Wald, Wald, Wald. Dazwischen das graue Band, das niemals endet. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. In Stadtnähe etwas öfter, als da draußen im Niemandsland. Vereinzelt deuten Briefkastenensembles an ungeteerten Wegabzweigungen darauf hin, dass hinten in den Wäldern Leute wohnen.
Manchmal sind diese Phalanxen zwanzig Meter lang und es hängen zig Kästen daran. Wenn man Glück hat, steht sogar ein Ortsname obendrüber.
Schwedisches Wohnen ist völlig anders organisiert, als etwa deutsches Wohnen. Bis man ins Zentrum selbst einer Kleinstadt vordringt, kann es schon mal eine halbe Stunde dauern. Das Ortsschild steht irgendwo mitten im Grün und du radelst und radelst und radelst und nichts tut sich.
Grün.
Manchmal finden sich Infotafeln an der Straße und eine Parkbucht daneben. Dann kann man sich ein Bild machen. Hier ist der „Badplads“, meist ein eintrittsfreies Strandbad an einem See. Dort die Tankstelle. An einem anderen Ort der Supermarkt, die Kirche, das Gemeindehaus, das Hotel, das man hierzulande mit zwei L schreibt.
Örebro sollte eigentlich eine größere Kleinstadt sein. Oder eine kleine Großstadt. Längst sind wir am Flugplatz vorbei und radeln noch immer durch Wald. Da. Ein erstes Gewerbegebiet. Dort, ein Schild Richtung Zentrum. Per GPS steuern wir auf den Campingplatz zu, Ray und ich. Unser letzter Abend wird das, denn ab Örebro hat Ray einen Bus nach Kopenhagen gebucht, der ihn via Oslo bis direkt zum Flugplatz bringt. Fast tausend Kronen kostet der Spaß. Die Fahrt dauert eine ganze Nacht lang, vierzehn Stunden. Über achthundert Kilometer sind wir in den letzten beiden Wochen bis hierher geradelt. Das Land ist riesig. Ans Kap sind es noch mindestens 2500 Kilometer, die mir nun alleine bevorstehen.
Wir erreichen den Campingplatz in Gustafsvik. Wie Bienen schwärmen kolonnenweise Gespanne mit Wohnwagen auf das Schlupfloch. Vor der Einfahrt hat sich nachmittags eine veritable Schlange zum Checkin gebildet. zehn zwanzig Gespanne, meist mit norwegischem Kennzeichen.
Da schnürt es dem einsamkeitsgewöhnten Reiseradler die Kehle zu: wie in einem Ameisenhaufen umwuseln Scharen von Kindern die Rezeption auf Skaterollern und Segways. Wenn dies ein Teilchenbeschleuniger wäre, würde die Erzeugung des ominösen Higgsteilchens unmittelbar bevorstehen, schlimmer noch, auf Grund der hohen Menschendichte, wäre es nicht ausgeschlossen, dass sich hier auf dem Campingplatz neben der „Lost City“ gar ein Schwarzes Loch bildet.
Minigolf. Restaurantkomplex, Souvenirsshops. Ich will da nicht einchecken, sage ich zu Ray. Aber wir sind verabredet mit Frau SoSo, die per Flugzeug, Bahn und Bus abends eintreffen wird.
Widerwillig ziehe ich eine Nummer und beobachte die Ziffern über den drei Schaltern der Rezeption. Längstens eine Nacht, sage ich mir, halte ich es in diesem Tohuwabohu aus. Erinnerungen werden wach an überfüllte adriatische Campingplätze in den 1980er Jahren. Jeden Abend spielten sie „die Hymne“, ein tiroler Lied, das um 22 Uhr die Nachtruhe einläutete. Minigolf, Federball, nachmittags fuhren Tanklaster mit Sprühkanonen durch die Wohnwagenzeilen und sprühten Gift in die Bäume, damit die Insekten nicht überhand nahmen.
Ganz ähnlich – zumindest was die Wohnwagendichte angeht, gestaltet sich der Platz neben der „Lost City“.
Hinten bei der Zeltplatzwiese, die auf einem Hügel liegt, öffnet sich das Gelände und es wird erstaunlich weit und still. Aufatmen.
SoSo um viertel nach sieben vom Bahnhof abholen.
Später sitzen wir, Ray, SoSo und ich im Restaurant, das von einer Art schwedischem Cindy und Bert mit Coverliedern unterhalten wird. Viel zu laut.Sie spielen ein Medley-Quiz. Die Gäste können auf Zetteln ankreuzen, welche Lieder sie erkennen. Wir schleusen uns durchs Fleischbüffet, trinken ein sagenhaft teures, aber leckeres Bier, danach Softeis. Volles Programm.
In der Ladenzeile neben dem Restaurant gibt es alles, was das Herz begehrt. Klamotten, Postkarten,
Spielsalon, Süßigkeiten. Ein drei oder vierjähriger reckt sich hinauf zu den Sirupzapfhähnen und füllt seinen Becher mit allen Sorten, überfüllt ihn.
Vor dem Spielcenter rotten Halbwüchsige, bereit eine Sie-wissen-nicht-was-sie-tun Bande zu bilden. Statt Amischlitten haben sie Roller, sehen gefährlich aus. Das Higgs-Teilchen.
Wir treffen uns bei Sonnenaufgang zum Duell, sage ich scherzend zu Ray, hier auf dem Minigolfplatz.
Die Animation ist in vollem Gange. Mitten im Gelände gibt es einen Autowaschplatz, der sich größter Beliebtheit erfreut. Dort kann man – natürlich kostenlos, das Zugfahrzeug waschen, das Enduromotorrad, das Huckepack auf einem Gepäckträger mit dabei ist, die Fahrräder, den Quad, den Wohnwagen, den Hund, alles. 25 Millionen stehen hier auf dem Platz rum, schätze ich flappsig. Autos, Caravans, Wohnmobile, Spaßbedarf.
Tagsdrauf – das Minigolfduell haben wir uns gespart – verabschieden wir Ray am Busbahnhof. Er konnte in einem Fahrradgeschäft einen Karton finden, in dem er sein Rad und alle Packtaschen verstaute. Mit Mühe und Not passte es in den Bauch des Oslo-Busses. 888 the number of the bus.
Obwohl der Platz mit 340 Kronen sauteuer ist, bleiben wir eine weitere Nacht, kaufen uns sozusagen von der Hektik und dem Stress des neuer-Platz-suchens frei.
Warum der Platz so teuer ist, dürfen wir am nächsten Tag erfahren: in der Campinggebühr ist der Eintritt zum Spaßbad „Lost City“ inbegriffen. Das heißt, eine Familie mit zwei Kindern kann auf dem Campingplatz leben für 340 Kronen und alle Bespaßungen gratis in Anspruch nehmen. Bedenkt man, dass der Eintritt zum Bad alleine bei 160 Kronen pro Erwachsenem liegt, ein guter Deal.
Für Familien ist dieser Platz sicher das Paradies. Auch Typen wie ich, die immer wieder aufs Neue das Kind in sich entdecken, kommen auf den bombastischen Riesenrutschen im Spaßbad voll auf ihre Kosten.