Schnell wie eine Sanduhr, mit goldenen Körnern

So muss sich ein Hochofen kurz vor dem Abstich fühlen. Voll brodelnder Lava. Wann schmilzt Eisen? 1200? 1400 Grad? Weißkochende Suppe unter Schlacke. Wie außerirdisch in Asbestanzügen ächzt der Hochöfner der feinen Künste. Funken sprühen.

Die letzten Tage, Wochen, Monate waren so intensiv, so voller Arbeit, Querelen, Kopfzerbrechen, dass es sich im Vergleich dazu richtig leicht anfühlt, wie sich nun die einzelnen Puzzlestücke des gelebten Lebens wieder zusammenfügen. Erledigungen zwingen mich runter in die Stadt, wo ich allmöglichen Leuten begegne, die Künstlerinnen H. und B. und ein lange nicht gesehener Ex-Komilitone flanieren in der Fußgängerzone. Ich erinnere mich an die Namen und atme insgeheim auf. Mein Hirn scheint wieder zu funktionieren. Am Busbahnhof schnappe ich das Gespräch zweier Männer auf zum Thema Weltuntergang. Fetzenweise: „Sonnensturm“, sagt einer, „in paar Minuten hier bei uns … Mayakalender … Weltuntergang … schneller als das Licht.“ Hä? Und als hätte der Endzeitler mein gedachtes Hä gehört, relativiert er: „Oder genauso schnell wie das Licht.“ Wir wollen doch hier die Relativitätstheorie nicht ad Absurdum führen. Vor einer Apotheke sitzt ein Saxophonist mit offenem Kasten voller 20 Cent Münzen und spielt so herzerweichend schlecht, dass ich nicht umhin komme, ihm Geld zu geben. Saxophon ist schwer. Die Rhythmusmaschine tockt grotesk im Hintergrund. Dankesblick und Saxman-Nicken, als die Münze fällt. „Kollege“, denke ich, und verschwinde hinter der Ecke. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen bei dem Gedanken, dass ich Europenner, ausgestattet mit den Insignien der Konsumgesellschaft doch auch nur ein paar Fehltritte von dem Leben auf der Straße entfernt bin und versuche mir zum Spaß auszumalen, wie einer wie ich, der keine Ahnung hat von Musik, nicht alt genug fürs religiöse Mitleidsbetteln auf Knien, zu Stolz für ein „Nehme jede Arbeit an Schild“, sich seinen Lebensunterhalt auf der Straße verdienen würde. Kann ja heutzutage jedem passieren auf der Straße zu landen. Nur ein paar Fehltritte zu viel. Werde ich iPhone-tippend in der Fußgängerzone hocken und an den „Protokollen eines existenziell gescheiterten Kunstfuzzies“ schreiben, live bloggend? Und die Kundschaft kann mit ihren iPhones, noch während sie vor mir steht, den Artikel abrufen, den ich gerade über das Geschehen da draußen in der Fußgängerzone mit all den hart arbeitenden, scheinbar so glücklichen Menschen schreibe? Wie sieht das eigentlich aus, wenn man bedürftig ist, bettelnd am Straßenrand gescheitert, Putzer der schmutzigsten Klinken des Universums? Ich meine das Driften geschäftiger Menschen in einer westlich zivilisierten Fußgängerzone aus dem Blickwinkel zum Beispiel von Saxman? Ich weiß es nicht. Ich möchte es mir nicht einmal vorstellen.

Mit dem Rad bin ich unterwegs, hatte ich das erwähnt? Durchquere die Stadt und radele hinüber in die Schwesterstadt (siehe Blogbild im Eintrag zuvor). Ich muss üben, trainieren für die Nordseeumrundung und mit dem Rad verlasse ich sehr gerne das einsame Gehöft, fühle mich per Rad in Innenstädten sowieso wohler, als mit einem belastend großen Auto.

