Denkmal des unbekannten Lauthalses #AnsKap

Vor sechs steht ein Streifen Sonne über dem Horizont. Lang fällt der Schatten des Zelts bis hinüber zum zehn Meter entfernten Maschendrahtzaun, der den Campingplatz ‚Z Park‘ in Motala umgibt. Alles schläft. Möwen kreischen und ein paar andere raubeinige Viecher stimmen ein in den Chor.

Als ich aufstehe, um das Solarpanel am Zaun aufzuhängen, schiebt sich eine Wolkenfront von Westen über die Sonne. Zwei Krähen sitzen auf dem Fahrrad und schauen mir furchtlos zu. Die Platzwartin kommt mit dem Fahrrad und in Gummistiefeln am Sportplatz im Zentrum des Lagers herbeigeradelt, um das Sanitärhaus zu putzen. Wie Miss Marple sieht sie aus. Und so schrullig scheint sie auch. Sie spricht nur schwedisch.

Eigentlich wäre ich nicht auf diesem Campingplatz eingekehrt, wenn ich alleine unterwegs wäre. Er sieht ungemütlich aus, ist recht voll. Abends hörte man Bässe und Lärm vom nahen See. Familien polterten quer übers Gelände.

Das Alleinewesen in mir beäugt argusäugig das Treiben. Diese tiefergelegte Karre dort drüben mit den knallroten Aufklebern gehört doch bestimmt irgendwelchen Suffprolls, die spät laut in ihr Zelt torkeln und alle aufwecken.

Vorurteile und Schubladen. Herr Irgendlink ist ein ängstlicher kleiner Ikeaschrank voller lauthalser Plärrbanden.

Nichts von alldem. Die Dusche ist gut. Abends taumeln noch ein paar Familien vorbei, murmelnd, im Gehen zum Waschhaus die Zähne putzend. Die Front aus weißen Reihenhäusern jenseits der Straße schimmert rosa im Sonnenuntergang. Die Prollkarre steht da ohne jeglichen Besitzer. Kein Zelt daneben. Keine Prolls. Fast wie ein Denkmal des unbekannten Lauthalses.

Um 23 Uhr dunkelt es. Bei der Rückkehr vom Seespaziergang komme ich an einer Frau vorbei, die gerade vor dem Durchgang im Maschendrahtzaun pinkelt. Lächelnd, ihr ein Sorry in Richtung Dämmerlichthintern zurufend. Unbekümmert sagt sie etwas auf Schwedisch.

Die Nacht ist ruhig. Nun denke ich über das spärlich krächzende Vogelkonzert nach. Wie sehr es sich doch von den reichen mitteleuropäischen Klängen unterscheidet und wie sehr diese sich von den noch viel reicheren karibischen Klängen unterscheiden, die ich vor einem Vierteljahrhundert einmal hören konnte.

Eine Taube gurrt. Der Platz erwacht. Ray und ich wollen heute nach Örebro radeln, von wo aus er am Dienstag per Bus oder Bahn nach Malmö zurückfährt. Wie genau, ist noch offen. Am Bahnhof Motala jedenfalls nehmen die Provinzzüge nach Linköping keine Fahrräder mit. Wie es mit Fernzügen aussieht, wissen wir nicht. An den Aushängen am Bahnhof steht auf schwedisch, also schwer für uns zu verstehen, dass man Fahrräder im Bus mitnehmen kann.

Die Busfahrt nach Malmö bzw. Kopenhagen dauert elf Stunden. Weit haben wir es gebracht mit den Rädern.

Collage mit Bildern vom gestrigen Tag.

  

Tag 28 = Tag 0 | Örebro, wir kommen

Heute ging es bei Irgendlink und Ray streckenprofilmäßig ganz schön zur Sache. Sägeblattprofil.

Sie haben südlich von Örebro einen Wildzeltplatz gefunden.

Heute ist Irgendlinks Tag 28 und mein Tag 0. Morgen werden wir drei uns abends in Örebro treffen, auf einem Campingplatz. Noch kann ich es mir zwar kaum vorstellen. Ich freue mich einfach riesig: Die Reise ist das eine, das Wiedersehen mit Irgendlink und Ray das andere.

Doch wie genau die Tagesstrecken-Gute-Nacht-Artikelchen-Service während meiner Schweden-Ferien aussieht, wird sich zeigen. Auf Tablet und Handy ist  Link-Generieren nicht ganz so einfach wie am Rechner. Vielleicht laden wir darum einfach den Nachtplatz-Link hoch, damit ihr dennoch virtuell mitradeln könnt? Mal sehen. Ich werde, so mein Vorsatz, auch bloggen – bei mir drüben. Wer mitlesen will, ist dazu herzlich eingeladen (Link in den Nachbargarten).

