Zu – und andere Missverständnisse

SoSo sagt, Zu ist ein schlimmes Wort, und nennt einige Beispiele: zu wenig, zu schnell, zu viel, unzulänglich.
Stimmt, pflichte ich bei, besonders für eine Katze.
Später spazieren wir zum örtlichen Lebensmittelladen. Am schwarzen Brett hängt ein Inserat eines Holzhändlers, das ich ohne Brille nicht lesen kann. Brennholz im Bigbag, murmelt SoSo undeutlich. Was? Brennholz im Dickdarm?
Wir zeichnen den Spaziergang per GPS auf und schnappschießen unterwegs aus der Hüfte. Die Mode-App Hipstamatic dient dabei als spielerischer fotografischer Zufallsgenerator. Per Schüttelfunktion werden die Fotofilter gewechselt und man erhält die bizarrsten Fotoergebnisse (das Prinzip hatte ich schon auf der Kunststraße Boulogne-Zweibrücken im letzten Jahr angewendet – der Zufall als Synonym für die Ungewissheit der Zukunft). Hier zusammengefasst als Urban Artwalk Windisch #12/2013.
Hier berichtet Co-Künstlerin SoSo über den Artwalk und zeigt ihre Sicht ganz in schwarz-weiß.

Supplement: Heiko Moorlanders My Teeth Made A Lot Of Trouble In My Youth, welches in Zeile 5 Spalte 4 in die Bildtafel integriert ist

Urban Artwalk Windisch Dezember 2013

Urban Artwalk Burgdorf

Yet Another Vorstellungsgespräch. Dieses Mal nicht im Bürotrakt einer Shoppingmall, sondern in einem typischen Berner Bauernhaus. Ein Ding, das nur aus Dach zu bestehen scheint, durchweg aus Holz gebaut. Wuchtig liegt es am hochwasserführenden Mühlbach des Flüsschens Emme in einem Gewerbegebiet. Deutlich spürt man, wie die Stadt das Land überwuchert. Ich lasse mich durch die Sträßchen treiben, fühle mich entwurzelt, nicht dazugehörig. Die Schweiz kommt mir vor wie eine Puppenküche. Sauber, aufgeräumt, wohlgefügt, alles wie im Traum, zudem sind die Menschen nett. Der Typ kranker Spinner oder protziger Proll oder hysterischer Aufmerksamkeitssucher oder psychopathischer Was-auch-immer, läuft einem hier nur selten über den Weg. Geld spritzt aus allen Ritzen. Auf der Straße kleben, selbst vor Bahnhöfen kaum Kaugummis. Es liegt kein Müll herum. Auf Autobahnen hält man sich an die Geschwindigkeitsregeln. Kaum einer drängelt oder lichthupt.
So laufe ich fotografierend durch das Idyll. Aber es will nicht stimmen. Plötzlich fühle ich mich alleine. Oder fremd? Ja, fremd ist besser. Vor einer Kirche, einem neumodischen Betonding, trifft mich auf einer Parkbank sitzend die Wucht der Fremde. Die Schleier der Realität flattern im Frühlingswind, mich fröstelt, das Tausend-Meilen-von-Daheim Gefühl beschleicht mich. Wie im Alptraum sind von jetzt auf gleich alle meine Liebsten gegangen und muttersellenalleine hocke ich, Jahrzehnte in die Zukunft katapultiert, noch immer denkend, mich windend, nach dem Großen suchend, das man nicht aussprechen und nicht finden kann, auf einem in Ewigkeit rotierenden Planeten. Wenn ich eine Funtionsschleife in einem Computerprogramm wäre, hätte ich mich längst aufgehängt, würde sinnlos auf meine eingespielten Routinen rückkoppeln. Was bleibt, ist die Hoffnung auf den Befehl „clear“.
Das reinigt die Sinne. Ich versuche ein offenes WLAN zu finden. Vergeblich. Die Neuapostolen haben ein gutes Passwort. Dabei würde es genügen, am Pfarrhaus zu klopfen und zu fragen. Wie früher Obdach und Brot, würde man heute Netz und Strom erhalten, spinne ich. Die leere Welt meiner Phantasie hinter den Schleiern meiner mutmaßlichen Zukunft, ist wieder unsichtbar. Mächtig erschreckt hat mich die Kälte, die bodenständige Manifestation von Sinnlosigkeit, so als sei Sinnlosigkeit das ultimativste aller Fundamente. Pfahlgründung der Seele auf dem morastigen Boden der Sinnsuche.
Ein kühler Ostwind lullt mich ein. Ich fühle mich wieder wie der Reisende, wie der Umrunder der Nordsee, der ich im letzten Jahr war. So unglaublich es klingen mag, während der vier Monate alleine auf dem 7000 Kilometer langen Radweg um die Nordsee, habe ich mich keine Sekunde alleine gefühlt. Obschon man chronisch fremd das Land durchquert, ist man als livereisender Blogger doch stets daheim. My Home is My Blog, steht groß geschrieben über meinem virtuellen Kamin. Das Feuer der Neugier lodert darin.
Von allen Gegenden, die ich durchquerte, sind mir die menschenleeren am Liebsten.
Gemütsschwächelnd fotografiere ich nach Herzenslust und ohne Konzept das kleine Burgdorf. Das Auge kreist dabei im Spannungsbogen zwischen blauem Himmel und den abflauenden Fluten der durchweg kanalisierten Rinnsale und dem von Menschenhand geschaffenen grauen Band, das niemals endet.