Zwischen den Schwesterstädten, am neu gebauten Bahnhof Einöd ächzt eine Frau mit omakrummen Beinen nur dreißig Meter entfernt, „nur noch dreißig Jahre entfernt“, rechne ich, „dann bist auch du so weit, Knochenschwund, Stützstrümpfe, Schmerzen im ganzen Körper, froh um jeden Winter, den du überleben wirst, froh um jeden Meter, den du in der Frühlingsluft an deinem Rollator laufen darfst“. Die ehrenwerte Frau P. kommt mir in den Sinn, wie sie mich kürzlich angesehen hat, sehr wohlwollend, und mir viel Glück gewünscht hat für das Reiseprojekt: „Machen Sie das, so lange sie noch können,“ hat sie gesagt und ich habe genickt. Von allen Stellen kriege ich das zu hören: Lebe, so lange es noch möglich ist. Die meisten Menschen merken viel zu spät, dass es für etwas zu spät ist. Wo hätte ich gedacht, dass sich die Angst vor dem „Nicht mehr so können, wie früher“, schon so zeitig einstellt, gerade mal Mitte Vierzig. Aber es ist so. Hör gut zu, junger Mensch. Beeile dich. Tu, was du tun willst sofort. Warte nicht. Verschiebe nichts. Spätestens ab der fünften Lebensdekade rinnt die Zeit.

Am Abend erzählt mein Vater von einer Sanduhr mit goldenen Körnern, die man in Zeitlupe rieseln sehen kann. Zu jung, um genau hinzuhören, nehme ich nur wahr, wie er sagt, dass er mit Glück 90 werden könnte, und dass die zehn fünfzehn Jahre, die ihm vielleicht noch bleiben einen so hohen Wert haben, dass er sich genau überlegt, wie und mit wem er seine Zeit verbringt, wem er seine Aufmerksamkeit widmet. Der Abend glänzt. Rote Sonne sinkt. Zwei helle Sterne an einer Stelle, wo keine sein sollten. Ich muss an die Männer mit dem Sonnensturm denken. Schneller, als das Licht.

