Next Exit: The Royals

Drei Ruhetage. Fällt mir überhaupt nicht schwer, obschon mich eine gewisse Wehmut überkommt, als wir mit Klausbernds Volvo mit 130 Sachen über die Küstenstraße nach Wells jagen. Zwei schwer bepackte Radler kriechen uns entgegen – hallo Kollegen – ich stelle mir vor, ihnen per Rad begegnet zu sein. In der Regel stoppen wir „Europenner“, wenn wir einander begegnen, und halten ein Schwätzchen um das Woher und Wohin. Dabei werden immer die Spuren deutlich und wie sie, schon wenige Kilometer, nachdem man sie gelegt hat, wieder verblassen in den Köpfen. Die Welt des Langstreckenradelns ist weit. Unsere hohe Konzentration auf das Gegenwärtige ist unsere Ersatzheimat. Ein „Two birds at swim – vorhin zwei Vögel beim Schwimmen“ oder ein „der letzte Campingplatz war soundso teuer und ist soundso weit entfernt“ ist leicht zu berichten. Aber was war gestern? Vorgestern? Wo war ich vor einer Woche? Unscharf verschwindet unsere Spur im Meer der Zeit. Manchmal habe ich den Eindruck, man hat nur eine Chance auf Wahres und Echtes, wenn man genau den Moment lebt. Das pure, nackte Jetzt, in dem sich zwei Langstreckenradler begegnen, zwei Liebende, oder ein Abend unter Freunden. Im Jetzt ist man groß und echt, blickt man aber auf vergangenes Jetzt zurück, schleicht sich automatisch Unschärfe ein. Versucht man sich die Zukunft zurecht zu denken, ist es eigentlich nur Spekulation.

Wir werden nach Wells fahren, dort parken, durch die Stadt spazieren. Es wird ungefähr zwanzig Minuten dauern bis wir dort sind. So jagen wir durch die Hollow Way Road, die „tiefer“ liegende Hauptstraße. Die Küstenstraße gibt sich an vielerlei Stellen als Hohlweg. Auf dem Beifahrersitz kommt die Böschung oft beängstigend nah, liegt auf Augenhöhe. Was, wenn wir nicht in Wells ankommen? Schon die winzige Distanz von 20 Minuten bis zur gedachten Zukunft, bietet so viele Alternativmöglichkeiten, dass es geradezu absurd erscheint, sich vorzustellen, in Wells auszusteigen, durch die Gassen zu streifen, ein Café zu finden, einen Hafenspaziergang …

Und wenn ich nun darüber schreibe, ist sowieso alles Vergangenheit.

Abends am Mittwoch lädt uns Hanne in den Red Lion ein, ein Dining Restaurant in Stiffkey mit hervorragender Küche. Es hat eine urige Pub-Atmosphäre, ähnlich wie das White Horse in Sibdon, in dem ich vor fünf Tagen aß. Niedrige Decke, Menütafel fürs Tagesmenü handgekritzelt mit Kreide, ein Holzofen lodert und ein echter offener Kamin. Uralte Eichenfässer dienen als Tische im Raum. Außen rum drei vier Esstische. Ruhig, gesittet, rauchlos geht es zu. An den Fässern redet man schwedisch, erkennt Klausbernd. Ein Typ, der aussieht wie George Clooney, erklärt, dass sie beim Windpark arbeiten, dass sie auf dem großen Pot leben, draußen vor der Küste von Wells (siehe im Artikel Der gefiederte Seemannsknoten …). Ich fühle mich auf die Brücke der Voyager versetzt, Clooney als Commander in schicker Uniform. Als die Schweden das Restaurant verlassen, glänzt dieser Clooney aber nicht gerade in Eleganz. Ich stelle fest, dass es gar nicht so einfach ist, sich elegant zu bewegen, sei es nur, seine Jacke anzuziehen.

Die Tage vergehen. Im Schutz des Cottage Rhua Sila kommt mir die Reisewelt garstig vor. Wind, Hagelschauer, nicht gerade erfreuliche Tag- und Nachttemperaturen. Kurzum: nun, da ich hier sitze, an diesem Freitag, dem 24. Tag meiner Reise, kann ich mir kaum vorstellen, schon in einer Stunde wieder zu radeln. Vor mir liegen geschätzte 2500 km unformatierte Welt. Keine noch so winzige Anlaufstation (Klausbernd, Hanne und das Cottage Rhua Sila waren zwar auch unbekannt, aber durch unseren zunächst virtuellen Kontakt, hat sich schon von Beginn der Reise an eine Art Vertrautheit gebildet).

