Der Mensch ist überall. Da darf man sich nichts vormachen. Sei es außenrum noch so grün, noch so karg, noch so unwirtlich – je nach Gegend und Gusto, der Mensch hat Europa voll im Griff. Wo Straße ist, ist auch Mensch. Die Physiognomie der Orte hier oben unweit des Nordkaps ist nur ein bisschen anders. Da heißt es schon mal, wie vor ein paar Tagen auf einem Schild, das die Grenze der Stadt Kiruna zeigte, 232 Kilometer bis ins Zentrum.
Offenkundig ist hier aber gar keine Stadt. Bei näherem Betrachten findet man dann doch menschliche Spuren. Funkmasten querab auf Hügeln, Zäune, Stromleitungen, alles sehr weitläufig, fast wie dekomprimierte Luft. Hier mal ein Atom, da mal ein Atom, hier mal eine Hütte, da mal eine Hütte.
Wie verloren steht zum Beispiel mitten in einem kargen Gelände, wo man eigentlich nicht hinfahren kann, ein Wohnwagen. Keine Ahnung, wie er da hin kam? Per Hubschrauber? Oder hat man ihn im Winter, wenn alles mit Schnee bedeckt ist hierher geschleppt?
Die Gegend ist einsam. Ganz klar. Aber sie ist Menschenland. Alles gehört hier jemandem. Rentiere tragen manchmal Glocken. Ab und zu befinden sich Rentiersortieranlagen am Straßenrand, die sich übrigens gut eignen zum Zelten. Barrieren und Gatter und ein paar Lampen, die wohl mit Notstromaggregaten betrieben werden. Im Winter ist es hier ja immer dunkel. LKW-Rampen, damit man das Vieh in die Laster treiben kann. So stelle ich mir das zumindest vor. Ob es so ist, weiß ich nicht. Immer wieder zeigen Hinweisschilder in kleinen Siedlungen auf Rentierkjött-Verkaufsstellen, also Rentierfleischgeschäfte oder -metzgereien.
Es gibt hier keine Natur. Der Mensch beherrscht alles. Im Winter ist er mit Schneescootern sogar da unterwegs, wo die Straße nicht hinkommt, wo jetzt Sumpf, unwegsames Gelände, Pfützen und Tümpel für eine gewisse Finmarksromantiksorgen.
Dreißig Kilometer nördlich von Kautokeino biege ich von der Straße 93 auf die 92 ab in Richtung Karasjok. Eine etwas weitere Strecke zum Nordkap, als die Alta-Route. Das Hinterland reizt mich. Jemand sagte mir, es sei schön, schöner vielleicht als die Küste. Ich weiß es nicht. Ich müsste beides gesehen haben, um es beurteilen zu können und selbst dann könnte ich nicht sagen, das ist allgemeingültig. Das ist es, was mich an Reiseberichten so sehr zweifeln lässt. Ihre Subjektivität gepaart mit der eigentlich offenkundigen Ahnungslosigkeit,die man als Mensch grundsätzlich hat und dazu ein Spritzer momentane Stimmung.
Ich kann das Hohelied, ‚die Strecke über Karasjok zum Nordkap ist die schönste Strecke der Welt‘, laut und voller Inbrunst singen. Die Sonne scheint. Keine Wolke am Himmel. Das macht Gegenden grundsätzlich sehr schön. Die Straße ist ruhig und etwa dreißig vierzig Kilometer nach dem Abzweig von der Altaroute ist ein wunderbarer, glasklarer See. Sandstrand. Darin liegen Steine wie Perlen. Gar nicht mal so kalt ist das Wasser. Ich ziehe die Badehose an, wate hinein. Der See ist flach. Nach fünfzig Schritten steht mir das Wasser immer noch nicht bis zu den Knien. Weich ist der Sand. Auf dem Parkplatz mit Picknickbänken hinter mir ist kaum ein Mensch. Ich gleite ins Wasser, lege mich auf den Rücken, schaue eine Weile in den Himmel.
Als ich zurückkehre, steht ein Kleinwagen neben meiner Picknickbank. Jemand sitzt drin. Beobachte der/die mich? Durch die Scheibe kann ich es schlecht sehen. Verdrücke mich zum Umziehen hinter die Bank, die nur notdürftig vor dem vermeintlichen Blick schützt.
