Die Kunstmaschine läuft auf vollen Touren. So muss es sich angefühlt haben, als Kapitän Nemo zu seiner letzten Fahrt angetreten ist. Zwanzigtausend Meilen ums Meer. Ich durchradele Urlaubsholland wie im Flug. Auf schmalen Wegen durch Dünen, über Deiche, an kleinen Hotels vorbei und an riesigen Campingplätzen. Drei-Insel-Reiten. Schon kurz nach dem Start auf dem Wildzeltplatz östlich von Hoek van Holland erreiche ich Maasdijk. Maasdeichingen, wie ich es nenne. Eine schöne Grachtenstadt. Eine Autofähre quert den Fluss. Der Versuch, dem Fährmann meinen verschmutzten, nass gewordenen Fünfziger unterzujubeln, scheitert. Ich gebe ihm mein letztes Kleingeld. Nun kann ich noch nicht einmal mehr Spaghetti kaufen, um den Sonntag zu überstehen. Es sei denn, ich ziehe frisches, sauberes Geld an einem Bankautomaten. Die Niederlande sind definitiv zum schönsten Abschnitt der Nordseestrecke gekürt. Vielleicht nur eine Gefühlsduselei gegenwärtigen Seins. Letztlich hatte jedes der zehn Länder, die ich bereist habe, seine Schönheiten und Abgründe, seine Stärken und Schwächen. Norwegen war vierzehn Tage Früh- bis Hochsommer in der spektakulärsten Landschaft. Dünendänemark so beautiful, Schwedens exorbitante Schärenküste und der ganz spezielle Charme. Das raue Schottland, Salz und Kälte im Gesicht, die pure Adelung für den Europenner und die Eleganz der Engländer, ihre Pubs, die schrullig feine Art, mit der sie einem begegnen. Deichdeutschland und Eidersted, mein Heimatland im harschen Takt des Alltagslebens. Belgiens liebenswertkreativer Süden im schrillen Kontrast zu Geld-Luxemburg, et la France, oh lala.
Die Nordseerunde zu radeln kann einen glatt zum Europapatrioten werden lassen. Dringend empfohlen allen Skeptikern, Neidern und Miesepetern. Wie im Kleinen, so müssen wir auch im Großen Toleranz lernen, Arroganz abbauen, Fremdenhass, der aus dem Mangel an beidem entsteht in die untersten Schubladen unserer Abgründe unseres Empfindens verbannen. Die Nordseerunde zu erradeln hat mich auch gelehrt, den Kontinent besser zu verstehen. Ich selbstgebastelter kleiner Europapatriot, ich.
Genug gelobhudelt. Die Radwege quellen über von Radlern. Das schöne Wetter presst Sonntagstouristen aus den Poren des Alltags, die Schar der Lemminge zieht zum Strand. In Abständen von wenigen Kilometern gibt es an der Küste Südhollands riesige Fahrradparkplätze, meist hölzerne Reihen von Geländern, an denen Tausende Räder angelehnt stehen. Mit Kind und Kegel, mit Schwimmreifen um den Bauch, Handtüchern über der Schulter, barfuß oder in Badelatschen auf den Pedalen zieht man zum Strand. Bunt trikotierte Rennradler flitzen zwischen dem langsamen Strom hindurch, ich irgendwie mittendrin, schneller, als die Strandtouristen, langsamer, als die Rennradler. Ein Kind namens Noah zieht fröhlich eine zwei Meter lange Fahne schwenkend, den gesamten Radweg blockierend dahin und ich Eindringling versaue versehentlich seinen Tag, denn sein Über-Ich von Papa schreit laut von hinten, Noah, gleich zerbrech ich das Ding, wenn du nicht aufhörst, und er gibt dem armen Bub einen krassen Dämpfer und mir kilometerweit zu denken, wie die Geschichte Noah wohl weitergeht, so im Leben, denn es dürfte klar sein, dass der Bub seine gesamte Kindheit und Jugend mit dem Papa zurechtkommen muss. Mehr noch, mit der Wahl des Namens, der für viele Eltern eine Verwirklichung ihrer eigenen kleinen Welt ist, waren die Eltern ziemlich tollpatschig. Noah ist eigentlich ein schöner Name, aber in Deutschland, mein Gott, liegt der Hänselname Arschie Noah doch geradezu auf der Hand.
So trudele ich weiter durch Insel- und Strandholland, passiere kilometerlange Flutsperrwerke, in denen das Wasser mit jeder Tide kontrolliert ins Landesinnere rauscht und wieder hinaus zieht. Vertreibe mir die Zeit mit Statistik: Wie viele Liter Milch hast du eigentlich auf der Reise getrunken? 120 – bei durchschnittlich einem Liter pro Tag. Wie viele Meter Bart musstest du rasieren, wie viele Kilometer Haar kämmen? Sicher einen Artikel wert.