Die heutige Ungefähr-Strecke gibt es hier → klicken.

Mit den Tweets des Tages winke ich euch zu, wünsche euch eine gute Zeit und bleibt uns treu … :-)

Örebrooo #AnsKap

SoSo erzählt und sie hat auch Bilder.

Treffpunkt Hauptbahnhof. Gestern 19:14. Wie scheinbar in allen Ländern, die mit Schw beginnen, ist der Zug absolut pünktlich.

Auf dem 340 Kronen teuren Camping Lost City in Gustavsvik sind wir einquartiert. Immerhin zu dritt. Wobei wir die Zeltanzahl verschweigen.

In Schweden bezahlt man in der Regel pro Stellplatz. Ein Zelt, ein Platz. Wenn man lieb guckt, gehen zwei Winzzelte meist aber als ein Platz durch.

Der Campingplatz ist voller norwegischer Caravangespanne. Oslo ist nur vier Stunden entfernt.

Hier eine Bildcollage mit Fotos aus Örebro.

  
Drei Blogartikel hängen noch in der Warteschleife von Herrn Irgendlinks Gehirn.

Motala – es ist nicht wie du denkst, es ist wie du es denken willst #AnsKap

Motala, komm‘ mir nicht mit Motala! Verfluchst du diese Stadt, tapferer Reiserecke? Hat sie das verdient? Hat überhaupt irgendwer oder irgendwas auf der Welt es verdient, dass man ein abschließendes Urteil über ihn oder über es spricht, dass man ein großes Gesamtes wie zum Beispiel eine Stadt, ein Land, ein Volk zusammenfasst in einem kurzen Satz: die Soundso sind soundso. Alle! Durchweg! Durch die Bank! Motala am Ausgang des Götakanals am schwedischen Vätternsee ist soundso?

Zehn Kilometer südwestlich der Stadt überqueren zwei Brücken im Abstand von etwa hundert Metern die Straße und bilden eine kleine graue Arena. Mit ein wenig Phantasie könnte man sich Jubelvolk an den Geländern der Brücke vorstellen oder eine Webkamera, die aufzeichnet, wie monströse Amischlitten und Motorräder unten auf der Straße hin und her jaulen und dabei Reifenspuren hinterlassen. Kreise ziehen und Schlangenlinien.

In Schweden findet man diese Gummispuren auf den Straßen ziemlich oft. Meist sind es hunderte Meter lange Schlangenlinien, die auf blockierte Bremsen an landwirtschaftlichen Anhängern zurückzuführen sind. Der Traktorfahrer versucht mittels kurviger Fahrt die Bremse, die sich nach dem Entladen des Anhängers nicht mehr öffnet, zu entblocken.

Manchmal sind die Spuren aber gekünstelt, Kreisrund etwa wie wenn ein Motorrad mit angezogener Vorderbremse im Kreis jagt.

Ein Volvo mit kaputtem Auspuff jagt an uns vorbei. Das tut weh nach stundenlanger Stille in den Wäldern. Das war Absicht, unterstelle ich ihm. Just, als er auf unserer Höhe ist, tritt er nochmal ordentlich drauf aufs Gaspedal.

Derart vollgepumpt mit Negativeinflüssen, radeln wir rein in die Stadt, man könnte sagen, mit einem Vorurteil im Huckepack.

Ray will auf den Zeltplatz, mal wieder duschen. Wie lange waren wir jetzt wildzeltend unterwegs? Vier Tage?

Der Platz liegt hinter einem Mac Donalds, nicht sehr schön. In der Mitte ein Sportplatz, außenrum die Zelte. Hochsaisonbedingt recht voll. Nervige Typen um 23 Uhr noch einmal alle wach quatschend, das Badhaus in einem Container – ich hatte das glaube ich schon erwähnt – nicht sehr appetitlich riechend aber halbwegs sauber. Kurzum. See statt Dusche wäre fast schöner gewesen.

Die anfänglich schrullige Miss Marple an der Rezeption erweist sich am nächsten Morgen als noch mürrischer, ich würde sagen unfreundlich. 220 Kronen knöpfts sie uns pro Person gnadenlos ab. Erwähne bloß nie, dass du zwei Zelte hast, wenn du auf einem schwedischen Campingplatz unterkommst. Es wird in der Regel pro Platz abgerechnet. Ein Auto, ein Wohnwagen mit Vorzelt samt fünfköpfiger Familie und Hund kostet genauso viel wie du mit deinem Radel und dem Einmannzelt.

