Acht Tage, achthundert Kilometer. Das hätte ich nicht erwartet, als ich vor gut einer Woche in Falun zur zweiten „Runde“ ans Nordkap gestartet bin.Immer wieder kalkulierte das kleingeistige Angsthirn die Reststrecke von geschätzten 2300 Kilometern und teilte sie durch die Anzahl der vermutlich zur Verfügung stehenden Resttage und kam dabei auf eine Tagesdistanz von 64 bis 80 Kilometern, je nachdem, welche Strecke man nimmt.
Kurzum: es macht überhaupt keinen Sinn, mitten in der Radeltour an das Ende zu denken. Das setzt einen nur unter Druck.
Die hohe Schlagzahl ist drei Faktoren geschuldet: das Wetter war ausgesprochen gut, nur einmal gab es ein bisschen Regen tagsüber, die Strecke war im mittleren Teil um Ramsele äußerst flach und sie ist insgesamt nicht sehr „höhenmetrig“. Drittens gibt es außer ein paar kleinen Städten, die teilweise fast 100 Kilometer weit auseinander liegen, nicht viel zu sehen. Nur krüppelge Wälder, aus denen sich ab und an kleine Hügel erheben, dazwischen Wasser, Rentiere, Sumpfiges. Den Bäumen sieht man deutlich die Polarkreisnähe an. Die Kiefern und Birken sind kaum dicker, als 20 Zentimeter. Moos und Gras beherrschen den Boden.
Auf dem Sverigeleden kurbele ich bis zur Abzweigung Norsjö und folge dann der alten Kapschnittroute, die wir schon 1995 radelten. Richtung Glommersträsk, was von der Abzweigung noch 45 Kilometer entfernt ist.
Zum Glück kann ich bei der Abzweigung an einer Tankstelle noch ein paar Kekse und ein Bier kaufen. Die Lebensmittelversorgung hier im hohen Norden ist für den Radler nämlich ziemlich tricky. Es gibt zwar ab und zu winzige Siedlungen, die man oft nur an Briefkastenansammlungen am Straßenrand erkennt und an einem Ortsschild im Nichts, aber es gibt keinerlei Einkaufsmöglichkeiten außerhalb der Städte.
Man weiß auch nicht, ob die Siedlungen, die auf der Landkarte verzeichnet sind, einen Laden haben.
Als Faustformel hat sich bewährt, dass der Ort, der auf dem Hinweisschild vermerkt ist, wenn man einen anderen Ort verlässt, auch einen Laden hat. Alles klar? Am Abzweig Norsjö steht auf dem Hinweisschild „Glommersträsk 45 Kilometer“, Norsjö etwa acht, aber das ist nicht meine Richtung, und da wo ich herkomme, Lycksele, eine für diese Breiten riesige Stadt, dahin sind es etwa 60 Kilometer.
Wer nicht immer genug Nahrung in seine Radlerpacktaschen packt, muss hungern, oder bei anderen Touristen, die per Wohnmobil unterwegs sind, betteln gehen.
Mitten auf der Strecke weist ein Schild auf die „Linbanen“ und einen Badplads hin, also einen Badestrand. Nur drei Kilometer querab.
Da mich das Bild von den Seilbahngondeln wie sie über Wäldern dahin schweben fasziniert, beschließe ich einen Abstecher. Es ist ohnehin schon spät, der Tacho zeigt fast 100 Kilometer. Wer weiß, vielleicht kann ich ja am Badplads zelten und am nächsen Tag eine Runde mit der Seilbahn drehen.
Hätte hätte, Fahrradkette.
Der Ort erweist sich als Volltreffer. Mensträsk steht auf einer Tafel. Die asphaltierte Straße (die Hauptstraße bestand aus Schotterbaustelle) führt hinaus auf eine Halbinsel bis fast zu deren Spitze im See und dort ist die Seilbahnstation, der Badplads und obendrein ein Naturcamping mit echtem Klo und echtem Wasser.
Die Seilbahn fährt leider nur in der Hochsaison bis 27. Juli, danach nur wochenends, aber ab dem anderen Ende in Örträsk. Zwei Stunden dauert die Tour und man kann dabei ein Lunch einnehmen, Fensterplatz garantiert. Die Gondeln hängen ich glaube 15 Stück a 4 Personen aneinander wie bei einer Jahrmarktsachterbahn. Jede hat vier Sitzplätze.