Urban Artwalk Burgdorf
Für diese Woche gibt es nur noch drei Dinge zu tun:
Das Jakobswegbuch wird gründlich lektoriert. Die große Zweibrücker Col Art Ausstellung (www.prismakunst.de) wird vorbereitet, und ich möchte mit dem Fahrrad zum Rhein runter radeln, an den Punkt, an dem die Aare mündet.

Liveschreiben #13 – zurück in die Gegenwart

Herr Irgendlink lässt und lässt nicht locker. Zwar schwächelte ich fast ein Jahr, was das Reisen und das darüber Berichten angeht, aber nun, seit erst drei Tagen unterwegs, spüre ich schon wieder die Faszination, die der stete Lebensstrom ausübt, wenn er über die Katarakte der Fremde rauscht. Aus der Reise Ums Meer habe ich ein immenses Wissen über diese, meine direkte Form der Reiseberichterstattung gewonnen und, by doing, eine gute Fingerfertigkeit entwickelt. Wenn ich heute Morgen noch fabuliere, ich zeige nienienie wieder Bilder in einer Ausstellung, es sei denn, ich erhalte ein Honorar, ich trotziger Kunstbub, so weiß ich nun, was ich garantiert immer wieder tun werde: live von unterwegs bloggen.
Es dauert ein zwei Tage, bis man drin ist in der Tour. Heute bin ich in dieser Tour drin. Also Punkt Eins: Gedulde Dich und lass Dich vom Unterwegssein weichklopfen so lange, bis die Worte fließen. Der nächste wichtige Punkt ist Disziplin. Ehrlich gesagt, just im Moment würde ich viel lieber nackt im Hotelbett liegen, die Glotze surren und den Abend ausklingen lassen.
Stattdessen vorm geistigen Auge den Tag revue passieren lassen, gleichzeitig auf dem winzigen Smartphonebildschirm diese Zeilen tippen. Ein Urban Artwalk morgens, um das einzig renovierte Haus in einer zerfallenden Häuserzeile zu fotografieren (abends war das Licht ungünstig).

20130520-000031.jpg
Verirrt in der Zitadelle verpassen SoSo (auch sie schreibt live) und ich beinahe das Festbankett, müssen kilometerweit durch die Nordstadt irren. Boulogne ist verdammt hügelig. Das Bankett mit etlichen hundert Gästen in einer Turnhalle anlässlich des 54jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft Boulogne Zweibrücken.

20130520-000346.jpg
In der Kunstschule EMA offeriert man mir, die Ausstellung noch einige Zeit im Kubus zu lassen und sie mir per Post zu schicken. Prima. Netzwerken. Das ist was Feines. Fünf Busse voller Netzwerker.
Stadtszenen von unseren Urban Artwalks. Boulognes Häuser haben einfach die schönsten Hausnummern. Diagnose: in dieser Stadt müsste ich mindestens eine Woche arbeiten. Südlich des Flusses Liane etwa, gibt es einen Stadtteil, den ich noch gar nicht kenne.
Urban Artwalk Boulogne am 19. Mai 2013.

20130520-001006.jpg
Ein Jammer, dass die Reise Morgen endet. Ich merke, wie faszinierend dieses, mein Experiment am offenen Herzen der Literatur ist. Obschon noch immer unklar ist, ob es sich um Literatur oder Kunst oder Dokumentation oder dilletantisch redigierten Privatjounalismus mit larmoyanten Einlagen, oder um ein schlichtes Bad in der virtuellen Menge handelt. Manche nennen es einfach Appspressionismus.
Credo von Liveschreiben #13 – lass nienienie den Strom der Gegenwart enden.

20130520-002439.jpg