Textteil – Urban Artwalk Zweibrücken

SoSo und ich spielen wieder das Spiel, abwechselnd an Kreuzungen die Richtung anzusagen. „Rechts“ sagt sie, als wir den Birnbaum vorm einsamen Gehöft passieren, was uns unweigerlich in die Amerikastraße, runter in die Stadt manövriert. „Gut so“, anworte ich mit einem Blick auf das schrill blinkende Tankwarnlicht. Weit kämen wir sowieso nicht und es liegt auch nichts besonders an, außer sich vom PC wegzuzwingen, das Hirn von Gedanken zu entleeren, endlich einmal die Kunstprojekte und all die Imponderabilien der freischaffenden Tätigkeit wieder loszuwerden. Entsprechend Ziellos schlendern wir durch die samstagsstille Stadt. Nur noch der örtliche Büchergigant hat geöffnet und SoSo erklärt mir, wieso immer am Jahresbeginn die Auslagen mit den Mängelexemplaren so übervoll sind. Als Buchhändlerin weiß sie, dass nach der Inventur alles, was länger liegt, als ein Jahr, raus muss. So billig, dass die Leute einfach kaufen wollen. Eine Tasche Bücher gekauft. Rüber ins auch-aufe (*) Reformhaus, wo die Verkäuferin unsere kleingeldschweren Geldbeutel fleddert und die Münzen in Scheine wechselt. Guter Deal. Paar Jugendliche ziehen, Kumbajah my Lord singend, durch die Fußgängerzone. Mit unseren Smartphones scannen wir die Stadt und bei dem sonnigen Wetter entwickelt sich der ziellose Weg zu einem wahren Abenteuer, zu einem Bad im unbekannten Detail dessen, was man alltäglich vor Augen hat. Jemand hat einen Blumenkübel so groß wie ein Kleinwagen zerdeppert und es hängt ein Zettel daran, „Zeuge gesucht“. Spuckende Pubertierende am Busbahnhof. Jo Nesbø kommt mir in den Sinn und wie er in seiner Romanserie um Kommisar Harry Hole ein so abstoßendes Bild von Oslo zeichnet, dass selbst ich, der die Stadt kennt und liebt, nie wieder dort hin möchte. „Du bist auch nicht anders, als der Nesbø. Die spuckenden Pubertierenden der Stadt sind der schwersüchtige Junkie des kleinen Mannes. Du solltest so nicht über deine Heimatstadt schreiben. Auch die Blumentopf-Randale solltest du verschweigen. Mach doch etwas mit Pferden und Blumen.“ Die Stadt ist kalt. Wir konzentrieren uns auf unsere Foto-Mission. Das Morbide ist eigentlich auch viel interessanter, als das Schöngeschniegelte. In einem Hinterhof geraten wir in einen Flohmarkt der Arbeitslosenhilfe. Schwerbeladene Fahrräder davor, Tüten am Lenker. SoSo sagt: „Da gehn wir jetzt rein“ – „Großer Fehler. Du ziehst doch bald um, du wirst doch nicht …“ – „Nur für Fotos.“ Und schon ist sie in der kleinen Feuerwehrhalle verschwunden. Riesige Schränke, Elektroherde, Geschirr, Klamotten, Nippes In einem Nebenraum gibt es so eine Art Essensausgabe. Menschen mit Plastiktüten. Sauberen, aber abgewetzten Klamotten. Drei Damen, würdig arm, unterhalten sich über horrende Mieten, Nebenkosten, schlimme Summen schwirren durch die Luft, wie Messer, so dass man sich automatisch duckt, um der Gefahr zu entrinnen. Ein Mittfünfziger gratuliert einer Frau zur neuen Arbeit. „Richtig echt mit Sozialversicherung und allem!“, schwärmt sie, scheint glücklich. Ich werde das Gefühl nicht los, an einer steilen Klippe zu stehen, ich und mein sündhaft teures allround Computer Fotogerät. Von Aufwinden zerzaust, flattert die Designjeans an meinen Beinen und mir wird mit einem Mal bewusst, wie nah ich am gesellschaftlichen Abgrund stehe, ich komischer Möchtegern Mittelschichtler mit dem geregelten Einkommen, dem Auto, dem Haus, den wöchentlich möglichen Kinobesuchen, den hypothetischen Restaurantbesuchen, den monatlichen Zahlungseingängen. Satt inmitten von Europa. Als wir später den Bleicherkanal passieren und auf dem braunen Wasser ein seltsamer Schaum träge durch den Park treibt, denke ich, der feine fluffige Schaum wird nur getragen, weil das trübe Wasser es ihm ermöglicht. Was für ein abgeschmacktes Weltbild: schwer wie Wasser fließen hart arbeitende, um ihre Existenz stets bangende Wesen im ruhigen Fluss des Lebens. Geboren, dahintreiben und vergehen unterm flüchtigen Blick ratloser Passanten, die das alles nicht verstehen und allenfalls denken, was soll der Schaum, der Abschaum da oben, was trägt er zur Schönheit des Flusses bei?

„Wir sind noch nichtmal reich“, sag ich zur SoSo, hysterisch lachend, „und trotzdem können wir uns zu denjenigen zählen, die ihre Existenz im fluffigen weißen Schaum auf den kühlen Kämmen seichter Wellen in einem Bach … ach, was red ich.“

Einen guten Lauf haben wir an diesem Samstag mit unseren sündhaft teuren Smartphones, die vermutlich unter sklaverei-ähnlichen Bedingungen irgendwo in Fernost hergestellt wurden.

(*) zu dem seltsamen Ausdruck „auch aufe“ siehe auch Monty Pythons Ritter der Kokosnus, die Szene mit dem „aben Bein“, also dem Bein, das ab ist.

Mein siebenmilliardster Blogeintrag – Sie fragte. Aber was?