Der Campingplatz ist so schön und still, dass ich den gestrigen Tag hier verbringe. Rumlungernd. zum Badstrand gehend, das sind nur etwa zwanzig Meter über die Straße. Badend. Mich waschend, weiter rumlungernd, schreibend, das Radel reparierend (Monsieur Irgendlink ist der perfekte Reiseprokrastinierer und lässt notwendige Reparaturen gerne schleifen, so hängt etwa der Frontgepäckträger seit zwei-, dreihundert Kilometern nur noch an Kabelbindern, obwohl die Schlauchschellen, mit denen man ihn festzurren könnte längst mit an Bord sind).
Langsam merke ich im Laufe des gestrigen Tages, wie wichtig dieser Stillstand ist, dieses einfach nur verharren und nichtstun. Versuchen, nichts zu denken, nichts vorzuhaben, sich an nichts zu erinnern, einfach nur da sein und auf den See schauen und die Sonne beim Bespielen der Wasseroberflächezu beobachten, in den See steigen, das Spiel stören, er ist kalt, er erfrischt, die Sonne sticht, irgendwo rumpelt ein Gewitter, raus aus dem Wasser, abtrockenen, rüber zu einer der Sitzbänke, rumitzen, etwas ins Handy tippen, ein Rentier trabt heran, beäugt einen, läuft die Straße auf und ab wie ein Linienbus in einem selbst auferlegten Stundentakt bis hinüber auf die Spitze der Halbinsel und wieder zurück.
Langsam werden wir Freunde, der Platz, das Rentier und ich.
Einige wenige Leute kommen vorbei, mehr als ein „Hejsan“, ein Hallo guten Tag ist nicht, ein Lächeln vielleicht, ohne Brille kann ich die Gesichter nicht erkennen. Einer rotzt, spuckt aus, es klatscht auf der Straße. In Schweden scheint man öfter zu rotzen und auszuspucken. Zumindest ist mir das schon öfter begegnet, auch Frauen tun das.
Den Rotzenden erkenne ich später per Gehör, von weit weg. Irgendwo in einem der Häuser von Mensträsk höre ich ihn und weiß, das isser. Auch das Rentier höre ich immer wieder wie es hufklackernd auf und ab läuft.
Zu Ehren des heutigen Weltkatzentags und aus Ermangelung an Katze, habe ich es Mikäsch getauft.
Ich spaziere, erkunde die Halbinsel, was ziemlich schnell von statten geht: es sind etwa zweihundert Meter vorbei an der Seilbahnstation bis zu einer kleinen Brücke, die zu einer Insel führt. Ein Seil ist quer gespannt, ob für das Rentier, oder für Fremde, für mich, ich weiß es nicht, respektiere das. Dort auf der Insel, kaum so groß wie ein Fußballplatz stehen sowieso nur Birken und eine Hütte, da gibt es nichts zu sehen.
Exorbitante Lichtwelten im Tagesrund, ewig schrägt die Sonne vielleicht ab vier Uhr nachmittags bis 21 Uhr abends und es bilden sich durch die Reflexe im Wasser schleierhafte Wolken auf den Bäumen, dem Badehaus, dem Steg. Zwei Sonnen stehen am See. Die echte und ihre Spiegelung. Das Wasser sieht braun aus, was wohl am Untergrund liegt. Man könnte es problemlos trinken.
Da es den ganzen Tag über windstill ist, ist die Geräuschkulisse wahrhaft spartanisch. Kaum ein Vogelzwitschern, nur ab und zu ein Pieps oder ein Knurr aus weiter Ferne, am lautesten dürften die Insekten sein, wobei ich mit dem Mythos, Lappland, Mückenland, etwas aufräumen muss. Es sind hier und jetzt nicht mehr Stechmücken unterwegs, als bei mir daheim. Ohnehin sind sie nicht Tag und Nacht und überall zugegen. In Lycksele, vorgestern, war der Platze an der Umeälven so gut wie mückenfrei. Abends ist es meist am Schlimmsten. Das zwingt einen dann doch ins Zelt hinters Moskitonetz, um der Gemütlichkeit willen.
Heute ist Samstag, nicht? Ich werde weiterradeln. Glommersträsk ruft, an das ich eine gute, glanzvolle Erinnerung habe aus der Reise 1995. Es gab dort einen Laden, gibt es hoffentlich noch immer, und ein Cafe, soweit ich weiß.
Angespannt waren wir, 1995, erinnere ich mich, erschöpft, jung, zielstrebig, nicht ahnend, dass der Weg, der begangen wird, gelebt werden will und nicht einfach nur begangen, abgehakt und vergessen.
Das Leben ist eine einzige, lange Schule, konstatiere ich. Eine Katze streicheln wäre jetzt okay, oder zu Hause auf dem Sofa sitzen wäre okay, oder auch hier im Zelt, dies schreiben, nichts sonst tun, auch das wäre okay.