Eigentlich wäre es ideal, die letzten drei Nächte hier auf dem Camping Solvang zu verbringen. Er ist nur sieben Kilometer vom Flughafen Alta entfernt, wo ich übermorgen um 7:35 Uhr zurück fliege nach Frankfurt.Vielleicht ist er mit 170 norwegischen Kronen pro Nacht relativ teuer – viel Erfahrung mit den Zeltplatzpreisen in Norwegen habe ich nicht. Einzig vom Hörensagen weiß ich, dass der eine oder andere Platz nur 90 Kronen die Nacht kostet, umgerechnet etwa zehn Euro und dieses Hörensagen hörte sich stets ein bisschen nach sensationell billig an.
Egal. Der Platz schließt glaube ich heute die Saison ab. Ein finnischer Psychologe sagte mir das, der gerne bis Freitag geblieben wäre. Timo aus Oulu, fußballkundig, Rammsteinfan, Mann mit Hund, bärtig, Outdoorklamotten und ein Allradauto, das SOLCH einen sonoren Motor hat und SOLCHE Reifen, kurzum, einen Typen, den man nie und nimmer für einen Psychologen halten würde.
An der hießigen Uni wird er ab heute für eine Woche lehren oder referendieren, so ganz habe ich es nicht verstanden. Fakt ist, dass er im September und November wieder kommen will und natürlich wird er zelten, zusammen mit dem Hund neben dem riesigen blauen Auto mit der düsteren Stimme.
Wir verstehen uns prächtig und schwadronieren über Fußball, Rammstein die Band, Ramstein die Stadt und solche Dinge, die mich zwar nicht sonderlich interessieren, und die vermutlich auch Timo nicht so arg interessieren, aber wir Reisende nehmen das Gesprächsfutter wie es gerade kommt. Fußball ist nunmal Deutschland wie die Sauna Finnland ist und das Matterhorn Schweiz und das Baguette französisch.
Mit einer Rumänin, die aus Paris kommt, unterhalte ich mich über die romanischen Sprachen im Allgemeinen und die französische im besonderen und ruckzuck mäandriert das Gespräch zu Ludwig IX, zum Absolutismus, zur Hochsprache der damaligen Zeit, um schließlich zu Norwegen und Alta zurückzukehren.
Hast du die Felszeichnungen gesehen? – Noch nicht. – Den Canyon, immerhin der größte in Nordeuropa? – Boa, das Wetter ist so schlecht.
Kurz schwebt der Gedanke im Raum, gemeinsam mit dem Auto, das sie gemietet hat dahin zu fahren, aber sie hat ja noch zwei Italiener im Gepäck, Rucksacktrampende, die sie um zehn Uhr zum Flughafen bringen möchte und Monsieur Irgendlink, moi même ist noch nicht bereit, das regennasse Zelt abzubauen.
Überhaupt, wie sieht der Tagesplan aus so zwischen Tür und Angel, kurz vor dem Abflug?
Fakt ist, dass ich den Camping verlassen muss, weil er ja schließt und Fakt ist auch, dass Hotel oder andere feste Unterkünfte nicht in Frage kommen wegen zu teuer und überhaupt, ein wildes Tier kann man ja nur schwer zwischen Hotelmauern sperren.
So schalte ich heute in den Langsamradelmodus, werde vielleicht zur Universität rüber radeln und mir die Zeit im dortigen Wlan vertreiben oder ins Schwimmbad gehen, das direkt gegenüber der Nordlyskathedralen ist. Das ist eine schneckennudelförmige Kirche, ein ziemlich tolles Bauwerk, das so in den Himmel ragt, dass das Nordlicht, welches in den langen Winternächten grün am Himmel züngelt direkt an den Kirchturm anknüpfen kann.
Ich glaube nicht, dass es diese Kirche 1995, als QQlka und ich hier vorbeiradelten, schon gab. Wie mir dieses gesamte Alta so vorkommt, als sei es erst in den letzten zwanzig Jahren gewachsen. Gab es das Scandic Hotel schon? Die riesige Passage mit dem Rema1000 Baumarkt? Ich erinnere mich nicht.
Auch das letzte Bild des Kapschnitts, auf der E6 Richtung Norden aufgenommen in einer leicht ansteigenden Rechtskurve mit dem Hinweisschild ‚Nordkapp 212‘ Kilometer konnte ich gestern nicht finden. Die Entfernung zum Nordkap hat sich sowieso geändert. Überall wurden die Kilometerangaben überklebt, weil die Strecke durch den Bau des Nordkaptunnels um etliche Kilometer länger geworden ist.
Wie wären wir 1995 überhaupt auf die Nordkapinsel gekommen, wenn wir nicht in Alta umgekehrt wären?
Wie sieht die Nordkap-Streckenhistorie aus? Vermutlich musste man irgendwie nach Honningsvåg kommen und von dort auf der erst – ich glaube – 1956 eröffneten Nordkapstraße ans Kap radeln.
Wenn man sich Straßen, insbesondere in Gebirgsgegenden oder auch in den Fjorden einmal näher betrachtet, wird man deutlich die Spuren erkennen wie sie gewachsen sind, wie nach und nach Brücken und Tunnel und tiefere Einschnitte in den Fels die Strecken verkürzten und die Steigungen minderten. Oft findet man die Überreste der früheren Straßenversionen in Form von Parkbuchten wieder.
In Frankreich mag man sich manchmal wundern, warum sich abseits der Straße plötzlich eine Platanenallee befindet, unnatürliche Parallelen im Nichts.
Und irgendwie ist das Prinzip der Straßenbegradingungen, des Wachstums eines Verkehrsweges ansich auch an dieser meiner virtuellen Reise erkennbar. Was früher mühsam mit Hand in Kladden notiert wurde, kommt heute direkt per Bluetooth-Tastatur in ein vielfach umformbares Dokument, ist angereichert mit Bildern und sogar eine Minimalrecherche ist direkt vor Ort dank Internetverbindung jederzeit möglich. Das Tüpfelchen auf dem I dürfte die kommunikative Komponente sein, schließlich kann man via Twitter und Blogkommentar jederzeit mit dem live schreibenden ‚Künstler in Bewegung‘ in Kontakt treten.
Nachdem ich gestern das Sennalandet von Norden kommend durchquert hatte, wurde mir bewusst, wie gut unsere Entscheidung war, 1995, uns nicht noch weiter zu quälen bis zum Nordkap. Ich vermute, die bis um die vierhundert Meter hohe und gut dreißig Kilometer lange kahle Hochebene hätte uns jeglichen Spaß ausgetrieben.
Nun lässt der Regen nach, wie angekündigt. Das Zelt werde ich wohl nicht trocken einpacken können, aber es bleiben ja noch zwei Tage und Nächte, um mein Heimreisepäckchen fluggerecht zu konfigurieren. Da das Fahrrad vermutlich extra berechnet wird, habe ich genug Freigepäck. Um aus fünf Packtaschen ein Gepäckstück zu schustern habe ich hier im Campinggebäude einen großen Müllsack gemopst, mit dem ich die zum Bündel verschnürten hinteren Packtaschen umwickele. Eigentlich sollte alles, was ich habe in diese beiden Taschen passen.