Danke, Ihr beiden Lieben, für die schöne Zeit und für die tolle Gastfreundschaft. Ich bin froh, dass wir uns kennen lernen durften.

Paartausend Kilometer ohne Rettungsanker. Ich hyperventiliere innerlich. Ein Gefühl, so aufregend, wie vor dem ersten Reisetag.

Ich darf nicht so weit denken. Ich muss mir die Reise in kleine, überschaubare Stücke zerdenken. Sandringham ist mein heutiges Ziel. Dort wohnen die Royals. Vielleicht 50 km zu radeln. Mal schaun, wie der Wind steht.

Tag 24 – die Strecke

Prophylaktisch, weil ich nachher weg bin, poste ich schon mal den mutmasslichen Tagesstrecke-Link. Ich wünsche unserm Europenner eine gute Tagesetappe mit vollgetankten Akkus und Hannes Care-Paket im Gepäck.

>>> Cley next the Sea – Sandringham: zur Karte bitte hier klicken!

Private Brain vs. Common Brain

„Sandringham, genau. Das ist ein guter Ort“, sage ich. Hanne und Klausbernd schwärmen von der Park ähnlichen Gegend nordöstlich von King’s Lynn, kaum 60 km zu radeln. Dort habe die Queen einen Landsitz, der Campingplatz sei ein Traum, man könne ausgedehnte Spaziergänge, Stille, Wohlfühl usw. Aber bloß nicht wild campen dort, warnt mich Hanne. Sie verweist auf einen Blogeintrag vom Team Frischluft (der ursprüngliche Link funktioniert nicht mehr, hier ein Link ins Reiseblog), das die Nordseerunde 2011 in umgekehrter Richtung gemacht hat. Da um Sandringham vermutlich alles der Queen gehört, befindet man sich, sobald man die Straße verlässt auf Militärarreal. Ich habe auf Golfplätzen gezeltet, auf Sportplätzen, vor Kirchen, auf Bauschuttdeponien und neben Silagelagern französischer Landwirte. Nie auf einem Militärgelände.

Der Start in Rhu Sila fällt schwer, das hatte ich im vorigen Artikel schon erwähnt. Die wenigen Tage haben genügt, mein Gewohnheitskonstrukt, nach dem meine Reisetage ablaufen, vollständig umzustricken. Die philosophisch angehauchten Abende, das Sitzen an einem Tisch, die stetige Verfügbarkeit von Dusche, Toilette, ja, sogar Sauna, Geschirrspülmaschine, all das, was das „normale“ Leben in der westlich zivilisierten Welt ausmacht.

Unterwegs rekapituliere ich meine beiden Gastgeber: Hanne ist eine der wenigen Fotografinnen, die ohne sich groß von der Außenwelt ablenken zu lassen, fotografieren kann. Als sie mich in Cley bittet, stell Dich doch mal dort und dort hin, stehen wir direkt neben einer Baustelle. Vier britische Maurer schauen vom Gerüst und wundern sich, rufen etwas. Unbeeinflusst drückt sie den Auslöser, gibt Anweisungen. Ich, das Model, lasse mich von ihrer Ruhe mitziehen. zwischen Model und Fotograf muss es immer eine enge, unsichtbare, gefühlsmäßige Verbindung geben, sonst wird das Shooting nix. Zwanglos.

Über Blakeney und Stiffkey, wo wir im Red Lion gegessen hatten, radele ich nach Wells. Umtanzt von Regenwolken. Die A149 ist relativ ruhig, jedoch mit Vorsicht zu genießen, da auf den geraden Stücken mancheiner mit 130 Sachen dahinfliegt. :-) Während ich mit 10 Meilen die Stunde Richtung Westen kurbele, schreibt Klausbernd an einem Artikel über meinen Besuch, soll ich abends erfahren, in dem es um die unvoreingenommene Sicht geht, mit der ich das Land erforsche. Nach dem Trial (oder heißt es Try) and Error Verfahren stelle ich fest und gleiche mit Vorhandenem, Gehörtem, schon Erlebtem ab, revidiere, wiedererlebe, revidiere erneut, meißele aus dem Nichts meines Innern alleine an Hand von Erlebnissen ein unperfektes, aber umso lebendigeres England-Bild.

