Stavanger

Camping Skudenes bis Fähre dauert zehn Minuten per Rad. Ich schaffe die 9:10 Uhr-Fähre. Seit der Sommer eingekehrt ist, erlebe ich so etwas ähnliches wie Nacht nur noch zwischen 23 und 4 Uhr. Herrlich. Gut anderthalb Stunden dauert die Überfahrt. Am gegenüberliegenden Fährhafen treffe ich ein deutsches Radlerpaar auf dem Weg nach Bergen. Sie berichten weniger erfreuliche Dinge: dass die Gegend zwischen Larvik, wo sie gestartet sind und Kristiansand ganz im Süden nicht so doll wäre, die sie sich sparen würden, von ausgebuchten Hotels in Stavanger erzählen sie und von alpinen Streckenstücken. Von garstigen Straßen. Usw. Wie das eben so ist, wenn man eine hunderte Kilomerter lange Radlerstrecke in ein paar Sätzen skizziert.

Ich schwärme ihnen von meiner Blümchenwelt seit Bergen vor, verunschöne Schottland und England mit Schlechtwetter, würze Frankreich und Belgien mit vorfrühlinghafter Stimmung – et voilà.

Über Seitenstraßen, die schlecht mit dem Radweg Nummer 1-Schild gekennzeichnet sind, erreiche ich unter Zuhilfenahme des GPS Stavanger. Phantastisches Städtchen, ca 120.000 Einwohner, die sich weitflächig über Inseln und im Hinterland der Fjorde verteilen. Um fünfzehn Uhr treffe ich Brian, den Sohn von Georges, der den Basistext des Projekts ins Dänische übersetzt hat.

Stadtführung und gemütliches Kennenlernen. Stavanger hat eine zweigegliederte Altstadt, die sich auf beiden Seiten des Hafens erstreckt. Enge Treppen, Holzhäuser wie in Skudenes, aber das Zwei-Altstädte-Bild wird etwas „verunharmonischt“ durch Neubauten an den Hängen und ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das im Hafen liegt.

Wir kaufen Fisch – im frisch umgebauten Haus nördlich der Stadt kredenzen wir lecker Essen. Herrlicher Blick aus der zum Fjord hin verglasten Wohnzimmerfront. Im Fjord liegt eine Ölplattform zu Reparatur. Schiffe kreuzen, drücken keilförmige Formen in die Wasserfläche. Alleine das Spiel der Schiffe auf dem Fjord zu beobachten, könnte eine Lebensaufgabe sein.

Ich beschließe, einen Tag hier zu bleiben, um die Stadt näher zu begutachten und nachmittags, wenn Brian frei hat, wollen wir den Berg besteigen, dessen Namen ich immer vergesse. Er heißt Preikostolen.

Im Hafen liegen morgens plötzlich zwei Kreuzfahrtschiffe. Die Queen Victoria und die Pullmantur. Wollen mal hoffen, dass es sich nicht so verhält wie mit dem Schachbrett und dem Reiskorn. Bei dem alten chinesischen Denkspiel legt man auf das erste Feld des Schachbretts ein Reiskorn, das sich von Feld zu Feld verdoppelt: erst zwei, dann vier, dann acht und so weiter, bis wir im Hafen von Stavanger ein Heidenchaos an Kreuzfahrtdampfern hätten. Ohnehin müht sich gerade die Rokaland, die für sich alleine schon ein rechter Klotz ist, aber zwischen den beiden mit Lustpassagieren vollgepumpten Pötten wie ein Winzling wirkt, in der Enge der Fahrrinne zu wenden. Ein Mann, mit einem Fähnchen winkend, auf dem 08 gemalt ist, läuft vor einer Touristengruppe, gut 30 Menschen – die Lemminge von 08 scharwenzeln vor mir über den Zebrastreifen. Ich schlussfolgere, dass auch die Lemminge von 01 bis 99 irgendwo in der Stadt unterwegs sind. Wie lange wird der Stau, wenn sie alle gleichzeitig, quasi als eine Phalanx aus Lemmingen, den Zebrastreifen überqueren. In Norwegen nimmt man Zebrastreifen sehr sehr ernst.

