Camping Skudenes bis Fähre dauert zehn Minuten per Rad. Ich schaffe die 9:10 Uhr-Fähre. Seit der Sommer eingekehrt ist, erlebe ich so etwas ähnliches wie Nacht nur noch zwischen 23 und 4 Uhr. Herrlich. Gut anderthalb Stunden dauert die Überfahrt. Am gegenüberliegenden Fährhafen treffe ich ein deutsches Radlerpaar auf dem Weg nach Bergen. Sie berichten weniger erfreuliche Dinge: dass die Gegend zwischen Larvik, wo sie gestartet sind und Kristiansand ganz im Süden nicht so doll wäre, die sie sich sparen würden, von ausgebuchten Hotels in Stavanger erzählen sie und von alpinen Streckenstücken. Von garstigen Straßen. Usw. Wie das eben so ist, wenn man eine hunderte Kilomerter lange Radlerstrecke in ein paar Sätzen skizziert.
Ich schwärme ihnen von meiner Blümchenwelt seit Bergen vor, verunschöne Schottland und England mit Schlechtwetter, würze Frankreich und Belgien mit vorfrühlinghafter Stimmung – et voilà.
Über Seitenstraßen, die schlecht mit dem Radweg Nummer 1-Schild gekennzeichnet sind, erreiche ich unter Zuhilfenahme des GPS Stavanger. Phantastisches Städtchen, ca 120.000 Einwohner, die sich weitflächig über Inseln und im Hinterland der Fjorde verteilen. Um fünfzehn Uhr treffe ich Brian, den Sohn von Georges, der den Basistext des Projekts ins Dänische übersetzt hat.
Stadtführung und gemütliches Kennenlernen. Stavanger hat eine zweigegliederte Altstadt, die sich auf beiden Seiten des Hafens erstreckt. Enge Treppen, Holzhäuser wie in Skudenes, aber das Zwei-Altstädte-Bild wird etwas „verunharmonischt“ durch Neubauten an den Hängen und ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das im Hafen liegt.
Wir kaufen Fisch – im frisch umgebauten Haus nördlich der Stadt kredenzen wir lecker Essen. Herrlicher Blick aus der zum Fjord hin verglasten Wohnzimmerfront. Im Fjord liegt eine Ölplattform zu Reparatur. Schiffe kreuzen, drücken keilförmige Formen in die Wasserfläche. Alleine das Spiel der Schiffe auf dem Fjord zu beobachten, könnte eine Lebensaufgabe sein.
Ich beschließe, einen Tag hier zu bleiben, um die Stadt näher zu begutachten und nachmittags, wenn Brian frei hat, wollen wir den Berg besteigen, dessen Namen ich immer vergesse. Er heißt Preikostolen.
Im Hafen liegen morgens plötzlich zwei Kreuzfahrtschiffe. Die Queen Victoria und die Pullmantur. Wollen mal hoffen, dass es sich nicht so verhält wie mit dem Schachbrett und dem Reiskorn. Bei dem alten chinesischen Denkspiel legt man auf das erste Feld des Schachbretts ein Reiskorn, das sich von Feld zu Feld verdoppelt: erst zwei, dann vier, dann acht und so weiter, bis wir im Hafen von Stavanger ein Heidenchaos an Kreuzfahrtdampfern hätten. Ohnehin müht sich gerade die Rokaland, die für sich alleine schon ein rechter Klotz ist, aber zwischen den beiden mit Lustpassagieren vollgepumpten Pötten wie ein Winzling wirkt, in der Enge der Fahrrinne zu wenden. Ein Mann, mit einem Fähnchen winkend, auf dem 08 gemalt ist, läuft vor einer Touristengruppe, gut 30 Menschen – die Lemminge von 08 scharwenzeln vor mir über den Zebrastreifen. Ich schlussfolgere, dass auch die Lemminge von 01 bis 99 irgendwo in der Stadt unterwegs sind. Wie lange wird der Stau, wenn sie alle gleichzeitig, quasi als eine Phalanx aus Lemmingen, den Zebrastreifen überqueren. In Norwegen nimmt man Zebrastreifen sehr sehr ernst.
Fünf bis acht Jungs, gefolgt von fünf Mädchen tragen ein Schlauchboot über die Kaimauer. Vor der Skyline aus Luxusdampfern sieht das aus wie Enten im Park. Busse mit offenen Fenstern karren Touristen durch die Stadt. So ähnlich müssen die Datenpakete, die Byteweise im Internet versendet werden, aussehen. Gebündelte Formationen aus Einsen und Nullen, die als Informationsträger, keiner weiß wie, vom Ursprungsort zum Bestimmungsort gelangen. Ha. Ich phantasiere.