Die etwa fünfhundert Autos dort vorne am Strand. Wieviele Menschen spucken sie aus? Zweitausend? Jeder vierte hat nen Hund, so wie dieser Golden Retriever, der neben dem Radweg in den Sand defäkiert. Alle fünfhundert Hunde in meiner Statistik müssen AA und es gibt, im Gegensatz zur Schweiz hier keine Pflicht zur Kotaufnahme. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man bei einem willkürlichen Schläfchen an der sofalehnenähnlichen Dünung neben dem Radweg in einem Hundehaufen schläft? Ich sollte Lotto spielen. Einer gleichschnellen Familie folge ich für etliche Kilometer. Sie klingeln sämtliche Urlauber für mich vom Weg. Erreiche die Insel Zeeland gegen Abend und peile Breskens an, welches via Middelsburg und Vlissingen per Fähre erreicht wird. Kurbele mächtig rein. Das imaginäre Fähren-Abfahrtsdilemma. Zu oft habe ich auf der Nordseerunde Fähren verpasst und musste deswegen zig Kilometer weite Umwege machen, oder unfreiwillig warten bis zum nächsten Tag. Meine imaginäre Fähre nach Breskens, die letzte an diesem Samstag, fährt um 19 Uhr. Natürlich könnte ich im Netz nachschauen, aber wenn sie dann tatsächlich um 19 Uhr fährt, oder gar um halb, setzt mich das nur unnötig unter Druck. Erstmals knacke ich die Hunderttageskilometermarke. Die Kunstmaschine läuft wirklich super. Es gelingen mir sogar brillante Hipstamaticaufnahmen. Die Kräfte, die in einem stecken sind um einiges größer als man selbst glaubt. Ich kann noch zulegen, wenn ich möchte.
In Middelburg ist der Radweg gesperrt. Dumpfes Technogewummere, Hunderte streben auf eine Unterführung zu. Menschenstau. Ich muss an die Loveparade in Duisburg denken. Ähnliche Situation. Mit einem unguten Gefühl folge ich einem Jungen, der wie ich, den Radweg ins sieben Kilometer entfernte Vlissingen nehmen wollte. Der ist von hier. Der kennt die Schleichwege. Mit fünfundzwanzig Sachen raus aus Middleburg. 18:41. Das wird knapp. Punkt 19 Uhr bin ich beim Fährhafen. Der Eingang zum Schiff liegt in der Schalterhalle des Bahnhofs. Dort gibt es auch das Ticket zu kaufen. 18:55 hatte das Schiff abgelegt. Aber nicht das letzte. Stündlich fahren die Schnellboote hin und her. Am Schalter mit Durchgangssperren wie in einer U-Bahn, aber groß genug für bepackte Fahrräder, kaufe ich ein Ticket für 3,80. Froh, dass ich den schmutzigen Fünfziger zuvor in einem Lebensmittelladen losgeworden bin. Stunde warten. Das Ding ist gut frequentiert. Hunderteinundachtzig Passagiere passen auf den Katamaran. Auf der anderen Seite des Ufers hat man im brillant klaren Abendlich eine wunderbare Aussicht auf Vlissingens Skyline, Leuchtturm, Strand, Schattenwürfe, langsam pumpt der Strom der Tagestouristen aus den kleinen Wegen an der Küste. Die Lagerplatzsuche erweist sich als äußerst knifflig. Mein Dilemma: auf einen Riesencamping will ich nicht, zu tief sitzt das Trauma der Terrorkids, die in Schleswig Holstein bis 2 Uhr nachts Fußball auf der Zeltplatzwiese spielten. Südlich von Breskens gibt es multiple Campingplatzmöglichkeiten. Allesamt riesige Gebilde voller Wohnwägen und dauerhaft installierter Wohncontainer. Rainer, mit dem ich über den Oeverdeich geradelt bin, hatte mir schon davon erzählt. Wenn ich hier wild zelte, werde ich wegen des offenen Landes unbedingt gesehen, kann mich aber nicht rausreden, dass kein Camping da war. Schweren Herzens stoppe ich gegen 21 Uhr bei einem der Riesenplätze, frage nach der Rezeption und man sagt mir, dass es für alle Plätze eine einzige Rezeption gibt, zweimal links, dort wo der Pub ist. Igitt. Kilometerweit an Campings vorbei. Mäßiger Lärm. Ab und zu Stampfmusik, ab und zu Fußball, Gemurmel, Grillgeruch. Als ich den Campingstrich hinter mir gelassen habe und mich ins Innenland bewege, finde ich – die Vorsehung will es so – einen schönen Minicamping auf einer Farm Beer Ostije heißt er. Die Besitzer sind nicht da. Zwei Frauen im Wohnwagen gegenüber gebe ich meinen Zusatzakku zu laden über Nacht. Die Kunstmaschine rattert noch immer. Mit all den Verwaltungsarbeiten zur Aufrechterhaltung der Tourenarbeit. Verzicht auf Abendessen. Ein Starkbier und Honigkekse tuns auch. Ungeduscht.
Gut erholt am nächsten Morgen treffe ich die Besitzerin des Platzes (eine der beiden Akkulade-Nachbarinnen hatte sie als etwas seltsam, als streng, beschrieben – kann ich nicht bestätigen). Die Frau ist fröhlich-freundlich und erlässt mir die Campinggebühr. Wieder einmal fange ich über den Umweg des Erlebens der Meinungsbildung durch andere, wie wichtig es ist, möglichst keine Meinung zu verbreiten. Diese Zeilen, ach was, das gesamte Blog hätte somit nie geschrieben werden dürfen . Es sei denn, man nimmt es als grobe Skizze der subjektiven Realität eines Einzelnen unter Einzelnen.
Und so sei es.