‚Sehnsucht nach Gegenwart‘, weiß man da schon Genaueres?Gerade kommt die Sonne durch irgendwo im Osten und wirft das zerklüftete Land zwischen Nordatlantik und Barentssee in ein gar bizarres Licht. Karge Felsen. Wollgras, Möwen, andere Vögel und wie hingetupft, meist rot, ein paar Wohnhäuser am Fjord. Die Insel da vorne sieht aus wie ein grün begraster Hexenhut und links, im Norden, ganz nah bei der E69 steht eine gelbe Bauruine. Die Sonne macht sie schön und ich fotografiere mich langsam heran. Ein Teil des Daches liegt vor dem Gebäude. Wie ein Gerippe ragt der Dachstuhl in löchriges Himmelsblau.
Aus dem Gebäude sind alle Fenster herausgetrümmert. Davor liegen Stühle, ein verrottender Tisch, ungedeckt. Unheimlich. Verrucht. Die Fenster im Parterre sind vernagelt. Dennoch, die Tür steht offen, ach was, es gibt sie nicht mehr, stelle ich fest, als ich davor stehe. Stattdessen Maschendraht, den jemand aufgescchnitten und zur Seite gebogen hat.
Ich kann einfach so hinein. Wenn ich mich traue. Graffities. Geborstenes, aus den Angeln gerissene Türen. Eine Schutthalde, als habe eine Explosion darin stattgefunden.
An der westlichen Außenwand hängt eine acht Meter breite, drei Meter hohe Tafel.
Dieses Haus war Kulisse eines Films, steht darauf auf norwegisch, englisch und auch auf deutsch.
„Sehnsucht nach Gegenwart“ von Knut Erik Jensen. Eine Filmsymphonie aus der Region Nordkap.
Ich stöbere durch die Ruine, nicht zuletzt, weil sie ggf. ein möglicher Unterschlupf auf dem Rückweg nach Alta sein könnte.
Von Wind zerschossenes zweistöckiges Etwas. Was war das einmal? Alles Möbel sind zerschlagen. Wie in einer Messiwohnung sieht es aus. Nie könnte man dieses System blindwütigen Vandalismus kapieren. Papier, Kleider, Comics, Pornos, der Dachstuhl bietet eine tolle Panoramaussicht auf die Hexenhutinsel.
Ich bin noch etwa fünfzehn Kilometer von Honningsvåg entfernt, der letzten Stadt vor dem Nordkap.
Vor kurzem hat mich Alexej, ein russischer Radler aus Sankt Petersburg überholt. Mit fast nichts ist er hier unterwegs, hat Finnland durchradelt, kein Geld. Im Trinkflaschenhalter eine Vodkaflasche. Wasser sei da drin, sagte er.
Zunächst habe er mich für einen Ukrainer gehalten wegen der blaugelben Flagge auf meinem Gepäckträger, sagt er. Und da wird mir bewusst, wie sehr die Gegenwart in der Vergangenheit wurzelt, wie alles, das sich ereignet aufeinander aufbaut. Genau wie das, was jetzt in dieser Gegenwart vor der Filmkulisse ‚Sehnsucht nach Gegenwart‘ geschieht womöglich die Wurzel ist für Begebenheiten in der Zukunft.
Schweden vor etlichen Tagen. Da liegt sie endlich, meine heiß ersehnte Schwedenflagge, mit der ich mein Fahrrad schmücken will. Rechts im Straßengraben. Gar nicht mal so schmutzig. Hastig packe ich den gelbblauen Wimpel ein. Er ist aus solider Baumwolle. Später spricht mich ein ukrainischer Beerenpflücker in Glommersträsk an, ob ich Ukrainer sei. Warum? Na wegen der Landesfarben.
Erst da bemerke ich, dass meine Schwedenflagge gar kein Kreuz darauf hat, dass es eine jener Art ist, wie sie manchmal vor den Häusern flattern.
Ennontekiö vor etwa einer Woche. Vor dem Supermarkt ist die Hölle los. Jede Menge Autos mit norwegischem Kennzeichen, in die man palettenweise Dosenbier, aber auch andere Lebensmittel lädt. Ein Paar mit Hund spricht uns an – ich bin da gerade mit dem Münchner Radler Tim unterwegs – und wir reden über unsere Wohers und Wohins. Dass das Wetter schön sei und wir Glückspilze. Alle. Sie kommen aus Holland. Am Nordkap arbeite ihre Tochter in der Touristeninformation und wir mögen doch mal bei ihr vorbeischauen, sagt der Mann. Dann steigen sie ins Auto und fahren winkend davon.
Vorgestern. Ich trödele durch Honningsvåg, fotografiere viel Rost und Buntes und eine Fischfabrik. Auf zig Meter langen, etwa sechs bis acht Meter hohen Gestellen, die aussehen wie längliche Indianderzelte hängen tausende Fische zum Trocknen, blecken ihre toten Zähne aus weit aufgerissenen Mäulern.
