Seit ich mit Everytrail und dem Mobiltelefon experimentiere, gehören die Bern-Spaziergänge- und Fahrten zum festen Bestandteil des Künstleralltags. Eine Stadt mit ihren opulenten Bildvorlagen eignet sich besonders gut für das neue Medium, welches Text, Bild und geografische Daten in einer Flash-Diaschau vereint.
Gestern versuchten Sofasophia und ich erstmals, einem anderen Everytrailtrip zu folgen: Charlands Bern, Zentrum Paul Klee, Egelsee, Rosengarten aus dem Jahr 2007. Es ist mühsam, den Weg nachzuvollziehen und die Bildstandorte aufzuspüren. Wir scheiterten kläglich, weil es schier unmöglich ist, der Karte auf dem Telefon zu folgen – man müsste ständig aufs Display schauen, um den richtigen Weg einzuschlagen – nach einigen Irrungen gaben wir unweit des Wankdorfstadions auf und konzentrierten uns auf unseren eigenen Weg. Dabei entstanden folgenden Clips.
Urban Artwalk Bern Breitenrain (by Irgendlink)
Bern-Breitsch und mehr (by Sofasophia)
Wie ich so die Welt vor mir sehe als vielschichtige Matrix, die mehr als nur drei Dimensionen braucht, um erklärt werden zu können – auf Charlands Spuren, der seinen Trip 2007 aufgezeichnet hat, wandeln wir im Jahr 2010 ein gutes Stück, zeitlich versetzt. Wenn man die Welten übereinander schichten könnte, würde man durchschauen können wie durch ein Folienset. Sofasophias Welt deckungsgleich mit der irgendlinkschen und weiß Gott wieviele menschen gestern den gleichen Weg gingen wie wir, aber ihren Wahrnehmungsschwerpunkt auf andere Sichten legten. Schon die Exemplare Sofasophia und Irgendlink zeigen verschiedene Sichten. So gehen wir durch Zeit und Raum, kaum vorstellbar, dass alles aus einem Punkt entstanden ist und wieder in einem Punkt enden wird. Unsere Pfade sind so ähnlich und unsere Sichten oft so unterschiedlich.
In der Nähe des Bahnhofs fotografiere ich die Spiegelung eines Zebrastreifens in einer polierten Marmorsäule, ein unmögliches Unterfangen, es mit dem Mobiltelefon zu versuchen. Als ich das Bild lösche, läuft ein grauhaariger Wanderer vorbei, bleibt bei der Säule stehen, reißt einen Aufkleber ab, noch ehe ich sehe, um was es sich handelt, geht unbeirrat weiter und knetet das Papier in der Hand. Zwei menschen auf den Antipoden der Marmorsäule. Schon bin ich versucht, ihm nachzurufen, „wassen da drauf,“ fällt mein Blick auf ein Thermometer, welches in der Wand eines Pharmaladens eingelassen ist und, neben dem Sofasophia irgendwas beobachtet, ich weiß nur noch: 23,4 Grad Celsius, Luftdruck 1271 Hektopascal. Weiter weiter weiter, durch die noch immer 1.August-beflaggte Altstadt, „welche in diesen Tagen einen ganz besonderen fotografischen Reiz hat,“ sagt Sofasophia, denn die Flaggen hängen nicht immer aus den Fenstern. Asiatische Touristen vor dem Münster – „Ihr Münster!“, bin ich versucht, zu rufen in Anlehnung in den angewiderten Ausruf „Du Monster, was hast du getan.“ Lächele in mich hinein über die hohe Aarebrücke am Bärengraben, eine Wurst voller Touristen platzt aus der Pelle, selbst für uns Radler ein Spießrutenlauf hinauf zum Rosengarten. Nun mitten in Charlands Trip, die Augen immer wieder aufs Telefondisplay, wo ist er/sie gelaufen, wo hat er/sie fotografiert? Charland machte die Tour im Winter. Nicht nur das Datum spricht dafür, auch die Fotos zeigen es. Breitenrain. Plötzlich verirrt und auf eigenen Wegen unterwegs in Wankdorfs Abgründen, eiskalten Gewerbezonen, Graffity verzierten Bahnschuppen, Baustellen. Eine eigenwillige Romantik entfacht diese sonntagsstille Gegend. Zurück in die Stadt, am Bahnhofs-Migros ein unbeschreibliches Gewimmel. Im vorbeihetzen ein Schnappschuss auf das T-Shirt eines dicken Mittdreißigers: „(…) wir brauchen mehr Oasen (…)“ entziffere ich den Aufdruck unvollständig. Und darüber denke mal nach, eine Rolltreppe lang, auf der du dir rückwärts fahrend die Schuhe bindest und Sofasophia über dir schauend kommentiert: „noch zehn, neun, acht, sieben Stufen.“ Habe ich eben ihr sei Dank zwei Dimensionen gleichzeitig erlebt? „Ich sah die Rolltreppe,“ werde ich meinen Enkeln erzählen,“langsam beförderte sie mich nach unten und ich band mir die Schuhe zu.“ Das Treiben im ruhigen Strom der Menge ist trotz aller Unentrinnbarkeit ein Wettlauf gegen die Zeit. Ausgehungert zurück ins Quartier – wie sie in der Innenstadt so wohltuend die Straßen gesperrt haben, kein Auto darf rein, überall stehen Wächter mit gelben Warnwesten, die die Strecke für einen Skatemarathon abriegeln und wir uns mit den Rädern vorbei quetschen, ab und zu der Lufthauch eines schwitzenden Rennteilnehmers – „gib mir ein L“ – sag ich zur Sophia, sie zuckt die Schultern und mit dem Kinn weise ich hinüber zu dem grauhaarigen Rennteilnehmer, der auf seinen Siebenmeilenkufen an uns vorbei weht, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper parallel zum Teer, ein L auf Rädern. Ha. Zwei Ebenen, die sich im 90-Grad-Winkel schneiden verleihen der Szene einen Hauch Räumlichkeit.
Abends das letzte Grandiosum: ein rundes, an die 100 m durchmessendes Schwimmbad am Rande der Stadt – wie üblich in Bern eintrittsfrei. Tja Liebling und das war mein Tag.
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