Irgendwann Mitte der 1970er Jahre. Ich muss diesen Fokker Dreidecker unbedingt haben! Der ist so cool. Mit den schönen schwarzen Kreuzen drauf auf weißem Grund. Und der rote Baron. Boa. Der hat sie alle runter geholt mit dem Flieger. Rattatatatatata.
Im einzigen Spielzeugladen in dem kleinen Dorf Alsenz in der Nordpfalz gibt es den Dreidecker nicht mehr. Nur noch die Spitfire. Und Schiffe. Langweilige Fregatten. Wir alle wollen den Dreidecker. Wir haben unser Taschengeld gespart. In Obermoschel, zwei Dörfer weiter, ist auch ein Spielzeugladen (kaum vorstellbar, aber diese Zweitausendseelenkaffs der 1970er Jahre hatten alles, was das Kinderherz begehrt: Kaufmannsladen mit Standgenbrause an der Verkaufstheke, Spielzeugladen, Kaugummiautomaten).
Obermoschel ist weit weg. Sechs Kilometer. Unmöglich, dort zu Fuß hinzuspazieren. Wir beschließen, die unglaubliche Distanz mit dem Fahrrad zurückzulegen. Was waren wir aufgeregt, uns so weit von zu Hause weg zu begeben.
Ich habe schlecht geschlafen auf dem Holzlagerplatz. Mitten in der Nacht wecken mich Regentropfen und starker Wind in den Bäumen über dem Platz. Die einzelstehende Fichte direkt über dem Zelt macht mir ein bisschen Sorge. Wie weit sie wohl stürzt, wenn eine Böe sie umreißt? Mein Vater hat mir einmal gezeigt, wie man die Fallweite eines Baumes bestimmen kann. Nur mit zwei gleich langen Hölzchen. Fast auf den Meter genau lässt sie sich bestimmen, wenn man auf ebener Erde ein Hölzchen senkrecht hält, das andere mittig dazu wie ein T von der Nasenspitze peilend bis der Baum vom senkrechten Hölzchen ganz bedeckt ist. Dann noch einen Schritt zurück und man ist auf der sicheren Seite, wenn der Baum gefällt wird. Das Prinzip lässt sich natürlich hier, zehn Meter unter der Wurzel am Steilhang, nicht ausprobieren.
Nach dem Aufbruch rolle ich nur hundert Meter nach meinem Platz am Ortsschild Jasund vorbei. etwa fünf Kilometer weit mit den üblichen Aufs und Abs bis nach Høllen. Falle im örtlichen Supermarkt ein, kaufe Bananen, Butter, Pi, Pa, Po. Unvorstellbar: gerade mal eine Obermoscheldistanz entfernt bin ich an der Küste.
Zwei Campingplätze vor Ort, ein weiterer neun Kilometer weiter südlich auf der Halbinsel Lindsenes, dem südlichsten Punkt Norwegens. Ich bin übernächtigt. Matt. Vor meinen Augen flimmert es. Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Verschwitzt. Bärtig. Wie viele Tage habe ich mich nicht rasiert? Wann zum letzten Mal gewaschen? Im Bach bei Helleren, erinnere ich mich, habe ich mich gewaschen. Ohne Seife.
Die Tour ist gescheitert, plappere ich arglos am Telefon und versetze der geliebten Soso damit einen ziemlichen Dämpfer. Aber die Worte sind gefallen. Vor meinem inneren Auge das gräßliche Ressourcenproblem, das mich schon von Anbeginn der Reise beschäftigt: wenn du Wasser von einer Flasche in eine andere füllst, so geht das mit einer bestimmten Geschwindigkeit, aber du kannst sie nicht ins endlose steigern. Ein Flaschenhals ist nunmal eine Öffnung von begrenzter Größe. Genauso verhält es sich mit dem Fahrraddynamo. Er kann nur soundsoviel Strom pro Minute in den Akku pumpen. Mehr lässt die komplizierte Technik aus Widerständen und Gleichrichtern einfach nicht zu. Du kannst deinen Brennspiritus entweder zum Zeltheizen benutzen, oder zum Kochen. Ein Liter steht dir zur Verfügung auf deinem vollbepackten Rad. Wenn er alle ist, musst Du neuen kaufen.
Und du musst, wenn du das Meer umrunden willst und Anfang Juli zurück sein willst, eine gewisse Strecke pro Tag zurücklegen. Vor der Reise habe ich 68 km ausgerechnet. Ohne Pausentage.
Schon in Schottland war mir klar, dass ich bei meinem Tempo nie und nimmer die geplante Strecke bis zum 3. Juli in Boulogne-sur-Mer zurücklegen könnte.
Von Høllen radele ich, einem Instinkt folgend, Richtung Lindsenes. Obwohl das ein Umweg ist. Eine Sackgasse. Der Nordseeradweg führt am norwegischen Südkap vorbei. Mein Gefühl will mich hetzen, weiter, weiter, weiter, aber mein Kopf sagt mir, jetzt erst recht. Ich bin nicht unterwegs, um voran zu kommen, ich bin unterwegs, um an dem live geschriebenen Buch zu arbeiten. Das Schreiben und das Fotografieren sollte im Vordergund stehen. Das ist es nämlich, was bleibt und nicht etwa, ohlala, ich habe den und den Weg so und so schnell zurückgelegt. Der Oxforder Radler fällt mir ein, der mir kurz vor John o‘ Groats begegnete. Er ist noch an dem selben Tag, an dem er mit mir dort ankam wieder zurückgeradelt, weil seine Mission lautete, radele von daheim nach John o’Groats und von dort runter nach Landsend.
