (da hängt noch ein Damokles Schwert der Privatquerelen in der Luft, hoffe, das Rosshaar hält).
Zurück (die Utopie stirbt zuletzt, warum nicht umkehren und schauen, wie die Nordseerunde in umgekehrter Richtung aussieht).
Vorhin SMSt Ray, dass er nähe Harlem in einem Tipi übernachtet. Sleep well my friend and a save journey.

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(Tag 103)

Rendsburg

Tag 101 (6.Juli) „stationär“ in Rendsburg. SoSo und ich sitzen Leckeis leckend am Hafen am Nordostseekanal. Die Leute im Hintergrund: Er schickt sie Eisholen. Der Leckeisstand sieht aus wie ein Bienenstock. Drei vier Bedienungen gleichzeitig schöpfen aus den Töpfen. Eine Menschentraube auf der anderen Seite. Alle wollen alles gleichzeitig immer irgendwie :-)

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Bild mit der Hipstamatic App, die ich in den Zufallsmodus versetzt habe. Das heißt: wenn ich das iPhone schüttele, wechseln die Effekte. Ich weiß somit nicht, wie das Endergebins der einzelnen Bilder aussieht. Auf Pixartix gibt es weitere Bilder und Collagen vom gestrigen Artwalk in Rendsburg. Sowohl SoSos Sicht, als auch meine.

Tag wieviel?