Die Person steigt aus, eine Frau, sie geht zum See, setzt sich ans Ufer, sitzt lange da, eine ewige Picknickpause lang und länger, steht auf, läuft auf und ab, fotografiert etwas, setzt sich wieder, derweil eine norwegische Limousine anfährt. Türen auf, fünfköpfige Familie raus. Kurz ein paar Takte Pixies, eines meiner Lieblingslieder, dann stellen sie die Musik ab. Sie sind Franzosen. Wir sagen Bonjour. Sie staksen im See.
Wir alle würdigen die Stille.
Später kommt die Frau, die so lange am Ufer saß herüber und wir halten ein Schwätzchen. Gerda aus Den Haag. Auf dem Fotoapparatedisplay zeigt sie mir das Bild, das sie gemacht hat. Eine Steingruppe, die sie schon vier Mal fotografiert hat. Immer dann, wenn sie hier an dem See vorbei kommt. Sie war schon oft hier oben und in Norwegen war sie erstmals 1961, jaaa, ich bin alt, sagt sie.
1961 mit dem Segelschiff nach Fredrikstad und die Menschen seien damals in Aufruhr gewesen, unruhig wie ein Wespennest, in das jemand gestochert habe. Es war am Tag des Mauerbaus, als sie mit ihren Eltern erstmals nach Norwegen kam.
Dass ich Künstler bin und das mit den Fotos und dem immer Wiederkehrenden – sie sagte, es sei ein Spleen – nur allzugut verstehe. Da guckt sie mich kumpelhaft an und sagt, ah, Künstler, dann darf ich ihnen was verraten: Seit einem Beinaheunfall habe ich eine Überwachungskamera im Auto und ich fürchte, sie war vorhin, als sie sich umgezogen haben noch an, grinst sie.
Ha! Die Geschichte gefällt mir. Wir überlegen, ob man diesen Outdoor-Porno des kleinen Mannes irgendwie kopieren könnte, so dass ich die Daten habe. Scheitern an der technischen Umsetzung. Und es ist ja auch alles so vergänglich. Wenn sie losfährt und die Kmera wieder aktiviert, werden die Daten nach fünf Minuten überschrieben.
Es ist ein Trugschluss, zu glauben, die Finmark sei ereignislos, nicht abwechslungsreich, stelle ich fest. Es hängt einfach von Zufällen ab, ob man jemandem begegnet oder nicht, ob etwas passiert oder nicht, ob das eigene Hirn aus dem wenigen Input, den es kriegt etwas macht oder nicht.
Am Tag zuvor, auf Kautokeino zuradelnd, erzählte mir Radlerkollege Tim, er wisse nicht, was er in einem Blog schreiben könne, es passiert ja nichts, außer dass man hundert, hundertfünfzig Kilometer weit radelt, das Zelt aufbaut, kocht und schläft.
Es ist mit dem Erleben und den Ereignissen wohl so wie mit den Häusern – sie liegen weit auseinander. Oder wie mit dekomprimierter Luft, die Atome sind zwar noch da, aber nicht so häufig.
Kaum radele ich vom traumhaften See weiter, kommt schon die nächste Begegnung. Ein Quadfahrer braust auf mich zu, verlangsamt, also verlangsame ich auch und stoppt, also stoppe ich auch. Sogar den Motor macht er aus und so stehen wir da ratlos auf der Landstraße, was will er von mir, was will ich von ihm? Beide dachten wir wohl, der andere bauche Hilfe oder wolle etwas sagen, aber nein, eigentlich wären wir ganz normal weiter gefahren, wenn nicht diese seltsame Rückkopplung stattgefunden hätte. Idd is werry hodd, sagt der Mann immer wieder und es klingt fast ein bisschen südländisch, als begegneten wir uns gerade auf Sizilien oder in der Extremadura. Dabei war es doch vor Kurzem noch so kalt, sagt er. Im Juli hätten sie noch Schnee gehabt, da drüben, fünf Kilometer weiter in dem Dorf, in dem er wohnt.
Nein, die Gegend ist nicht leer. Die Gegend wird von Menschen beherrscht. Wir verabschieden uns und er lässt den Motor an, fährt rechts runter von der Straße in einen kaum wahrnehmbaren Sandweg und verschwindet im Nichts irgendwo in nördlicher Richtung diesseits und jenseits zweier Atome.