Möge der Weg wachsen, mit oder ohne dich

Vieles, was man mir unterwegs gesagt hat über die Strecke, trifft zu. Dass mich ein Reschenpass erwartet östlich von Egersund, hatte mir eine Münchnerin in Stavanger auf dem Campingplatz gesagt. In fjordgerechte Scheiben geschnitten waren es sogar zwei drei Reschenpässe. Dass Norwegens Radwege die besten sind auf der Nordseerunde kann ich nicht bestätigen. Die spektakulärsten trifft es. Für „Bester Radweg“ ist die Beschilderung zu schlecht, sind zu viele Gefahrenstellen, wie etwa die mehrfache Überquerung einer autobahnähnlichen Straße nahe Stavanger, ohne Zebrastreifen oder Ampel, eingebaut. Aber man arbeitet am Radweg permanent. Neil aus Newtonmore hatte mir über das englische Sustrans-Radwegenetz erzählt, dass es dreißig Jahre gedauert hat, bis es so geworden ist, wie es jetzt ist. Gib den Norwegern noch zehn Jahre. Es wird wachsen. Wie alle Wege. Hoch über dem Jøssefjord klärte mich ein Kölner auf, der schon seit zehn Jahren ein Häuschen in Åna-Sira besitzt: „Guck, da drüben, wo die Seile am Fels sind, das war die alte Passstraße“. Bei dem Wort Passstraße hob er die Stimme, um höhnisch zu unterstreichen, wie bizarr das Wegchen war. Und gefährlich. Über Bohlen und schmale Felskanten führte ein Auf und Ab am Fels entlang. Noch gut erkennbar die Linie, der die Leute vor hundert Jahren folgten. Vielleicht auch mein Freidenkerfreund Mysil Bergsprekken?

Bei meinen Radreisen sind mir immer wieder die Überreste alter Wege aufgefallen. In den Tälern der französischen Alpen, Cevennen, Pyrenäen kriegt man bei genauem Hinschauen einen guten Eindruck, wie die Strecken über Jahrhunderte „gewachsen“ sind, wie es vom einfachen Gebirgspfad, den man nur per Esel oder zu Fuß passieren konnte, zur vergleichsweise pottebenen Autobahn kommen konnte, die sich durch Tunnel und über Brücken ohne jegliche Rücksicht auf die natürlichen Gegebenheiten, ihren Weg bahnt. Sturer Mensch geht strikt voran. Querab durch die Jahrhunderte.

Das Stück zwischen Larvik und Kristiansand hätten sie lieber ausgelassen, erzählten mir zwei deutsche Radler in der Nähe von Stavanger, so dass ich die Strecke als widerliche, autobahnähnliche Passage in meinem Hinterkopf ablege und mir schon überlege, es wie Matt zu machen, der von Kristiansand die Fähre nach Dänemark genommen hat. Einfach weglassen. Bloß nicht! Manchmal können Mitmenschen irren, und wenn ihr mich fragt, sogar meistens irren die Mitmenschen und die Stimmen einzelner wiegen meist unverhältnismäßig viel gegenüber den gemäßigten Stimmen vieler, die unspektakulär leise vor sich hin murmeln.

Wie Licht und Schatten untrennbar muss ich seit Kristiansand einige Hauptstraßenpassagen in Kauf nehmen, die aber auf separaten Radwegen direkt neben der Straße führen. Die Steigungen sind nicht nennenswert im Vergleich zu den Fjorden bei Egersund, ein stetes Auf und Ab. Um Arendal wirds städtisch unangenehm, was wohl noch verstärkt wird durch die lange Abstinenz von Stadt. Wie wird es mir erst in Deutschland ergehen mit so viel Einsamkeit in den Knochen?

Mein Fazit für die Nordseerunde bisher ist, dass ich kein einziges Stück missen möchte. Die weniger schönen Abschnitte betonen die schönen. In Arendal verwehrt man mir erstmals das Fon-Aufladen in einem Bäckerei-Café beim ICA-Supermarkt, vermutlich, weil die Verkäuferin nicht ahnt, wo sich eine Steckdose befindet.