Verstehe einer die seltsamen Kopfgebilde, die wir Langstreckenradspinner uns setzen. Mir wird klar, wie unverständlich mein Gehadere vielleicht klingen mag. Ob ich es mir erlauben darf, von der Nordseeroute abzuweichen, Dänemark etwa abzukürzen, oder gleich in Kristianssand die Fähre nach Dänemark zu besteigen. Nur so könnte ich die Runde halbwegs zu Ende bringen.
Ich muss entschleunigen. In der Entschleunigung noch eins drauf legen und noch langsamer werden. Zum Stillstand kommen?
Dina hat per Kommentar Lindesnes als sehenswert bezeichnet. Auf den zehn Kilometern bis zum Leuchtturm flimmern allmögliche Gedanken. Ich komme zu keiner Klarheit mehr. Auch das Augenflimmern bleibt bestehen. Ein Ausdruck meiner Müdigkeit. Bergauf, bergab, aber nicht zu hart rolle ich in die „falsche“ Richtung.
Die Geschichte mit dem Dreidecker aus Plastik kommt mir in den Sinn. Wie unvorstellbar weit mir das Dorf Obermoschel vorkam. Wie stolz ich war, es geschafft zu haben. und wie enttäuschend klein der Flieger war, den ich mir für 4,95 oder noch weniger DM kaufen konnte. Diese winzigen, stockdunklen Spielzeugläden in den kleinen Dörfchen.
Nun bin ich über 3600 Kilometer geradelt. Heute mit dem ersten Streckenfoto in Høllen, löst diese Kunststraße Ums Meer somit den Kapschnitt von 1995 als längste Kunststraße der Welt ab. In einer Mail von zu Hause, erfahre ich, dass man glaubt, ich befände mich auf einem langen Urlaub. Das kränkt mich. Achtzehn Jahre Kunst. Kein bisschen Anerkennung. Und doch hat es Spaß gemacht.
Nach Lindesnes ist es in meinem ausgepowerten, übermüdteten Zustand kein Zuckerschlecken. Kleine, fiese Hügel. Ich träume von einem Kiosk, von Pölser mit Senf, von einer Limo, von einem Fleckchen Sonne, an dem ich sitzen kann mit einer Steckdose daneben. Und dort einen gepfefferten Artikel schreiben, in dem ich all mein Leid und all meine Konflikte ausbreite, sortiere, neu ordne, ihnen Sinn und Gefüge gebe, dieser ganzen merkwürdigen Reise einen neuen Sinn gebe.
Endlich Klarheit finden, wie es weiter geht – während ich so in die „falsche“ Richtung kurbele, stelle ich mir vor, ich habe mich nur verirrt, und ich glaube so lange, dass ich das Richtige tue, bis ich merke, dass ich falsch gefahren bin. Somit kann man ja einen Irrweg zur Hälfte als positiv buchen, denke ich, vorbei an zwei winzigen weißen Holzhäusern, an denen Metallbuchstaben berichten, dass sich darin einmal eine Schule befunden habe. Jeder kleine Weiler hatte offenbar bis in die 60er Jahre seine eigene Schule.
Panik überkommt mich, als ich nach zehn Kilometern noch immer kein Ortsschild Lindesnes sehe. Vielleicht habe ich mich verirrt? Bin auf die falsche Halbinsel geraten, nix mit Norwegens viel gerühmtem Südpunkt. Ein Bilck ins GPS zeigt, dass ich richtig bin. Richtig falsch ab vom Weg.
Meine Gedanken sind mittlerweile so verquirlt, dass ich kaum noch Mut habe, so ich denn meinen Platz an der südlichsten Steckdose Norwegens finde, diesen Artikel zu schreiben. Wenn schon ich, Euer Schreiber, kein Land mehr sieht, wie geht es dann Euch, meinen LeserInnen, damit?
Da ist der Leuchtturm. Besucherzentrum Eins geschlossen. Parkplatz. Paar Wohnmobile. Felsen Felsen, Felsen und ein bisschen Grün dazwischen. Schranke. Eintrittskassenhäuschen, Museum und Besucherzentrum zwei sind architektonisch sehr harmonisch in die Felsen einbetoniert. Glasfronten. Im Souvenirsshop gibt es spezielle Südkap-Briefmarken.
Hach, in Kartenschreiblaune müsste man jetzt sein. Schon will ich umkehren, aus Trotz, weil ich es nicht einsehe, 3612 Kilometer weit geschuftet zu haben, nur um an einem von Menschen für Menschen gemachten Extrempunkt auch noch Eintritt für die nächsten Meter zu zahlen, da klebt mir die Kassiererin einen Aufkleber auf die Radlerjacke. Freier Eintritt für Weitgereiste. Und ich möge mich bei dem Mann, der da unten an dem Stahlhäuschen mit der Flex schuftet, melden. Der könne einen Artikel über mich auf die Lindesnes-Homepage stellen. Ich müsse nur auf ein kleines Interview zu ihm ins Leuchtturmhäuschen kommen.
Hum.
Nun habe ich meine südlichste Steckdose Norwegens doch noch gefunden. Lade den Zwischenakku, tippe diese Zeilen, an einem Tisch sitzend, in der Cafeteria. Ruhe mich aus, werde die Ausstellung besichtigen. Später zum Leuchtturm.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)