Sektempfang in Boulogne-sur-Mer

12 Uhr verlasse ich das Hotel des Gens de Mer mit frühstücksschwerem Bauch. Durchquere Boulogne planlos. Der Empfang im Hotel de Ville, im Rathaus, ist erst um eins und so treibe ich durch die Straßen, was mit dem schweren Fahrrad mühsam ist, da die Stadt hügelig ist. Ein Zweibrücker Kreuzberg passt da locker rein. In der Touristeninformation erfahre ich, dass es die Fähren, die von Boulogne nach England in der Karte eingezeichnet sind, schon seit Jahren nicht mehr gibt. Es gibt offenbar gar keine Fähren mehr, die Boulogne anlaufen. Ich müsse nach Calais, um über die „Manche“, den Ärmelkanal zu kommen. 40 Kilometer nördlich.

Die Altstadt und das Hotel de Ville liegen, wie sollte es anders sein, ganz oben auf dem Boulogne’schen Kreuzberg. So steht es in einer antiken Karte, die vor der Touristinfo aufgestellt ist und die ein malerisches Hafenstädtchen zeigt mit Schiffen, Kutschen und Schloss auf dem Berg. In der Altstadt vertreibe ich mir die Zeit bis 13 Uhr mit umherflaniern, laufe dabei einem kräftigen Jungen in die Arme, der mir auf wahlweise Deutsch, Englisch oder Französisch seine Geschichte auftischt, er komme von der Elfenbeinküste, sei in Paris geboren, habe in Cuxhaven und Zweibrücken gewohnt, sei Fußballspieler, brauche Geld, um sich etwas zu Essen kaufen zu können. Aus Ermangelung an Euromünzen gebe ich ihm einen Zweier, schließlich wurde ich ja auch reich beschenkt mit dem Hotelzimmer. Aber das ist ihm nicht genug, ob es nicht noch etwas mehr sein könne, damit er sich ein Sandwich kaufen kann, lächelt er mich an. Dabei blitzt aus dem Jackenärmel eine Silberkette und an den Fingern ist er auch nicht gerade nackt. Ich fühle mich geneppt. Ein anderer Typ mit Baseballkappe flaniert vorbei und macht ihm, meinem Fußballspieler, mit zwei Fingern eine verstohlene Handbewegung. Ich habe mein Geld dem Falschen gegeben, ärgere mich, aber denke schließlich, besser einmal etwas dem Falschen geben, als dem Richtigen nichts zu geben.

Vor dem Rathaus erwartet man mich schon und bittet mich, das vollbepackte Rad, das ich davor geparkt habe, hinein zu stellen. Das sei sicherer, wenn ich nicht zu Fuß weiter möchte. Nun weiß ich endgültig, wo der Hammer hängt. Die Altstadt ist voller Touristen aller Nationen, viele Engländer, Belgier und wo Touristen sind, da treibt sich auch allerlei mieses Volk herum.

Herr Quehen vom Hauptamt empfängt mich und führt mich durch das prächtige Rathaus, erklärt mir die vielen großformatigen Gemälde, Kunst aus vielen Jahrhunderten bis zur Gegenwart, der uralte Glockenturm, in dem Relikte aus dem 100jährigen Krieg (na ja, das müsste ich noch recherchieren. Ich hab die in der Schule gelernte Geschichte nicht mehr so auf dem Schirm. Krieg eben zwischen England und Frankreich) liegen, Kanonenkugeln und von der Turmspitze habe man einen prächtigen Rundblick über die Stadt. Auch ein Modell des Schlosses ist zu sehen. Es beherbergt heute das Museum. Über die Verwaltungsstruktur der 44tausend Einwohnerstadt lerne ich etwas und wie der Rat funktioniert. Zweibrücken nicht unähnlich. Das Rathaus ist äußerst prunkvoll und wartet mit vielen antiken Relikten auf. Wir enden im Zweibrücken-Saal, in dem ich so manches bekanntes Motiv aus meiner Heimatstadt an den Wänden finde. Später treffen wir Frau Hingriz, die Partnerschaftsbeauftragte und es gibt einen waschechten Sektempfang mit Fototermin.

