24. Juni 2412 – In der Akademie für Digitale Live-Projektion lehrt man noch heute die unkonventionellen Methoden, die auf die Bloglegende Irgendlink zurück gehen, mit denen man einen eher lahmen Bericht, in dem sich der/die Liveschreibende „festgefahren“ hat, wieder beleben kann. Seit 400 Jahren gilt Irgendlinks „Ums Meer“-Blog als das Standard-Werk schlechthin. Nicht zu Unrecht steht es als eines der letzten Druckwerke des ausgehenden Zeitalters des Buchdrucks in jeder kleinen Bibliothek, die etwas auf sich hält.
Ich möchte in diesem Artikel an den 400sten Geburtstag des wohl kernigsten Artikels, den Irgendlink je geschrieben hat, erinnern. In dem live geschriebenen, unkorrigierten Ist-wie-es-ist (IWEI) wurde seither eine Art Manifest des Livebloggens gesehen, nicht unumstritten von den beleseneren Zeitgenossen. Auf verblüffende Weise springt der Liveliterat von Ebene zu Ebene, die sich während seiner Reise im jahr 2012 „wie aus dem Nichts“ für die wenigen Lesenden des Liveberichts manifestierten.
(B) Mal ist die Rede von dem imaginären Butler James, mal schlüpft der Autor in die Rolle des naiven Jungen, um auf flapsige Weise einen nativ kindlichen Stil, gewürzt mit ein bisschen Ironie, einzunehmen, um kurze Zeit später in die Rolle der Figur Knildnegri, alias Lind Kernig zu schlüpfen. Ein Pseudonym, das er selbst nur sehr selten benutzte und das ich mir nun angeeignet habe.
(B) Irgendlink erdreistet sich, seinen Artikel zu eröffnen mit den Worten:
„Liebes Tagebuch, der Clown, den mir James, mein aufblasbarer Butler heute serviert hat, war ein sehr trauriger Kerl. Er hieß August und er war sehr sehr dumm. James hat auf der Butlerschule in Oxford einen wunderbaren Trick gelernt, mit dem er fast jeden Clown fangen kann. Er gibt vor, ihnen eine Gratis-Fußverlängerung zu machen. So gehen sie ihm arglos ins Netz. James ist ein meisterlicher Clownkoch. Mit Basilikum. Lecker. Die Schuhe hat er zu einem Kreuz geformt und es am Wegesrand aufgestellt.
(B) Liebes Tagebuch, warum ich so traurig bin heute, liegt aber nicht an dem August, der die Mundwinkel hat hängen lassen wie ein dicker Filmhund die sabbrigen Leftzen, nein, nein, es sind die Kommentatoren, Axel und Klausbernd, die so gemein zu mir waren. Ich frage mich, ob man durchs viele Clownessen dumm werden kann, oder blind, aber das, was ich mache, ist doch Kunst, liebes Tagebuch, und nun kommen diese Rüpel daher und kritteln daran herum und sagen, da musste aber noch viel daran arbeiten, das ist doch keine Mona Lisa, du Schmierfink, geh erstmal zur Schule und lerne ordentlich schreiben. Und so weiter und so fort. Mann sind die gemein. Der Axel ist ein richtiger Rüpel und viel stärker, als ich. Klausbernd stärkt ihm auch noch den Rücken, diese Schlange.“
Soweit so gut. Die latent kindlichen Worte eines gekränkten Bloggers, der sich auf diese Weise Luft macht über einen Kommentrarstrang, in dem einmal nicht alle ihm hinterher hündeln und sagen, „Bravo, Junge, das hast Du aber feiiin gemacht“? Weit gefehlt.