Frühmorgens in Rendsburg. Die Reise „Ums Meer“ ist 4000 Meilen weit entfernt. Offenes Fenster, Sommermorgen, Pizzapension. Stadterwachen. Erste Vöglein zwitschern. Krähen krächzen.
Gedankenmühle malt.
Ich habe einen Fehler begangen: ich habe die Reise unterbrochen. Das live geschriebene Buch ist zu Ende, wird mir klar. War die Reise nicht von Beginn an eine Analogie für das Leben? Vom spritzigen Frühling Frankreichs und Britaniens hinüber in den Sommer Norwegens, die schlimmsten Passagen im Herbst der miesen Radwege irgendwo im Niemandsland zwischen Fredrikstad und Göteborg, nahtloser Übergang in den Winter der Reise, welche dem Winter des Lebens ähnelt – ein Wettlauf mit der Zeit und letztlich die Gewissheit, dass höhere Kräfte das Ende bestimmen. Im Leben wie auch auf der Reise, die nur so tut, als sei sie eine Analogie aufs Leben. Die letzten Reisetage so voller Erlebnisse und Ideen – seit dem Nachtlager hinter dem Sandhaufen am Deich sind sie ungeschrieben. Ich bin ein dementer, inkontinenter, ungepflegter, bettlägriger Kerl geworden – wie surreal im Wind wehende Vorghänge zieht sein „Leben“ an ihm vorbei. Das Sterbebett der feinen Künste. Immer wieder unternehme ich Anläufe, das Tagesgeschehen weiterhin zu dokumentieren. Aber im Würgegriff des Speedlifes habe ich keine ruhige Minute. Über Norddeich und Norden rasen Ray und ich gen Emden. Übernachtung im Garten einer Farm – alleine Friedrichs herzliche Gastfreundschaft und die Details unseres Aufenthalts in Upgant-Schott zu beschreiben … ich habe nicht mehr die Kraft dazu und nicht mehr die Zeit. Nicht dass die letzten Tage besonders hektisch gewesen wären. Sie waren diktiert vom größten aller Machthaber, der Zeit. Tickitick, Tickitick, Tickitick Tack Tack. Der schiefste Kirchturm der Welt – wie hieß noch das Dorf nördlich von Emden? Ray und ich stolpern mitten in eine Führung, die ein Mann macht, der kokett sagt, dass er so glaubhaft über die Sturmfluten des 17ten Jahrhunderts erzählt, dass ihm die Leute, denen er die Geschichte der Kirche und der Gegend erzählt, auch glauben würden, dass er persönlich die Fluten erlebt hat. Der Kirchturm ist im Buch der Rekorde als das schiefste Bauwerk der Erde verbrieft. Der Turm von Pisa ist geradezu senkrecht im Vergleich. „If I run“, sagt der Mann zu Ray, „you must duck and follow“. Wie ein Uhrwerk spult er die Geschichte seiner Kirche. Guter Takt. Im Innern des Turms hat man einen guten Blick in das von drei 75 Kilo Gewichten getriebene Uhrwerk des Glockenturms. Patinierte Zahnräder hinter Plexiglas. Kleinwagengroße Zeitmaschine. Unaufhaltsam. Tickitick.
Ray will weiter. Will an diesem Tag noch nach Holland. Tickitick. Ich habe die Zeittafel vom Emdener Bahnhof im Kopf tickitick, stündlich, immer um 18 nach fahren die Züge nach Oldenburg. Dass ich nachmittags bei Freund Schlager bin, habe ich versprochen, tickitick, betont vage. Nachmittag könnte alles heißen. Dreizehn Uhr? Achtzehn Uhr?
Dennoch drückt die Uhr. Schon sage ich Tschüss zu Ray an einem Radwegschild, das nach links auf die Nordseeroute zeigt, nach rechts einen Kilometer zum Hauptbahnhof Emden, kurz vor, tickitick, genug Zeit dahin zu radeln, dennoch das Gefühl im Gepäck, zu spät zu kommen. Umarmung, tickitick, save journey, tickitick. Ich vergesse, Ray die Brötchen und die Eier mitzugeben, die ich morgens bei Friedrich in der Küche eingepackt habe. Ich werde sie nicht mehr brauchen, da ich bei Freund Schlager in Oldenburg logiere.
Schlager kommt mir entgegen. Ich hatte mich verirrt. Oldenburg ist die Stadt der Scheinparallelen. Die Straßen führen unmerklich schräg voneinander weg, sternförmig, erklärt mir Schlager. Wenn man falsch abbiegt, glaubt man noch lange, man befinde sich auf einer Parallele zum Ziel, aber mit jedem Schritt entfernt man sich. Wie im Leben. Schnellstadtführung per Auto und zu Fuß. Schlager päppelt mich auf, spendiert Kebab, schenkt mir Hosen. Fährt mich am nächsten Tag zur Autovermietung, wo ich den Leihwagen hole für den Urlaub mit SoSo. Und rein ins deutsche Autobahngemetzel. Ich habe Glück. Wenig Verkehr. 200 km bis Hamburg oder gar mehr. Ich achte nicht auf den Kilometerstand. Flughafen Fuhsbüttel. Eine Stewardess, an der ich vorbei laufe, schaut auf ihre Armbanduhr. Plötzlich ist mein Blick geschärft für solche Details. Menschen starren auf die Tafel, die die Landungen anzeigt. Zürich ist pünktlich. New York seit sechs Stunden überfällig. Berlin 10 Minuten zu spät. Herr Tohlsen wird ausgerufen für den Flug nach Rom. Ich belausche Handygespräche, die das Lied von der Verspätung singen, im Refrain stets die verklärte Hoffnung auf Pünktlichkeit. Eine der großen Balladen unserer Zeit. Wenn alle Menschen gleichzeitig auf ihre Armband schauen würden in einer kollektiven, ruckartigen Bewegung, würde die Erde ins Trudeln geraten.
SoSo pünktlich aus der Abfertigungshalle. Wir fahren nach Rendsburg, wo wir uns in der Pizzapension eingemietet haben für zwei Nächte, in der wir schon letztes Jahr logierten. Übernachtung und Freipizza für nicht allzu teuer. Gestern bummeln durch Tag und Stadt. Ein Artwalk. Leckeis. Throwing Time Away, säuselt der Refrain eines Lieds in meinem Hinterkopf, ich glaube von einer Band namens Pere Ubu. Tot.
Per Telefon schlagen Sorgen ein. Meteore aus der Kälte, die mir nun den Nachtschlaf rauben. Schatz, ich bin zu Hause. Der Liveblogbericht „Ums Meer“ ist zu Ende. Vielleicht ist auch die Reise „Ums Meer“ zu Ende? Kann ich noch einmal einsteigen und im Schnellleben wie es die letzten Tage stattgefunden hat, wenigstens die Kunststraße zu Ende fotografieren?

Never skip an open end.

Der wievielte Reisetag? Ich muss im Blog nachschlagen. Tag 102. Die Stadt erwacht.