Herr Quehen empfiehlt mir, die D 940 zu nehmen, um nach Calais zu radeln, die Küsternstraße. Sie sei wunderschön und da keine Saison ist auch nicht so stark befahren, wie das die rote Kennzeichnung im Michelin-Plan annehmen lässt. Er soll recht behalten.

Als ich das Rathaus verlasse, kommt mein Freund, der Pariser von der Elfenbeinküste quietschfidel Smartphone telefonierend und gut gesättigt aus einem Restaurant.
Auf den dreißig Kilometern Richtung Norden bin ich um jeden Meter bergauf froh, um mich gegen den kalten Nordwind aufzuwärmen. Nun auf dem Campingplatz von Hervelinghen, kaum 10 km entfernt vom Kanaltunnel.

Mehr Meer

Kurz nach dem Aufbruch vom Camping La Vallée in Hervelingen hinter dem ersten von drei zu erwartenden Zweibrücker Kreuzbergen, trifft mich der Meerblick mit voller „Wucht“. Ich bin ergriffen und ackere hinauf zu Cap Blanc Nez, einem Aussichtspunkt, von wo man die weißen Doverklippen und die Fähren über den Kanal mit bloßem Auge sieht. Wir haben mehr Schiffsverkehr, grönemeiert es in meinen Ohren. Ein Ornithologe oder Boatwatcher lässt mich durch sein Fernglas schauen und seine Tochter macht ein Bild von mir: Künstler an Fahrrad mit Klippe.

Die noch tristen Felder sind bevölkert mit Möwen. Zig Wohnmobile unterwegs. Alle Nationen. In Sangatte kaufe ich Essen, sitze nun vor der Mairie und hacke diese Zeilen, während ein Trupp Bauarbeiter seine Arbeit wieder aufnimmt. Den Karfreitag gibt es nämlich nicht in Frankreich, dafür ist der morgige Samstag ein Feiertag, hat mir Herr Quehen im Hôtel de Ville in Boulogne gestern erklärt.

Bilder kommen in besserer Auflösung per Homebase irgendwann. Eins hänge ich schon mal an.

20120406-131258.jpg

Nachts um 4:11 oder Selbst-Borumatisierung

Ich frage mich, woran mein Freund, der Pariser Elfenbeinküster, so gezielt erkannt hat, was für ein Typ ich bin. Im Nachhinein glaube ich, er hat geahnt, dass ich aus Boulognes Partnerstadt Zweibrücken bin. Dass ich Deutscher bin. Schon beim Sprachcheck, den er durchgeführt hat: „Excusez moi, English? Deutsch? Hollandais?“, hat er das unmerkliche Weiten meiner Pupille gesehen, als er Deutsch sagte. Die schwarze, relativ saubere Radlerkluft, mein vom Fahrtwind gerötetes Gesicht und die verquollenen Augen tun ihr Übriges. Der Typ ist ein deutscher Radler, der bis hierher fast 700 km geradelt ist und mit Taschen voller Geld rund um die Nordsee reist. Den krall ich mir.

Andreas Borutta kommt mir in den Sinn, der auf seiner Webseite (siehe Blogroll Diebstahlschutz) erklärt, wie man ein Fahrrad äußerst wirkungsvoll gegen Diebstahl schützt, nämlich, indem man es systematisch borumatisiert. Man braucht dazu Teer, Federn, eine Feile, und das Prinzip ist denkbar einfach: kein Teil am Fahrrad darf nach der Prozedur auf dem Flohmarkt mehr als 5 € wert sein. Eine Tretkurbel, in die mit Vergoldung der Firmenname eingeprägt ist, muss so zerstört werden, dass sie zwar ihren Dienst noch erfüllt, aber aussieht wie Müll. Man könnte mit dieser Methode einen Goldbarren wirkungsvoll schützen, indem man in etwa in Kuhmist taucht und ihn statt im Safe im Haus, in den Vorgarten legt. Jeder Einbrecher wird den Safe knacken, anstatt den Kuhfladen mitzunehmen.