Ich beschließe fürs nächste Mal, ungefragt die Steckdosen auszuspähen, und einfach einzustöpseln. In der Innenstadt treffe ich meine Bettlerinnen von Kristiansand wieder. Faszinierend. Sie scheinen in meine Richtung zu reisen. An einer Hauptstraße, in der sich die Post befindet, wippen sie mit dem Oberkörper und rütteln mit dem Becher. Ich überlege, kollektiv fünf Kronen zu geben. Für die Gruppe. Frage mich, ob es gruppenintern ein Wertungssystem gibt. Wer am meisten verdient hat, ob es Unehrlichkeit gibt, Neid, Eifersucht, Konkurrenzkampf, wie in der kleinsten Zelle, so auch in der größten Zelle?

Selbstgebastelte Welt im Hirn. Spekulation. Du siehst nicht viel weiter, als bis zum Schaufenster dieses Pornoladens, rüge ich mich. Du kannst nicht wissen, wer sie sind, wie sie leben, ob sie zusammen gehören. Vielleicht ist es purer Zufall und all die EinzelbettlerInnen können es auch nicht glauben, dass sie sich heute zufällig wieder in Arendal treffen? Im Sexshop stehen acht lasziv gekleidete Schaufensterpuppen, Männlein und Weiblein, mit silbernen Schlüpfern, Handschellen, Knebeln, Masken, das volle Programm und mir läuft das Lied nach von Trio, in dem es heißt „Ich schau mir gern die Schaufenster von Pornoläden an – was dann, was dann? Dann rufst Du an und ich fange an zu träumen“ Ouh shallala „Herz ist Trumpf“. Von da ist es nicht weit bis zu dem rasanten NDW-Klassiker Da Da Da. So drifte ich durch die Stadt, vergesse die fünf Kollektivkronen, kaufe Kettenöl für nuenundachzig Kronen, ein Schreckschrei beim Bezahlen, ohne mein Zutun errechnet mein Hirn 11,50 € für ein Fläschchen Öl. Das darf mein Vater nie erfahren.

Auf unseren Bodenseetouren, die wir Mitte der 1980er Jahre jeweils um den 17. Juni radelten, hatten wir immer nur das Allernötigste dabei. Spartanik war groß geschrieben: Schlafsack, Plastikplane, paar Klamotten, Öl holten wir an Tankstellen aus dem Mülleimer, indem wir die letzten Tropfen aus weggeworfenen Motorenölflaschen quetschten. In Bäckereien fragten wir nach dem Brot von gestern oder vorgestern; wir schliefen in Neubauten, wo uns die Bauarbeiter morgens um 7 Uhr weckten, in Sägewerken, unter Miststreuern oder unter freiem Himmel. Soweit ich mich erinnere, hat es in der Woche um den 17. Juni Ende der 1980er Jahre immer geregnet.

Ich schweife ab.

Der Ölschock. Vergesse meine 5-Kronenspende für den imaginären Clan, verlasse Arendal. Zehn Kilometer Hauptstraßenradweg. Der Lärm geht mir auf den Geist. Da Da Da summend denke ich über Kunst nach. Darüber, dass das Einfache oft über das Komplizierte siegt. Darüber, dass der Mensch lieber spielt, als lernt, lieber den leichten Weg nimmt, als den schweren. Komischerweise kommt mir Kotzwinkle in den Sinn, der in seinem Buch Fanman eine Passage geschrieben hat, die Dorkietag heißt, und in der seitenlang geschrieben ist „Dorkie dorkie, dorkie“ und so weiter, sonst nichts. Eigentlich merkwürdig, dass ich kaum noch etwas über das Buch weiß, außer diese Passage – zudem ich sie gar nicht gelesen habe. Brumm, braus, brumm und so weiter sausen die Autos an mir vorbei, roaarrr röhr keuch – hei, Mann, das ist schon viel zu kompliziert, mach doch mal einen Blogartikel Röhr-Keuch-Tag, als Hommage auf diesen Kotzwinkle, dessen Vornamen du vergessen hast.

Dass sie damit durchgekommen sind in den feinen Künsten, mit Da Da Da und mit hundert Marilyn Monroes nebeneinander gesprayt und mit Bananen und mit Dorkie, das wundert mich, und so biege ich von der Roaar-brumm-keuch-Landstraße endlich ab in eine Zwitscher-pieps-Stille mit Rausch-rausch-Bäumchen und Plätscher -blubb-Bächlein und schlafe ein auf einer Parkbank bei einer Kirche, vor der ich pausiere, während lautlos Wolken ihr monotones Licht- und Schattenspiel treiben.