Fünf bis acht Jungs, gefolgt von fünf Mädchen tragen ein Schlauchboot über die Kaimauer. Vor der Skyline aus Luxusdampfern sieht das aus wie Enten im Park. Busse mit offenen Fenstern karren Touristen durch die Stadt. So ähnlich müssen die Datenpakete, die Byteweise im Internet versendet werden, aussehen. Gebündelte Formationen aus Einsen und Nullen, die als Informationsträger, keiner weiß wie, vom Ursprungsort zum Bestimmungsort gelangen. Ha. Ich phantasiere.

Weiter weiter weiter, driften in der Stadt. Ich besuche eine Galerie, beeindruckende Ausstellung in Schwarz-Weiß. Vier verschiedene KünstlerInnen aus Schweden, Norwegen und Finnland. Eine Frau aus Bergen hat etwas mit Schachbrett kreiert. Und morbide Äste mit schwarzem Samt beflockt. Granit baumelt als Pendel neben einem Notizbuch, in dem auf jede Seite nur ein Satz geschrieben ist, den ich in meinem kindlichen Ratenorwegisch als „Wo ist Deine Neugier?“ übersetze.

Später ruhe ich in einem Park zwischen einem Kinderspielplatz und einem Friedhof. Eine junge Mutter versucht, ihr jüngstes Kind zu fotografieren. Sie redet Englisch. Das Kind kann kaum gehen und schaut nie in die Kamera. Die ältere Schwester, vielleicht fünf, versucht, die Aufmerksamkeit der Mama zu erregen, indem sie waghalsige Schaukelkunststücke provoziert und ruft und lacht und mit sich selbst redet. Für eine 125telsekunde gönnt die Mama der Älteren einen Blick durch den Sucher, um sodann die Kleine mit „Wuff Wuff“ und „Oink Oink, hrch hrch“ und anderen Geräuschen vor den Sucher zu kriegen. Faszinierend.

Ich hole Ray am Dom ab und wir treffen Brian nach der Arbeit. Mit dem Auto nehmen wir die Fähre nach Tau, parken auf dem Besucherparkplatz des Preikostolen. Die Spätschicht. Das Besucherzentrum liegt nur 3,6 km und etwa 450 Höhenmeter von dem Felsen entfernt. Voller Menschen international: vier Spanier muss Brian vor dem Hinweisschild zum Felsen fotografieren. Allerherrenländerstimmen. Leckeis und Cola. Ich sage Spätschicht. Wir können von Glück reden. Vermutlich treffen wir gerade den Inhalt der beiden Kreuzfahrtschiffe, die sich schon morgens dort hinauf geackert haben.

Der Weg führt über drei „Stufen“, die steil durch Geröllhalden ansteigen. Kein einfaches Wanderterrain. Die Dramaturgie des Weges könnte von Dürrenmatt stammen. Harmonisch sanft sich steigernd mit weiter, schöner, besser werdenden Aussischten, ein Gebrigssee auf zwei Dritteln der Strecke. Noch immer kommen uns die Nachzügler der Frühschicht entgegen: müde französische Mädchen, baßerstaunte bärtige Russen, eine Gruppe von fünf Jungs in knallengen Björn-Borg-Hosen, in denen sich die Penisse markant abzeichnen. Deutlich kann man die Links- von den Rechtsträgern unterscheiden. Vermutlich die Crew eines Pornodrehs zu „The Prude Preikostolen Prick“, der von fünf unschuldigen Jungs aus dem Gudbrandsdal handelt, die allesamt ihre Unschuld auf dem kahlen, nackten, lasziven Felsen verlieren. Hatte ich erwähnt, dass keiner von ihnen auch nur ein Haar auf der Brust hatte? Ganzrasur.