Sehen Sie selbst, wie der live Schreibende mit einer imaginären Außenbetrachtung aus dem Jahr 2412 überleitet zur erlebten Erzählebene des Dänemarks 2012:
(B) „Soweit so gut. Die latent kindlichen Worte eines gekränkten Bloggers, der sich auf diese Weise Luft macht über einen Kommentrarstrang, in dem einmal nicht alle ihm hinterher hündeln und sagen, „Bravo, Junge, das hast Du aber feiiin gemacht“? Weit gefehlt. Sehen Sie selbst, wie der live Schreibende mit einer imaginären Außenbetrachtung aus dem Jahr 2412 überleitet zur erlebten Erzählebene des Dänemarks 2012 und nach einem Doppelpunkt steigt er ein in den tagesaktuellen Text:
Dauerregen. Was auf der Zeltplane außen romantisch klingt, ist innen eine düstere Bedrohung. Ich beginne einen Artikel zu schreiben, ständig diese Diskussion im Sinn, paar Artikel zuvor, angezettelt durch Axel, geschürt durch Klausbernd. Eigentlich muss ich euch ja dankbar sein. Das Blog ist tatsächlich ein bisschen schläfrig geworden. Spiegel meines Daseins? Spiegel der Landschaft, die ich durchradele? Es gibt nicht jeden Tag etwas zu erzählen. Jeder ist seines Blogs Schmied, habe ich einmal geschrieben. Und: Alles ist erlaubt, habe ich einmal einen Satz geklaut irgendwo, vielleicht in der Weltliteratur. Sprich, ich kann hier einfach machen, was ich will. Ich handele sowieso der modernen Bloglehre permanent zu wider. Die Einträge sind viel zu lang. Es gibt keine Schlüsselwortkonzentration. Ich müsste viel häufiger Worte wie Nordseeradweg in H2-Tags setzen oder in Strong-Passagen, müsste die Keywords meiner wenigen SponsorInnen mit Links anpreisen. Dumm, dass die Kunst frei ist und man machen kann, was man will. Denjenigen Lesenden, die sich an Technikdingen langweilen, werde ich einfache Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Text geben. Sicher sind Euch die vielen Bs, scheinbar unsinnig im Text verteilt, aufgefallen. Sie stehen für „Bitte aufhören“. da könnt Ihr dann einfach den Text verlassen und woanders weiterlesen.
Gegen eins baue ich das Zelt neben der Siloanlage ab, radele durch langweiliges Schafland. Genau, wie Rute in Skagen gesagt hat: die Gegend bis Esbjerg von der Grenze an, ist nicht interessant. Da es nichts zu tun gibt, außer nass werden und Blogartikel basteln, überlege ich, sämtliche Register des Livebloggens zu ziehen und mich quasi selbst herauszufordern, indem ich einen Artikel schreibe, in dem sämtliche latent skizzierten Ebenen des bisherigen Liveberichts gleichzeitig drin vorkommen: ein bisschen Clown, ein bisschen Lind Kernig, ein bisschen echter Irgendlink, ein bisschen Ironie hier, und ein Stück Jürgen Rinck, das ganze spult sich in meinem Kopf ab, wie die Pedale sich drehen – als treiben die Beine das Hirn an, ach ja, und den Bezug zur Realität, bitteschön, den stelle ich mit Einblendungen echter Erlebnisse dar. Der Typ im Toyota-Pickup an dieser Kreuzung kommt mir gerade recht. Mit offenem Seitenfenster wartet er auf mich, scheinbar, um links abzubiegen, und ich rufe durch den Dunst Hei und er ruft zurück und ich bin schon vorbei, drehe mich noch einmal um und er steht immer noch da, legt den Rückwärtsgang ein, als ich schon wieder rein trete, mich wieder umdrehe, er zurück fährt, auf mich zu und dann wird mir klar, dass er mit mir reden will, warum auch nicht. Der Mann hat Zeit, strömt Ruhe aus, erzählt mir von einem Lagerplatz, drei Kilometer weiter, mit einfachen Facilities, Toilette, Wasser, Wiese, direkt am Radweg, jede Menge Radler kämen alljährlich daran vorbei und er habe es eingerichtet, weil er eben Radler möge.