Gegen Abend, wieder im Sattel, wieder im Regen, spricht mich in Laget ein Mann an, und wir säuseln unser Woher und Wohin und das Wetter und die Welt wie schön und er nagelt einen Zettel an eine Pinnwand und deutet mit dem Kinn hinüber zu einem weißen schmucklosen Haus bei der Brücke, da auf der Wiese kannst du dein Zelt aufstellen. Das ist unser Bedehus, unser Gebetsraum, und ich weiß, dass er ein Engel ist, der mir den rechten Weg zeigt.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 67 – die Strecke

Nach 100 km bin ich nun in Helle bei Kragerø. Die Fähre bei Risør fährt nicht an Wochenenden, die zweite, bei Kragerø nicht nach 15 Uhr. So hatte ich zwei Fjordumfahrungen, sprich ca. 40 km Umweg, schrieb Irgendlink um zwanzig Uhr.

Bei Helle bin ich nun. Mückenvieh. Zeltaufbau, schrieb er – unter Angabe seiner Koordinaten – um viertel vor neun.

>>> Laget bei Risør – Helle nach Kragerø: zum ungefähren Kartenausschnitt der heutigen Strecke: bitte hier klicken!

>>> OpenStreetMap: hier klicken zum heutigen Ausschnitt.

Der Löwe schläft heut Nacht – auf der anderen Seite des Fjords

Ich rette Gedankenfetzen aufs Diktiergerät des iPhones, während ich über die stark befahrene 416 nach Risør radele. Falls ich zuhause nicht direkt wieder arbeite, könnte ich schreiben. Schon immer wollte ich auf eine real erlebte Reisegeschichte, wie die vorliegende, live geschriebene, eine fiktive Geschichte aufsetzen, einen Zukunftsroman der zeitgenössischen Kunst, der seine Wurzeln in der Realität hat. Nicht ganz so verrückt, wie Per Anhalter durch die Galaxis, der, habe ich einmal gehört, entstanden ist während einer Tramptour durch Deutschland.

Eine Kasperlefigur grinst mich von einem Holzstapel neben der 416 an. So könnte es auch in einem Roman von Jo Nesbø aussehen mit dem Titel Kasperle – Harry Holes zehnter Fall

Die Nacht vor dem Gebetshaus in Laget war trotz direkter Nähe zur Straßenkreuzung angenehm ruhig. Plumpsklo gabs auch, fast schon spartanisches Campingplatzfeeling. Um Klassen besser, als Fletchers Camping in England, auf dem ich für ein Stück ungemähte Wiese und das dreckigste Klo Englands zehn Pfund bezahlt hatte. Kann gar nicht glauben, dass ich mich nicht einfach umgedreht habe und gegangen bin mit den Worten “viel zu teuer”. Eine andere Zeit. England ist, wie der Name sagt, eng. Zwar schön, aber es handelt sich, aus der jetzigen Sicht um ein hochgradig eingezäuntes Etwas, in dem sich die Menschen in Burgen verschanzen vor dem Bösen, das jenseits der Zäune auf sie lauert.
Tut es ja auch.

In Norwegen sorgt die Natur für das Betretverbot. Im Sumpfland und auf Felsen und an Steilküsten kann man nun mal kein Zelt aufbauen. Ein uneingezäuntes Areal vor einem nicht videoüberwachten Gebetshaus hätte ich in England jedoch lange suchen müssen.

Ich schweife ab. Risør macht für die Nordseerunde nur dann Sinn, wenn man gegen den Uhrzeigersinn radelt. Am Hafen stehe ich nach sieben Kilometern Hauptstraße vor dem Fährenplan, der mir sagt, dass das Ding nur wochentags fährt (in umgekehrter Richtung liegt der Hafen Oeysang direkt an der Nordseeroute, ohne nervige Hauptstraßensackgasse. Erst in der Hochsaison ab 25. Juni kann man den Soendeletfjorden auch an Wochenenden überqueren. knapp drei Stunden später habe ich, entlang der Landstraße, Oeysang auf der anderen Seite erreicht. Dazwischen Regenschauer und alle dre Kilometer ein Zweibrücker Kreuzberg. Weitere sechs Zweibrücker Kreuzberge erklimme ich bis Stabbestad – 17 Uhr, zwei Stunden zu spät, um die letzte Fähre nach Krageroe zu nehmen. Ein Taxiboot fährt in den Hafen, spuckt vier Passagiere aus.