Im Hafen liegen zwei Kreuzfahrtschiffe.Eines ist die Astor mit etwa 500 Passagieren. Viele Deutsche. Eine von ihnen bitte ich um ein Foto vor einem zwei Meter hohen Troll. Ständig posieren Menschen vor dem Wesen mit den riesigen Augen und der Knollennase. Hafentreiben. Plötzlich kommt ein Mann auf mich zu, begrüßt mich freudig, achjaaa und das war doch … das war doch in Muonio, sagt er, oder, hmm? Auch ich muss grübeln, hmm es war … Ennontekiö. Seine Tochter hat gerade Dienst. Hier in der Touristinfo in Honningsvåg, wo es turbulent zugeht, das WLAN offen, ich eine Weile sitzen kann und surfen.
Bis dir mal noch jemand wegen Nordkapverzögerung an den Karren fährt.
Etwa dreißig Kilometer sind es noch. Zwei drei Stunden, kalkuliert mein Hirn. Wie naiv, Herr Irgendlink, wie naiv.
Ich glaube, in Honningsvåg denkt jeder Radler, juhuu, nur noch zwei Stunden und ich stehe am Kap. Keiner hat das je geschafft. Das Nordkap ist auf einem paarhundert Meter hohen Felsen und man hat nicht gerade eine Autobahn mit Tunneln und Brücken dahin gebaut. Überhaupt gibt es erst seit Mitte der 1950er Jahre eine Straße. Vorher musste man mit dem Schiff in einer Bucht unterhalb festmachen und hinauf klettern.
Die Strecke zum Nordkap gehört zum Härtesten, was ich radlerisch je erlebt habe. Dabei sind es eigentlich gar nicht so viele Höhenmeter. Ich habe die 2400 Meter hohe Porte d Envalira in den Pyrenäen mehrfach überquert, den Simplonpass, den San Bernhardino, um nur einmal die höchsten zu nennen, meisterte den niederländischn Overdijk über dreißig Kilometer weit im Sturm, natürlich gegen den Wind, durchquerte die Kjöllurroute in Island und, hmm, am ehesten erinnert mich der Auftstieg zum Nordkap an die Öxiroute im Osten Islands. Ein ungeteertes, garstiges Etwas, von Wind und Wetter umspült, das ich im Schneetreiben hinaufächzte bis zu einer Schutzhütte, die mit schweren Ketten im Fels verankert war.
Der starke Westwind macht es nicht leichter auf den letzten drei vier Anstiegen zum Nordkap. Teils acht neun Prozent Steigung, serpentinös anfangs, zermürbend im Nebel verschwindend der letzte lange Anstieg. Immerhin geteert. Mit fünf km/h ackere ich gegen eine dreißig Meter entfernte Nebelwand. Alles nass. Demut irgendwie und dieses egal wann du ankommst Gefühl, denn dieses Mal ist es eben nicht wie in Island, dass dich eine zugige Hütte erwartet, sondern du weißt, da ist ein riesiges Gebäude aus Stein. Da drin ist es warm, es gibt ein Restaurant, Tische, Stühle, Museum, Souvenirs, Menschen.
Noch fünfhundert Meter bis zur Schranke, an der alle motorisierten Besucher den Eintritt von zweihundertfünfzig Kronen pro Person, also etwa dreißig Euro bezahlen müssen. Unheimlich wie sich die Mautstation und zwei abzufertigende Autos aus dem Dunst schälen. Man fragt, woher ich komme, drückt mir ein Prospekt auf deutsch in die Hand und winkt mich durch. Nichts. Nebel. Keine Geräusche, die auf Menschen hindeuten. Wo ist das Gebäude? Wieder eine Schranke. Und eine Hütte daneben, die der Schutzhütte auf dem Öxipass ein bisschen ähnelt. Statt mit Ketten ist sie mit Streben, die sich wie Spinnenbeine in den Boden stemmen, gegen Sturm gesichert.
Wie elend lange doch zwei dreihundert Meter werden können. Plötzlich erkenne ich eine unscharfe Silhouette, eine Kugel ragt in den Dunst. Darunter die Umrisse eines flachen, etwa sechzig achtzig Meter langen Bungalows. Es könnte auch eine zufällig gerade Felswand sein. Ein Eingang in der Mitte. Licht. Drei vier Fahrräder lehnen davor. Die Kugel entpuppt sich als Teil des Gebäudes, eine Art runder Turm. Die berühmte Nordkap-Kugel, vor der man sich fotografieren lässt steht hinter dem Bauwerk.
Ich stelle das Rad ab, gehe auf das Portal zu, die gläserne Schiebetür öffnet sich automatisch.
Ich bin da.
Der Tacho zeigt 4463.
Wann hat diese Reise ihre Wurzeln? War es vor zehn Wochen beim Start, oder vor ein paar Monaten, als die Planung begann?
Oder vor zwanzig Jahren, als Monsieur QQlka und ich den ersten Kapschnitt in Angriff nahmen?