Kurz später zwei Shaolin-Mönche, so dass es mir langsam seltsam vorkommt. „Die Kralle des Drachens Teil 3“. Wie viele Filmteams erwarten uns da oben? Fehlt nur noch, dass Lex Barker von den Toten aufsteht, er und sein Bärentöter. Hough. Das Bloggesicht spricht mit gespaltener Zunge. Brian mutiert mittlerweile zu „Mein roter Bruder“. Die Sonne setzt insbesondere den Knöcheln zu.

Der Berg, dessen Namen ich immer vergesse, ist eine fußballfeldgroße Felsfläche, die senkrecht in den Fjord fällt. Wir picknicken die Sandwiches, die uns Lil, Brians Frau, gebaut hat, beobachten das internationale Treiben. Die erwarteten Filmteams sind uns erspart geblieben. Brian munkelt jedoch, dass demnächst ein Bollywood-Film vor dieser Kulisse gedreht werden soll. Vielleicht.

Beim Abstieg begegnen wir der Nachtschicht, Jungs und Mädels, die mit vollbepackten Rucksäcken, alles mitschleppen, was man für eine Nacht auf dem Felsen benötigt. Gut acht Stunden dauert der Trip mit An- und Abreise von Stavanger.

Kurz vor zehn Uhr checke ich auf dem Campingplatz am Mosvangen ein, kaum fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt. Zwischen See und E39 gelegen, ist der Platz zwar idyllisch, aber die Hauptstraße ist fürs Zelten doch ein bisschen zu nahe.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Kumulierte Belichtungszeit vor Edinburgh Casle

„Relax with a tankard of ale by the fire in a pub and try the drover’s own beer.“ (Aus : Visit Scotland – What to see and what to do 2012-13, Perthshire, Angus & Dundee)

Weit jenseits der schottischen Grenze kurbele ich durch ein ganz und gar nicht schottisch anmutendes Gebiet, kahles Hügelland, menschenleere Vorstadt, schicke Neubauten, die ein bisschen an die kleine Stadt Pajala an der schwedisch-finnischen Grenze erinnern. Hinter Betonmauern verbergen sich ferngeheizte Mietwohnungen, im Keller eine Gemeinschaftssauna, Shop an der Tankstelle, so erlebt auf dem Kapschnitt zusammen mit Freund QQlka 1995.

Das Gebiet um Dunfermline erinnert ein bisschen daran. Ich habe Edinburgh über wenig bis mäßig befahrene Stadtstraßen verlassen. Das geplante Sightseeing bis zum Nachmittag ist etwas dürftig ausgefallen, weil ich mich mit den Leuten von Haggis nicht über die Gepäckaufbewahrungsgebühr einigen konnte. 2 Pfund pro Stück hätten sie verlangt, was inclusive Rad 14 Pfund bedeutet hätte. Dafür hätte es sogar schon eine Nacht in der billigsten Absteige der Stadt gegeben. Wir feilschen und wären uns bei 6 Pfund einig geworden. Für drei bis vier Stunden wertlose Dinge irgendwo rumliegen lassen? Meine Sturheit. Es geht ja gar nicht ums Geld. Wifi für 3 Pfund am Tag. Fletcheresque!

Außer den Wunderwerken an Duschen und, ach ja, jemand hatte auch die Matratzen des Haggis gepriesen als Technik, die dem 25ten Jahrhundert entspräche, hat das Haggis nichts zu bieten. Ich hoffe, dieser Bericht landet nicht im großen Ordner mit den lobhudelnden, jugendhostelverherrlichenden Propangandamaterialien, die sie im Leseraum horten.