Eine Mischung aus Trotz und Lethargie hat sich breit gemacht: wenn die Nordseerunde an diesen beiden Fährstellen einen Bug hat und nicht ohne weiteres zu passieren ist, muss sie verlegt werden. Innerlich plädierend, dass die offizielle Strecke fürderhin um die Fjorde geführt wird, statt mit verlockenden potemkinschen Fähren ausgeschildert zu sein, ackere ich mich auf und ab um den Kilsfjorden, sehr einsam, sehr schön, Regenschauer sind meine Begleiter.

Ein Däne, der in Grimstad verheiratet ist und in den Schären bei Oeysang ein Ferienhaus hat, erzählt mir sein Leben: Zum Nordkap von Lindesnes aus ist er geradelt und bei Dauerregen von Bordeaux über die Pyrenäen und die Cevennen und die Alpen sechstausend Kilometer weit. Wieder diese magischen Extrempunkte, die so fiktiv sie sein mögen und so selbstgebastelt und hanebüchen (wie auch meine Strecke), doch nur Hülsen sind, die wir kraft unserer Reise mit Bedeutung füllen.

Wochenends radelt der perfekt deutsch sprechende Däne von Grimstad ins Ferienhaus, seine Frau kommt per Auto, sie sei es auch gewesen, die ihn von seinem bisher kühnsten Vorhaben hatte abbringen können: von Lindesnes mit dem Seekajak zum Nordkap. Weise Frau.

An diesem Tag erhalte ich eine Lehre oder eine Erkenntnis über meine Art des Reisens. Ich habe ausnahmsweise ein Ziel. Erstmals seit Boulogne-sur-Mer will ich abends an einem bestimmten Punkt auf der Reise sein, nämlich in Helgeroa, um Lars und Daniela aus Zweibrücken zu treffen. Sie haben ihren ersten Radlertag auf der norwegischen Nordseeroute. Helgeroa wären mit Fährunterstützung hundertzehn Kilometer. Machbar. Ohne Fähre jedoch hundertsechzig. Unmöglich, dabei auch noch einen kühlen Kopf zu behalten und das Leben zu genießen.

Vielleicht ist es ein Fingerzeig des Schicksals, dass für mich die Fähren nicht fahren. Wie zerbrechlich und filigran die Kunstmaschine doch ist, die ich geworden bin, wie sehr sie darauf angewiesen ist, im grünen Drehzahlbereich zu laufen, sich selbst antreibend im geregelten Takt, ohne sich von einem Tasgesziel verlocken zu lassen.

Nach hundert Kilometern und geschätzten acht- bis sechzehnhundert Höhenmetern in Form kleiner fieser Zweibrücker Kreuzberge finde ich im Strandbad von Skarbø einen guten Wildzeltplatz. Einsamer Fischer wirft den Haken in gekonntem Schwung. Ob es eine Verwandtschaft gibt zwischen Anglern und Golfern? Auf der anderen Seite des Fjords wummert eine Party vor einer Campingplatzhütte. Laut singen sie mit: “The Lion sleeps tonight” und ich bin froh, dass ich dort nicht abgestiegen bin. Für hundertfünfzig Kronen neben einer Sause zu übernachten wäre geradezu fletcheresk.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Tag 66 – Bilder

On the road again … schallalala … (für groß aufs Bild klicken …)

Das schmalste Haus Norwegen? Steht in Tvedestrand …

Und weil es so schön ist, gleich nochmals …

Auf einem der vielen Zweibrücker Kreuzberge kurz vor Laget bieten gütige Anwohner Trinkwasser und eine Bank zum Ausruhen für Radler. Sowie süße Figuren fürs Auge …

Die Radlerruhebank

In Laget

 

Tag 67 – Bilder

Kasperle mit Schalk im Nacken und Dach über dem Kopf (für groß aufs Bild klicken)

Unterwegs ins Ausland … (was das auf Deutsch wohl heißt?)

Tankstelle bei Øysang

Tankstelle bei Øysang – die Details …

Fähranleger in Stabbestad

In Stabbestad am Hafen

In Stabbestad am Hafen –  und gleich noch eins …