(B) Keckheit im Schädel, regennasse Lippen, Wolken hängen bis in die Wiesen und splitternackte, frisch geschorene Schafe wissen nicht so recht, wie ihnen geschieht. Im Windschatten vereinzelter Hecken kauernd. Ich könnte einen Aufsatz schreiben über Technik, lache ich: Der Pufferakku – Fluch oder Segen für die Menschheit. Nur so zum Trotz im Stil der guten alten Erörterung, wie wir es in der Schule gelernt haben:
- A – Einleitung „Seit Menschengedenken ist ein technisches Gerät quasi als Gottheit unter den … bla bla bla und so weiter.
- C Hauptteil (hier darf ich ja nicht B schreiben, sonst könnten gelangweilte Lesende einfach abhauen aus dem Text) die Widers zuerst, die Fürs zuletzt, weil ja der Pufferakku ein gutes Gerät ist, und das, wofür man Stellung bezieht am Ende stehen soll in der Erörterung.
- D Schlusswort (Eigentlich C, aber B ist ja C, damit niemand abhauen kann aus dem Text. Hier nochmal die Erörterung zusammenfassen und mit voller Inbrunst dem Pufferakku huldigen.
(B) An dieser Stelle des live gebloggten Berichts soll Irgendlink erkennen, wie kompliziert es ist, eine Operation am offenen Herzen der Literatur durchzuführen – erste Zweifel, ob es eine gute Idee ist, solch einen Bericht in einem durchnässten Zelt zu tippen, Regenschauer im Nacken, umspült von Wind, schimmern durch:
„Nun sitze ich im Zelt neben dem Sportplatz von Neukirchen. Wieder in Deutschland, nach wie-vielen Wochen? Eine Dänin mit knallroter Regenjacke erklärt mir gestern den Weg , kurz hinter Højer, immer nach Süden sagt sie, und dass das Wetter ein bisschen besser sein könnte. Ich ackere noch anderthalb Stunden bis Neukirchen, zurück im deutschen Netz, telefoniere, SMSe, schicke Mails. Alles nass. Weiß nicht, ob es in England und Schottland je so schlimm war. Der Artikel geht mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf, alles in eins packen, war noch nie gut, ist aber ein Experiment wert. Nun schreibe ich seit einer knappen Stunde an dem Ding, springe von Ebene zu Ebene, meißele das, woran ich gestern intensiv gedacht habe, aus Worten. Schreiben ist wie Bildhauerei. Mir wird klar, dass Klausbernd recht hat, wenn er sagt, die Sache muss nachbearbeitet werden. Ich kann das gar nicht leisten, eine Idee direkt und ohne später noch einmal daran zu feilen, in die Tasten zu hacken. Ähnlich verhält es sich mit den Fotos. Die Bildtafeln, die bisher entstanden sind, haben schon rein technisch gesehen, eine Nacharbeit nötig. Die App, mit der ich die 16er Collage setze, spuckt nur 1600 Pixel breite Bilder aus. Möglich sind aber 6000 Pixel.
(B) Auch befinden sich sämtliche Nikonbilder noch ungesichtet auf Speicherkarte und die wenigsten Bilder überhaupt konnte ich per Datenautobahn direkt in die Homebase senden.
(B) An dieser Stelle verliert sich der Autor tatsächlich in unnützes Kunstgeschwafel und breitet seine halbphantastischen Ideen zum Liveschreiben aus. Eine Recherche durch eine Expertenkommission im Jahr 2235, kurz vor dem energetischen Kollaps ergab, dass Irgendlink offenbar etliche Zeilen des Originaltextes gelöscht hat und stattdessen diesem von Kritikern als „Das große Elend der Präenergetischen Liveschreibe“ bezeichneten „Machwerk, das gerne ein Manifest sein würde“, ein schlichtes Ende setzte mit (Sch)
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)