Mit gepacktem Fahrrad morgendliches Edinburgh im Schnelldurchgang. Ich setze die Stadt auf meine Liste der zu fotografierenden Städte dieser Welt, weil sie so wunderbare Artefakte, Details, dreistellige Hausnummern etc. vorhält. Architektur opulentest. Humes-Denkmal, drei Telefonzellen, Spiegelkabinett, zwei Telefonzellen, zwischen die sich japanische Touristen quetschen und sich von Freunden fotografieren lassen, Schottenrockläden, Tand. Containerweise werden im Hafen billig produzierte original schottische Plastik-Souvenirs, Dudelsäcke, Dosen voller Haggis, Whiskyflaschenhalsbändchen, Röcke, Röcke, Röcke angeliefert. Eine „echte“ Wolldecke, die in China für 10 Cent produziert wird, kostet im Laden 10 Pfund. Ein Fotograf mit einem solllllchen Objektiv wartet vor dem Castle auf das richtige Licht. Immer wieder peilt er mit dem Daumen, während um ihn ein Gewusel aus immer gleich ablaufenden Stell-dich-mal-vors-Schloss,-ich-mach-mal-ein-Bildchens abläuft. Wenn man alle 100stel Sekunden, die pro Stunde vor dem Schloss ein Bild belichtet wird zusammenrechnet, wie lange wäre dann die kumulierte Belichtungszeit in einer durchschnittlichen Stunde vor dem Edinburgh Castle an einem Freitagmorgen im Mai.

Kojanis Kazi (weiß nicht, wie man das richtig schreibt), jener 70er-Jahre-Film*, der so intensiv mit Zeitraffern und Zeitlupe arbeitet, kommt mir in den Sinn. Als ich etliche 100stel Sekunden Schloss mit dem iPhone belichtet habe, steht mein wachsamer Fotograf mit dem riesigen Objektiv noch immer bewegungslos mit dem Daumen peilend vor dem Schloss. Ich mache Selbstportraits vor den Lock-Spiegeln, die sie in die Mauern des Spiegelkabinetts eingelassen haben, komme zu dem Schluss, das ganze Leben ist ein Zerrbild. Je nachdem, wie du es betrachtest, längt sich das eine Element, kürzt sich das andere, winden sich wieder andere, schränken, quirlen, sprialisieren, dehnen und zwängen sich unsere Sichtweisen. Vielleicht funktionieren andere Menschen wie Spiegel. Individuelle Oberfläche – individuelle Projektion der Erlebnisse.

Edinburgh mit dem Fahrrad verlassen, darüber wollte ich schreiben: die Radwegbeschilderung ist lückenhaft. Ohne GPS-Track auf dem iPhone wäre ich aufgeschmissen. Am westlichen Stadtrand gibt es für ein paar Meilen einen Bahntrassenradweg, der erstaunlich gut geteert ist. Wie im übrigen mir die Straßen Schottlands etwas besser vorkommen, als die englischen. Ab Cramond beginnt das Straßengemetzel, das über Queensferry und die M90 Autobahnbrücke bis hinter Dunfermline anhält. Es gibt zwar Radwege, aber es macht keinen Spaß, direkt neben der Autobahn zu fahren. Die Autobahnbrücke vibriert ohne Ende, so stark rütteln die Schwerlaster an der Hängebrücke. Prima Aussicht auf die Eisenbahnbrücke, die einen halben Kilometer westlich den Forth of Firth oder den Firth of Forth überspannt. Jene imposante Stahlkonstruktion.

Ab dem Haus-See oberhalb von Dunfermline bei Townhill wird es ruhiger. Bei eisigem Nordwind stets berghoch. Ein Wanderer mutmaßt, dass es im Norden sogar schneien könnte, so kalt sei es. Um die Steigung bin ich froh. Sie wärmt. Die Sonne setzt sich nachmittags durch. Menschenleere Gegend, Kiefern, Tannen und Lärchen oder heißt es Lerchen – gemeint ist der Baum. Gegen 18 Uhr beschleicht mich der Gedanke, dass ich vielleicht wild zelten muss, so menschenleer ist es hier. Plätze gäbe es genug. Zwar sind die Weiden hier auch eingezäunt, aber im Gegensatz zum englischen Zaun, der die Aufgabe hat, etwas, das von außen kommt, zu hindern, reinzukommen, ist der schottische Zaun einer, der verhindert, dass etwas, das drinnen ist, raus kann. Kleine Zaunphilosophie berghoch. Was bedeutet das im übertragenen Sinn für den menschlichen Charakter? Wir alle müssen uns ja gegen unsere Umwelt abgrenzen. Somit sind wir alle von imaginären, selbst geschusterten Zäunen umgeben. Welche Aufgabe haben die? Natürlich müssen sie beides können: das Böse von außen abhalten, das geheime von innen nicht sichtbar werden lassen. Die hochtechnische Membran meiner familienhausteuren gelben Regenjacke kommt mir in den Sinn. Sie hält den Regen ab, lässt aber Dampf hinaus. Sie hält den Wind ab. Das ist an diesem 38. Reisetag besonders wichtig.