Das Hirnproblem wird beängstigender. Gestern früh einige Fäden, die ich schreiberisch bearbeiten wollte. Natürlich dieser nächtliche Blogartikel-Flow, bei dem es darum ging, die Inversionswetterlage in meinem Kamin mit einem Echte Kerle Survival Trip in Südwestrumänien in Einklang zu bringen, daraus eine Alltagsglosse zu basteln.

Manchmal habe ich druckreife Sätze im Kopf, ganze Passagen, vor allem nachts oder frühmorgens. Wenn ich sie nicht sofort aufschreibe, vergesse ich sie. Mit „Sie fragte“ sollte im Laufe des gestrigen Tages eine kleine Passage zum Thema Jakobsweg beginnen. Es war ziemlich wichtig. Aber ich habe vergessen, was sie fragte und somit ist der Text futsch.

Nun der unangenehme Zustand des Hirnzermarterns. Das macht überhaupt keinen Sinn. Ich hatte gestern nichts Besseres zu tun, als mich aufs Rad zu setzen, runter in die Stadt, Lichtfänger – bei dem Licht kann man gar nichts falsch machen, erzählte ich den Nachbarn der Nachbarn, die ich zufällig traf. Wir redeten über Halloween, das Wetter und dass es gerne noch eine Weile so bleiben könnte. Beide Kameras im Gepäck. Anfänglich fotografierte ich noch brav mit der D300. Diszipliniert über Lichtwerte nachdenkend, Tiefenschärfe und den ganzen Quatsch. Aber schon bald kam nur noch das iPhone zum Einsatz. Ich stoppte bei einer Ansammlung polnischer 40-Tonner auf dem größten Parkplatz der Stadt, fotografierte allmögliche Objekte an den Lastern, darunter und daneben. Die Vorhänge der Fahrerkabinen waren zugezogen und ich argwöhnte, dasss drinnen seit-ewigkeiten-unterwegse Fahrer ihre Pflichtpause machten. In dunklen Ecken nahm ich Schnappschüsse von Graffities mit. An der Tür eines Trafohhäuschens stand geschrieben „Du musst zuerst das richtige Lied singen“. Herrlicher Alltagsdadaismus – was ist ein Blogartikel anderes, als aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen, die irgendein Hirn irgendwo auf dieser Welt ausspuckt und die den Zustand der Alltäglichkeit eines der vielen denkenden Wesen dieser Erde wiederspiegelt?

Just in diesem Moment wurde der siebenmilliardste Mensch geboren. Im Radio, erinnerte ich mich, berichtete man vor einigen Jahren über den Sechsmilliardsten, der offiziell irgendwo in Exjugoslawien geboren wurde, ein Bub. Heute lebt der arme Kerl in bitterer Armut. Eine Milliarde später trägt man Sorge, mehrere siebenmilliardste Menschen zu küren, einen in Indien, einen in Mexiko,  den USA, Norwegen usw. Soll nicht noch einmal passieren, dass ausgerechnet dieser besondere Mensch ein so schreckliches Schicksal erlebt und in Armut vegetiert. Einer von denen kann es schaffen! Derweil stelle ich mir vor, wie im zehntel Sekunden-Takt immer Menschen geboren werden, sterben, geboren werden, geboren, geboren und geboren und sterben und sterben und sterben und dass über eine gewisse Zeitspanne Diesertage die Menschenanzahl um die Siebenmilliardengrenze pendelt, mal drunter, mal drüber, und dass vielleicht tatsächlich einige Siebenmilliardenmenschen geboren werden, nicht nur einer. Während einer in einem schneeweißen Krankenhaus in Trondheim geboren wird, kommen in Somalia bei einem Gemetzel 359 Menschen um. Alles in der gleichen zehntel Sekunde. Siebenmilliarden minus 359 plus Zwillinge in Atlanta minus Hungersnot Massensterben auf einer abgelegenen Insel irgendwo plus ….

Die Statistik weiß etwas vom Kurvenglätten. Nur in der Statistik gibt es den Einen.