Raus aus Motala murmele ich mantrisch, mich über den Preis ärgernd, die gesamte Stadt über einen Kamm scherend.

Auf einer zweiten Spur des Bewusstseins läuft dabei gleichzeitig so eine Art es ist nicht wie du denkst-Formel, es ist wie du es denken willst. Die Stadt ist neutral betrachtet eine Stadt wie jede andere schwedische Stadt auch, aber der sie reflektierende fremde Betrachter kehrt die negativen Erlebnisse nach vorne – nicht nur hier im Blog für Euch liebe Lesenden, sondern so geschickt, dass er es selbst nicht bemerkt auch in seinem Innern, sich selbst gegenüber.

War es nicht wunderbar friedlich im Abendsonnenlicht durch die Stadt zu radeln, die Restaurants auf den Straßen voller murmelnder Menschen und die gemächliche Stille des Bahnhofs und die wuchtige, knallrote Brücke, die den Götakanal überspannt und die vier grillenden Jugendlichen, die uns mit Händen und Füßen den Weg zum Campingplatz erklärten? 

Dem gegenüber steht eine Phalanx neureicher Reihenbauten, vernagelter Gärten, angeführt von einer imaginären Miss Marple im Hercules Poirot Pelz, skurriles Lärmvolk und allwedes Negatives.

Zwanzig Kilometer jenseits der Stadt macht Ray telefonisch seinen Rückfahrtbus nach Kopenhagen klar, während ich zwei Rennradlern aus Motala mein Werkzeug ausleihe, Frieden schließe zwischen Tür und Angel. Wir kommen ins Gespräch über dies und das, das Wetter könnte besser sein und ja, im Duchschnitt radeln wir etwa 14 Kilometer pro Stunde, ans Nodkap geht die Reise, irgendwann und genieß

ße den Sonntag, genieße das Leben.

Belanglos neutral, unwertbar.

Animiert, bespaßt und abgerutscht #AnsKap

Wald, Wald, Wald. Dazwischen das graue Band, das niemals endet. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. In Stadtnähe etwas öfter, als da draußen im Niemandsland. Vereinzelt deuten Briefkastenensembles an ungeteerten Wegabzweigungen darauf hin, dass hinten in den Wäldern Leute wohnen.
Manchmal sind diese Phalanxen zwanzig Meter lang und es hängen zig Kästen daran. Wenn man Glück hat, steht sogar ein Ortsname obendrüber.

Schwedisches Wohnen ist völlig anders organisiert, als etwa deutsches Wohnen. Bis man ins Zentrum selbst einer Kleinstadt vordringt, kann es schon mal eine halbe Stunde dauern. Das Ortsschild steht irgendwo mitten im Grün und du radelst und radelst und radelst und nichts tut sich.

Grün.

  
Manchmal finden sich Infotafeln an der Straße und eine Parkbucht daneben. Dann kann man sich ein Bild machen. Hier ist der „Badplads“, meist ein eintrittsfreies Strandbad an einem See. Dort die Tankstelle. An einem anderen Ort der Supermarkt, die Kirche, das Gemeindehaus, das Hotel, das man hierzulande mit zwei L schreibt.

Örebro sollte eigentlich eine größere Kleinstadt sein. Oder eine kleine Großstadt. Längst sind wir am Flugplatz vorbei und radeln noch immer durch Wald. Da. Ein erstes Gewerbegebiet. Dort, ein Schild Richtung Zentrum. Per GPS steuern wir auf den Campingplatz zu, Ray und ich. Unser letzter Abend wird das, denn ab Örebro hat Ray einen Bus nach Kopenhagen gebucht, der ihn via Oslo bis direkt zum Flugplatz bringt. Fast tausend Kronen kostet der Spaß. Die Fahrt dauert eine ganze Nacht lang, vierzehn Stunden. Über achthundert Kilometer sind wir in den letzten beiden Wochen bis hierher geradelt. Das Land ist riesig. Ans Kap sind es noch mindestens 2500 Kilometer, die mir nun alleine bevorstehen.

Wir erreichen den Campingplatz in Gustafsvik. Wie Bienen schwärmen kolonnenweise Gespanne mit Wohnwagen auf das Schlupfloch. Vor der Einfahrt hat sich nachmittags eine veritable Schlange zum Checkin gebildet. zehn zwanzig Gespanne, meist mit norwegischem Kennzeichen.