Ich klettere immer weiter berghoch, meist im drittten bis ersten Gang, obwohl die Steigung kaum nach Steigung aussieht und das ist besonders fies. Kinross ist lange Zeit mit 11 Meilen ausgeschildert, dann mit 12 Meilen, dann mit 9, 8 und so weiter. Auf Entfernungsangaben, insbesondere auf Radwegschildern kann man nicht zählen. Bösen Stimmen zufolge liegt im Hafen von Edinburgh ein Containerschiff mit 12 Meilen bis da und dort Schildern, die man für einen Spottpreis in Hongkong gekauft hat. Das könnte erklären, warum in der Enternung von 15 bis 10 Meilen bis wo auch immer sich die 12 Meilen Schilder häufen. I’m kidding.

Ab dem Loch Glow geht es wieder abwärts. Rasant. Straßenbreite 2,50 Meter, was bedeutet, dass ich sogar als Radler an den Ausweichstellen stoppen muss, wenn mal jemand mit dem Auto entgegen kommt. Kinross gegen 20 Uhr. Laden mit langen Unterhosen schon zu. Wolldeckenladen nicht gefunden. Im Store gibt es nur Lebensmittel. Ich frage mich zum Campingplatz durch. Gallowhill Farm ist phantastisch. Fühlt sich skandinavisch an. Auch das Licht stimmt. Lange gleißende Sonne, durchsetzt von einem kleinen Schneeschauer. In einem Restaurant hatte man mir die Visit Scotland-Prospekte in die Hand gedrückt, hoch glänzend, die sich vor allem dem Thema Golf widmen. In Einzelseiten zerlegt und zerknüllt, stopfe ich mir das Teil unter die Jacke. Wärmt fast so gut wie die Gartennews.

Nun habe ich meinen ersten Sonnenaufgang erlebt. Schon um sechs Uhr etwa. Strahlend blauer Himmel.

Der Raureif ist mittlerweile weg getaut. So könnte es meinetwegen für den Rest der Reise bleiben. Kalt, aber ehrlich. Ich muss nur noch einen Lange Unterhosen-Laden finden.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

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* Koyaanisqatsi, 1982. Link zu Infos bei Wikipedia: hier klicken.

Modell zur Erklärung der Entstehung von Kräften anhand zweier Guesthäuser in Sunderland

Bis 12 Uhr Ortszeit trödele ich im B&B Areldee herum. Erster Stock, Zwischengeschoss, Hinterhof. Der Ausblick zur See ist mir nicht wichtig. Die Hinterhöfe, auf die ich blicke, haben etwas Trostloses. Wind zaust an den Bäumen, leichter Regen. Der prognostizierte Sturm kommt gegen Nachmittag. Ob ich das Zimmer überhaupt verlassen soll? Schreiben, telefonieren, schlafen. Mit dem Wasserkocher, der in jedem B&B und in jedem Hotelzimmer in England zu stehen scheint, koche ich Kaffee. Es steht immer ein Teller voller Teebeutel, Instantkaffee, bisschen Gebäck bereit.

Wie hart muss es einen Engländer treffen, wenn er bei uns Kontinentern in einem Hotel nur ein Päckchen Gummibärchen auf dem Kopfkissen findet? Allein mit der Minibar.