Das Phänomen Klausbernd! Zu sagen, er wäre ein wandelndes Lexikon, würde der Sache nicht gerecht. Die ledergebundene Encyclopedia Birtannica, die auf einem Regal über der Tür des Bücherladens in Cley steht, würde der Sache schon eher gerecht. Pack noch sämtliche Dudenausgaben dazu und die Gesamtwerke namhafter Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Weltliteratur und du wirst dem Fall Klausbernd schon eher verstehen. Erstaunlicherweise ist die Konversation trotz allem zwanglos – eine sehr feinfühlige Art, zu wissen, aber nicht überheblich zu sein.

Während ich radele, arbeite ich meine Gedanken ab. Vielleicht eine moderne Form des Träumens, des Tagträumens. Oder meine spezielle Form. Wie auch immer. Mir wird plötzlich klar, wie sehr sich die Menschheit verändert, seit es Internet und Wikipedia gibt, Wissensdatenbanken. Gehöre ich schon zu der Fraktion Menschen, die ihr Wissen gnadenlos outsourcen, statt sich etwas zu merken, die sich sagen, achwas, das schlag ich doch besser bei Wikipedia nach? Nein. Ich bin noch in der Grauzone. Ich denke, um echtes, gespeichertes Wissen im eigenen Hirn kommt man nicht herum. Sonst wird man unecht, oberflächlich.

Wohlgemerkt: das sind Gedanken, die ich mir während des Radelns auf der A149 mache. Ich überhole ein älteres Radlerpaar, die alle 2 km stoppen, um an ihren Gepäckträgern etwas zu zurren, Regenhosen herauszukramen, wieder einzupacken. So auch ich. Die Wetterlage ist so inkonsistent, dass man weder mit, noch ohne Regenkleider gut fährt. Damokles-Wolken baumeln von Süden. Hach, Wissen früher und Wissen heute, Lernen früher und Lernen heute. Das externe Hirn, an dem wir alle gemeinsam schustern, namens Internet, wie wird es wohl in 100 Jahren aussehen? Wird es solche Menschen, wie vielleicht die beiden alten Radler, die ja auch noch eine klassische Schulbildung genossen haben, mit Gedichte lernen, mit den wichtigen geschichtlichen, geistig, philosophischen, politischen Strömungen usw. überhaupt noch geben? Oder sieht der Unterricht in der Schule der Zukunft so aus: Schreib nen Aufastz über den weltberühmten Nordseeumradler Irgendlink, der einst anno 2012 rund um das mittlerweile trocken gelegte Meer geradelt ist. Die Infos findest Du unter http://blablablub.de. Und wenn du den Aufsatz fertig hast, kannst du alles wieder vergessen, denn es ist ja in unserem „Common Brain“ gespeichert.

Ab Burnham Market bin ich wieder auf der Cycleroute Nr. 1, erstaunt über zweibrücker-kreuzbergeske Steigungen zu radeln. Langatmige 4% hoch und gegen Dersingham wieder bergab. Den einzig ernst zu nehmenden Hagelschauer überbrücke ich in einem Shop in Snettisham. Queens Land. Ab Dersingham radele ich in beautyful Kiefernwäldchen, Mischwäldchen. Entlang der Straße herrscht für 7,5 Meilen striktes Halteverbot, was ich mit der Wichtigkeit der Besitzenden in Zusammenhang bringe, denen das parkähnliche Gelände gehören mag. Zwar ist es nicht eingezäunt, aber nach dem, was ich bei Frischlufts gelesen habe, bin ich nicht erpicht darauf, dort wild zu zelten.

Sandringhams Campingplatz liegt mitten in diesem Wald, genau am Radweg. Beim Check In bei sehr freundlichen Ladies, stelle ich mich auf einen Nachtpreis von 27 Pfund ein, wie damals in, wo wars noch gleich? Drunten in Kent. Knapp 9 Pfund kostet der Spaß. Ich bin baff. Persönlich führt man mich zu meinem Platz, weißt mir eine eigene Toilette zu. Das Gelände im Kiefernwald scheint riesig. Überall Vögel, flanierende Fasane, fette Tauben. Aus allen Bäumen ruft es Gu’Guuh-Gu’Gu’Guuh. Und was is‘ das nochma‘ für’n Tier, das lebt auch auf’m einsamen Gehöft? Wiki, hilf!

St. Mary The Virgin

In West Walton. Den x-ten Regenschauer abwarten. Kalt. Vogelzwitscher. Ich könnte einen Zweibrücker Kreuzberg brauchen, zum Warmradeln. Aber die Fenlands sind flach, wie nichts, was ich bisher durchquert habe. Ein dem Meer abgerungenes Stück Land. Das Ijsselmeer Englands.

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