Da schnürt es dem einsamkeitsgewöhnten Reiseradler die Kehle zu: wie in einem Ameisenhaufen umwuseln Scharen von Kindern die Rezeption auf Skaterollern und Segways. Wenn dies ein Teilchenbeschleuniger wäre, würde die Erzeugung des ominösen Higgsteilchens unmittelbar bevorstehen, schlimmer noch, auf Grund der hohen Menschendichte, wäre es nicht ausgeschlossen, dass sich hier auf dem Campingplatz neben der „Lost City“ gar ein Schwarzes Loch bildet.

Minigolf. Restaurantkomplex, Souvenirsshops. Ich will da nicht einchecken, sage ich zu Ray. Aber wir sind verabredet mit Frau SoSo, die per Flugzeug, Bahn und Bus abends eintreffen wird. 

Widerwillig ziehe ich eine Nummer und beobachte die Ziffern über den drei Schaltern der Rezeption. Längstens eine Nacht, sage ich mir, halte ich es in diesem Tohuwabohu aus. Erinnerungen werden wach an überfüllte adriatische Campingplätze in den 1980er Jahren. Jeden Abend spielten sie „die Hymne“, ein tiroler Lied, das um 22 Uhr die Nachtruhe einläutete. Minigolf, Federball, nachmittags fuhren Tanklaster mit Sprühkanonen durch die Wohnwagenzeilen und sprühten Gift in die Bäume, damit die Insekten nicht überhand nahmen.

Ganz ähnlich – zumindest was die Wohnwagendichte angeht, gestaltet sich der Platz neben der „Lost City“.

Hinten bei der Zeltplatzwiese, die auf einem Hügel liegt, öffnet sich das Gelände und es wird erstaunlich weit und still. Aufatmen.

SoSo um viertel nach sieben vom Bahnhof abholen.

  
Später sitzen wir, Ray, SoSo und ich im Restaurant, das von einer Art schwedischem Cindy und Bert mit Coverliedern unterhalten wird. Viel zu laut.Sie spielen ein Medley-Quiz. Die Gäste können auf Zetteln ankreuzen, welche Lieder sie erkennen. Wir schleusen uns durchs Fleischbüffet, trinken ein sagenhaft teures, aber leckeres Bier, danach Softeis. Volles Programm.

In der Ladenzeile neben dem Restaurant gibt es alles, was das Herz begehrt. Klamotten, Postkarten,

Spielsalon, Süßigkeiten. Ein drei oder vierjähriger reckt sich hinauf zu den Sirupzapfhähnen und füllt seinen Becher mit allen Sorten, überfüllt ihn.

Vor dem Spielcenter rotten Halbwüchsige, bereit eine Sie-wissen-nicht-was-sie-tun Bande zu bilden. Statt Amischlitten haben sie Roller, sehen gefährlich aus. Das Higgs-Teilchen.

Wir treffen uns bei Sonnenaufgang zum Duell, sage ich scherzend zu Ray, hier auf dem Minigolfplatz.

Die Animation ist in vollem Gange. Mitten im Gelände gibt es einen Autowaschplatz, der sich größter Beliebtheit erfreut. Dort kann man – natürlich kostenlos, das Zugfahrzeug waschen, das Enduromotorrad, das Huckepack auf einem Gepäckträger mit dabei ist, die Fahrräder, den Quad, den Wohnwagen, den Hund, alles. 25 Millionen stehen hier auf dem Platz rum, schätze ich flappsig. Autos, Caravans, Wohnmobile, Spaßbedarf.

Tagsdrauf – das Minigolfduell haben wir uns gespart – verabschieden wir Ray am Busbahnhof. Er konnte in einem Fahrradgeschäft einen Karton finden, in dem er sein Rad und alle Packtaschen verstaute. Mit Mühe und Not passte es in den Bauch des Oslo-Busses. 888 the number of the bus.

Obwohl der Platz mit 340 Kronen sauteuer ist, bleiben wir eine weitere Nacht, kaufen uns sozusagen von der Hektik und dem Stress des neuer-Platz-suchens frei.

Warum der Platz so teuer ist, dürfen wir am nächsten Tag erfahren: in der Campinggebühr ist der Eintritt zum Spaßbad „Lost City“ inbegriffen. Das heißt, eine Familie mit zwei Kindern kann auf dem Campingplatz leben für 340 Kronen und alle Bespaßungen gratis in Anspruch nehmen. Bedenkt man, dass der Eintritt zum Bad alleine bei 160 Kronen pro Erwachsenem liegt, ein guter Deal.

Für Familien ist dieser Platz sicher das Paradies. Auch Typen wie ich, die immer wieder aufs Neue das Kind in sich entdecken, kommen auf den bombastischen Riesenrutschen im Spaßbad voll auf ihre Kosten.