Vom Lago Maggiore ins Tal der hundert Täler

Der kleine Zeltplatz in Vira am Lago Maggiore ist ein kleines Paradies. Dies noch zu topen hätte ich nicht für möglich gehalten. Nur fünf Minuten dauert es direkt am See spazierend bis zum Schiffsanleger von Vira. Auch hier entdecken wir eine Art Zwischenwelt, die sich dem Autotouristen nur schwer preisgibt. Jenseits von Kirche und Wohnhäusern brodelt die Straße. Mit dem Schiff geht es um 12:25 via Magadino nach Locarno, das wie die Fenster einer Kathedrale in die Wälder an den Berghängen gebaut scheint. Rundbogenförmige Ausweitungen über einer geschätzt drei Kilometer langen Grundmauer aus Stadt. Wor besteigen eine italienische Personenfähre, die nur zwei dreimal am Tag in Vira hält. In Locarno besorgen wir Lebensmittel und Schnur für die abends zuvor gebrochene, notdürftig geflickte Zeltstange und navigieren per Handy hinaus zum Wanderweg, der erstam Flüsschen Maggia beginnt. Ein bisschen fühlt sich das Hinauswandern aus Locarno an, wie das Hinauswandern aus Leon auf dem Camino. Stadtwandern, Friedhof, Kirchlein, Verirrungen, Himmelsrichtung, doch noch hinausfinden und zwar nicht ganz so heruntergekommen, wie Leon mit seiner verlassenen Vorstadtödnis.
Am Fluss nehmen wir den linksuferigen Weg, der sich über Stock und Stein durch eine Art Palmenurwald windet. Flussbaden, eiskalt. Der Weg endet abrupt bei einigen Privathäusern. Wir ackern eine Treppe hinauf, vorbei an einer Gartentür und an einem Spalt, der in einen Privatkeller zu führen scheint, stehn plötzlich vor der Mauer, die die Straße stützt, drei Meter hoch, Sackgasse, zurück zum Fluss, nächster Privatgarten, die Straße vor Augen, Zickzacktrrppen hinauf, dieses Mal mit Erfolg. Bei der Vasa Pagnini erreichen wir die Via Cantonale. Noch anderthalb Kilometer bis Ponte Brolla, in halbmeter Abständen zischt der Feierabendverkehr an uns vorbei. Italienisch impulsiv, dennoch „sicher“.
Bis Verscio folgen wir der Straße dann auf Gehwegen und landen kurz hinterm Dorf, Ausgeburt der Zwischenwelt, in einer sandigen Bucht am glasklaren Onsernone, der hinaufführt ins Centovalli, das Tal der hundert Täler.
Tippfehler lasse ich im Artikel, da der Datenpass um kurz nach elf abläuft.
Panorama vom Onsernone Fluss im Centovalli. Blick nach Süden.

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Halbfinale, spartanisch live übertragen

Die Fußball EM 2012 fand auf dem Nordseeradweg statt. In Schweden, Dänemark, Deutschland und ich glaube, das Finale fand in Holland statt. Als reisender Radler oder Wanderer kriegt man von der Außenwelt kaum etwas mit. Ach das Leben, so langsam in friedlichem Kokon. Täglich bewegt der Kokon sich ein Stückchen weiter durch die Territorien. Abgeschnitten von den Medien. Fetzenweise und unvollständig sind dementsprechend die Informationen. Auf schwedisch die Vorrunde, auf dänisch das Achtelfinale, ein trauriger Aufschrei, fern hinter einer Hecke, windverkündet, das Ausscheiden der deutschen Mannschschaft. 2012 wohlgemerkt.
Grob halten wir uns per Liveticker via Internet auf dem Laufenden, wer wann wie wo gewinnt, ausscheidet, weiterkommt. „Deutschland demütigt Brasilien „und „sieben zu eins“ und „Ausschreitungen in Sao Paulo“ dringt häppchenweise der Einzug der Nationalelf ins Finale zu uns durch. Un-glaub-liche 7:1! Ohne Elfmeterschießen!
Letzte Nacht erwache ich auf dem Zeltplatz in Vira durch verhaltenes Jubeln. Drei Männer im stillen Public Viewing. Halb Eins. Sehr leise dringt eine Art Fußballmoderation durch. Ich spitze die Ohren, stückweise Berichterstattung. Argentinien im Finale, höre ich, mehr nicht. Dann schalten die Männer den iPad aus und begeben sich in ihre Zelte. Einer von ihnen ist unser direkter Nachbar. Der Mann im roten Zelt, nur knapp drei Meter nebenan. Luftmatratzenknarzen und eine verschlafene Frau, die etwas murmelt, worauf er antwortet zwei zu null. Mehr kann ich nicht verstehen. Und sicher bin ich mir auch nicht, ob ich gerade eben das zweite Fußballhalbfinale in einer spartanischen Liveübertragung erlebt habe.