Weiter weiter weiter, driften in der Stadt. Ich besuche eine Galerie, beeindruckende Ausstellung in Schwarz-Weiß. Vier verschiedene KünstlerInnen aus Schweden, Norwegen und Finnland. Eine Frau aus Bergen hat etwas mit Schachbrett kreiert. Und morbide Äste mit schwarzem Samt beflockt. Granit baumelt als Pendel neben einem Notizbuch, in dem auf jede Seite nur ein Satz geschrieben ist, den ich in meinem kindlichen Ratenorwegisch als „Wo ist Deine Neugier?“ übersetze.
Später ruhe ich in einem Park zwischen einem Kinderspielplatz und einem Friedhof. Eine junge Mutter versucht, ihr jüngstes Kind zu fotografieren. Sie redet Englisch. Das Kind kann kaum gehen und schaut nie in die Kamera. Die ältere Schwester, vielleicht fünf, versucht, die Aufmerksamkeit der Mama zu erregen, indem sie waghalsige Schaukelkunststücke provoziert und ruft und lacht und mit sich selbst redet. Für eine 125telsekunde gönnt die Mama der Älteren einen Blick durch den Sucher, um sodann die Kleine mit „Wuff Wuff“ und „Oink Oink, hrch hrch“ und anderen Geräuschen vor den Sucher zu kriegen. Faszinierend.
Ich hole Ray am Dom ab und wir treffen Brian nach der Arbeit. Mit dem Auto nehmen wir die Fähre nach Tau, parken auf dem Besucherparkplatz des Preikostolen. Die Spätschicht. Das Besucherzentrum liegt nur 3,6 km und etwa 450 Höhenmeter von dem Felsen entfernt. Voller Menschen international: vier Spanier muss Brian vor dem Hinweisschild zum Felsen fotografieren. Allerherrenländerstimmen. Leckeis und Cola. Ich sage Spätschicht. Wir können von Glück reden. Vermutlich treffen wir gerade den Inhalt der beiden Kreuzfahrtschiffe, die sich schon morgens dort hinauf geackert haben.
Der Weg führt über drei „Stufen“, die steil durch Geröllhalden ansteigen. Kein einfaches Wanderterrain. Die Dramaturgie des Weges könnte von Dürrenmatt stammen. Harmonisch sanft sich steigernd mit weiter, schöner, besser werdenden Aussischten, ein Gebrigssee auf zwei Dritteln der Strecke. Noch immer kommen uns die Nachzügler der Frühschicht entgegen: müde französische Mädchen, baßerstaunte bärtige Russen, eine Gruppe von fünf Jungs in knallengen Björn-Borg-Hosen, in denen sich die Penisse markant abzeichnen. Deutlich kann man die Links- von den Rechtsträgern unterscheiden. Vermutlich die Crew eines Pornodrehs zu „The Prude Preikostolen Prick“, der von fünf unschuldigen Jungs aus dem Gudbrandsdal handelt, die allesamt ihre Unschuld auf dem kahlen, nackten, lasziven Felsen verlieren. Hatte ich erwähnt, dass keiner von ihnen auch nur ein Haar auf der Brust hatte? Ganzrasur.
Kurz später zwei Shaolin-Mönche, so dass es mir langsam seltsam vorkommt. „Die Kralle des Drachens Teil 3“. Wie viele Filmteams erwarten uns da oben? Fehlt nur noch, dass Lex Barker von den Toten aufsteht, er und sein Bärentöter. Hough. Das Bloggesicht spricht mit gespaltener Zunge. Brian mutiert mittlerweile zu „Mein roter Bruder“. Die Sonne setzt insbesondere den Knöcheln zu.
Der Berg, dessen Namen ich immer vergesse, ist eine fußballfeldgroße Felsfläche, die senkrecht in den Fjord fällt. Wir picknicken die Sandwiches, die uns Lil, Brians Frau, gebaut hat, beobachten das internationale Treiben. Die erwarteten Filmteams sind uns erspart geblieben. Brian munkelt jedoch, dass demnächst ein Bollywood-Film vor dieser Kulisse gedreht werden soll. Vielleicht.
Beim Abstieg begegnen wir der Nachtschicht, Jungs und Mädels, die mit vollbepackten Rucksäcken, alles mitschleppen, was man für eine Nacht auf dem Felsen benötigt. Gut acht Stunden dauert der Trip mit An- und Abreise von Stavanger.
Kurz vor zehn Uhr checke ich auf dem Campingplatz am Mosvangen ein, kaum fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt. Zwischen See und E39 gelegen, ist der Platz zwar idyllisch, aber die Hauptstraße ist fürs Zelten doch ein bisschen zu nahe.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)