Und sich selbst könnte man in den Fußgängerzonen dieser Erde natürlich auch dergestalt borumatisieren, dass man aussieht wie ein Bettler und somit nicht wahrgenommen wird von Trickbetrügern und Taschendieben. Das Problem ist: hätte ich in der borumatisierten Version auch im Rathaus vorsprechen können? :-)

Den überaus unterhaltsamen Artikel von AB, wie man sein Rad gegen Diebstahl schützt, findet Ihr hier. Besonders gut find ich die Idee mit den Hühnerfedern.

(entfipptehlert, mit Links bestückt und gepostet von sofasophia)

Nachts um 4:33 oder Gewohnheit ist alles – alles ist Gewohnheit

Nach nunmehr 10 Tagen unterwegs hat sich eine Art Reisealltag eingestellt. Der Körper ist wie umprogrammiert. Es macht mir nichts aus, sechzig, siebzig und mehr Kilometer zu radeln. Auch die Kälte macht mir nichts aus. Wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr wir in unseren Gewohnheitsnetzen hängen und wie engmaschig diese Netze sind. Ob es sich nun um die Gewöhnung an Temperaturbereiche handelt oder um unser Konsumverhalten. Alles ist Gewohnheit. Und Gewohnheit ist alles, damit wir uns in unserem Leben wohl fühlen können. Somit ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, dass er mirnichts-dirnichts aus seinem Gewohnheitsnetz gerissen wird und sich von heut auf morgen umgewöhnen muss. Ein Temperatursturz zum Beispiel. Das Bild vom Frosch im Topf, den man auf den Herd stellt, kommt mir in den Sinn. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt, oder ob es nur eines jener Internetmärchen ist. Wer probiert so etwas schon aus: Wenn du den Frosch im kalten Wasser langsam erwärmst, bleibt er sitzen und stirbt, wenn es zu heiß wird. Wirfst du ihn in warmes Wasser, springt er wieder raus. Analog muss der Europenner, moi-même, sich behutsam an den Reisealltag und das Leben da draußen im Zelt bei jedem Wetter gewöhnen.

Aber nicht nur Temperaturen und äußere Lebensumstände betreffen unser Gewohnheitsnetz. Es durchzieht wie ein Gewebe unsere Existenz. Hörgewohnheiten sorgen dafür, dass, wenn man lange genug mit „Nossa! I’ve got a Hääängover oho“ und Konsorten aus den Radios dieser Welt zugeballert wird, bis einem diese Art Musik schließlich auch gefällt. Gewohnheiten lassen uns im Supermarkt zu bestimmten Produkten greifen, mehr noch, sie bringen uns sogar dahin, dass wir mit dem Auto raus fahren zum Supermarkt an den Stadtrand, anstatt in dem Tante Emma-Laden direkt neben der Haustür einzukaufen.

Jeden Herbst und jeden Frühling, kriegt man die Macht der Gewohnheit zu spüren: 10 Grad Celsius fühlen sich im Herbst kalt an, im Frühling jedoch warm, obwohl es sich dabei um die gleiche Temperatur handelt.

Wer ein Buch online am offenen Herzen des gelebten Lebens schreiben möchte, muss sich wohl nachts um 4:33 einen neuen Knoten im Gewohnheitsnetz machen. :-)

(entfipptehlert und gepostet von sofasophia)

Weniger Meer

Unterwegs auf dem Weg nach Calais. Kilometer 675 zwischen Hervelinghen und Escalles. Die Szene erinnert mich sehr an den Jakobsweg kurz vor Los Arcos.