Lochstreifenwandern am Ticino

Der unheimliche Typ, der mit dem Pickup auf uns zurast, kommt gerade recht. Ein bärtiger, düster aussehender Kerl wie aus einem skandinavischen Krimi, der womöglich gerade Leichen in einer Kiesgrube entsorgt hat. Der Wanderweg entlang des Ticino führt schnurgerade neben dem Hochwasserdamm Richtung Magadino am Lago Maggiore. Laaangweilig, sage ich zur SoSo und setze müde Fuß vor Fuß. Wir erfinden Geschichten. Zum Beispiel, dass die vielen Pfützen auf den beiden geschotterten Fahrstreifen rechts und links des Grases in der Mitte des Wegs, einen geheimnisvollen Code enthalten. Wie ein Lochstreifencode muss das von oben aussehen. Dieser Weg enthält wichtige Informationen! Und natürlich unser düsterer, bärtiger, grobschlächtiger Geselle mit dem Pickup und den Leichen (eigentlich sieht er ja ganz normal aus, hat garkeinen Bart, geschweige denn aufgerollte Teppiche auf der Pritsche, aber die Phantasie blüht). Ganz nah an den Damm müssen wir uns quetschen, damit er auf dem schmalen Feldweg passieren kann. Wir haben Glück, dass er uns nicht auch noch ermordet, so als Zeugen, sagt die SoSo. Vielleicht gehört er ja zu einer Dynastie von Mördern, die seit Jahrhunderten diesen Weg auf und ab fahren, ihre Opfer wegbringen, von Typen wie uns ertappt werden, diese Zeugen auch noch beseitigen, um die Tat zu vertuschen und so weiter und so fort, Ertapptwerden und Vertuschen als Familienfluch sozusagen? So vergehen die acht bis zehn Kilometer im geraden, grünen Nichts jenseits der Berge, obschon der Weg ja wunderschön ist, aber in Gedanken an ein Bad im Lago und die zurückliegende, bombastische Alpenüberquerung, fällt die Strecke ein bisschen durchs Raster. Rurale Überstimulation, die ein normales Wandererleben verunmöglicht? Den See erreichen wir durch das Naturschutzgebiet Bolle, stehen plötzlich vorm Yachthafen Magadino, der so gar nicht in das Idyll passen will, das ein bisschen so aussieht, wie man sich die Sümpfe von Florida vorstellt.
Magadino gibt sich hektisch. Linienbusse, Polizeistation, Minigolf. Touristen. Yachten werden zu Wasser gelassen, im Akkord fährt ein Trucker des Hafens die Trailer rückwärts eine Rampe hinunter in der See, lässt die Boote los und holt andere aus dem See. Sonnenbebrillter Typ. Badestrand nebenan. Vor einem Denkmal mit dem Titel Montagne, das aussieht wie drei parallel gestellte, überdimensionierte rustikale Grabsteine rasten wir, schauen dem Treiben zu, baden, entern das freie WLAN. Später dann Einkauf in einem liebevoll sortierten, gut duftenden Gemüseladen. Die Besitzerin empfiehlt uns den Zeltplatz von Vira, zwei Kilometer am See entlang. Unsere Idee, im Park beim Yachtclub zu zelten sei nicht gut, zu viele dubiose Gestalten treiben sich hier herum während der Ferienzeit. Sie stimmt ein in das Lied, das schon die Urner sangen, das Böse kommt von außen. Ein Bisschen glaube ich das sogar. Die dörfliche Mikrogesellschaft, wie ich sie von Früher in der Nordpfalz kenne, ist so gleichsam familiär, wie auch misstrauisch gegenüber dem Fremden. Dennoch fühlen wir beiden Fremden uns hier herzlich willkommen.
Die Rezeption des Zeltplatzes besteht aus einem Zettel, auf dem geschrieben steht, bitte bauen Sie Ihr Zelt auf der Zeltplatzwiese auf oder stellen Sie den Wohnwagen im Wohnwagenbereich ab. Winziger Platz direkt am Strand, jenseits einer Hecke lugen hölzerne Osterinselskulpturen.

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Handzahme Schwäne, Spatzen und Enten direkt vorm Zelt.

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Lago Maggiore

Ankunft am Lago Maggiore. Vielleicht die längste Etappe in den letzten vierzehn Tagen auf unserer Schweizdurchwanderung. Schnurgerade führt der Wanderweg auf dem Damm am Fluss Ticino (sprich Tietschieno) entlang und mündet in ein riesiges Naturschutzgebiet am See bei Magadino.

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Reisekunst

Hinschauen, innehalten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen. Den Blick schulen. Sich auch mal dem scheinbar Belanglosen widmen.
Sechzehn Instanzen der abgewitterten Lasur einer Scheune am Gotthard, mit Hipstamatik hochkontrastig in Szene gesetzt.

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The Beautiful End Of The Cow

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Neun Kuhfladen, hipstamatisiert

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Rasenstücke, achtlos arrangiert vor einem Fahrradladen in Giubiasco

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Reisen heißt für den Künstler Blick schulen, loslassen, Neues integrieren, Altes über Bord werfen. Die Zeit wirken lassen. Sich Entwicklung gönnen.