Als mir die Decke auf den Kopf fällt, ziehe ich die Regenkleider an, raus in den Sturm. Roker Lighthouse, der Leuchtturm auf dem zuvor geposteten Bild, ist ganz nah. Meterhoch schießen die Wellen über die Kaimauer. Ein Tor versperrt dem lebensmüden Touristen den Weg auf die Mole. Ich laufe Richtung Sunderland, direkt am Meer. Den N1-Radweg, den ich gestern bei der B&B-Suche verloren hatte, finde ich zehn Meter unterhalb meiner Straße wieder. Nicht auszudenken, wenn ich mich nicht verirrt hätte. Ich wäre unter dem B&B-Strich hindurch geradelt, raus nach Whitburn, immer am Meer entlang.

Wie schicksalhaft der gestrige Tag war, wird mir nun klar. Da oben müsste das andere Guesthouse liegen, in dem ich als erstes eingecheckt hatte. Nennen wir es die “Villa”. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeiradelte. Ein korpulenter Kerl kommt gerade zur Tür raus und so frage ich nach Zimmer, in der Annahme, dass ein Haus dieser Lage doch ausgebucht ist. Immerhin hört man das Meer rauschen und aus dem Fenster im ersten Stock hat man bestimmt prima Aussicht. Der Kerl ruft den Host, und bittet mich herein. Ich soll das Fahrrad im Auge behalten, in dieser Gegend wisse man nie. Der Host torkelt aus dem Essraum, sturzvoll, Alkoholfahne, sehr freundlicher Kerl. Er könne mir ein Zimmer geben “En Suite”, also Dusche und Klo im Zimmer, 25 Pfund. Ich bin baff. Schnäppchen, Schnäppchen, Schnäppchen, greifense zu junger Mann, greifen se zu! Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Das Treppenhaus riecht nach Säure, womöglich nach Erbrochenem und ein verschwitzter Kerl, der offenbar auch hier wohnt, kommt die Treppe herunter, um den Host etwas zu fragen. “Bin ich alleine in dem Zimmer?” – “Klar, sieh es Dir doch an.” Das Fahrrad holen wir zur Sicherheit in den Flur. Macht nix mit dem Schlamm und dem Schmutz … Im ersten Stock zeigt mir der Host das Zimmer, in dem drei Betten stehen. Es ist weder sauber, noch sehr schmutzig, ähnelt in gewisser Weise einer Herberge auf dem Camino, ist geräumig genug, um mein nasses Zelt auszubreiten. Röhrenfernseher. Das Türschloss ist herausgebrochen, trotzdem reicht mir der Host einen Schlüssel. Fürs Fahrrad zeigt er mir den Hinterhof, eine Müllkippe. In der Küche sitzt seine Frau vor Facebook am PC, die Katze streicht über die Tische im Essraum, in dem das Breakfast serviert wird und der Hund springt an mir hoch, leckt mir die Hand.

Ich weiß nicht, was mich geritten hat, einzuchecken. Schon trage ich meine Taschen aufs Zimmer, lasse mich auf einen Kunstlederstuhl fallen, der wie ein Behandlungsstuhl beim Zahnarzt aussieht. Analysiere die Situation: der Fernseher im Nachbarzimmer ist deutlich zu hören. Die Hauptstraße direkt vor der Tür ersetzt das Meeresrauschen. Das Fahrrad steht entweder unten im Flur unbewacht und wer weiß, wer hier spät nachts ein- und ausgeht, oder es kommt in den Hinterhof auf die Müllhalde und wer weiß, wer dort nachts ein- und ausgeht? Der Host ist ein netter Kerl, “und du hast ja gesagt, der Kontrakt ist besiegelt, breite deine Isomatte auf dem Teppichboden aus und schlafe diese eine Nacht hier”, sagt eine innere Stimme. “Es wird Sturm geben”, erwidert eine andere innere Stimme, “du wirst vielleicht Tage hier bleiben müssen.” Dass das Ding nur 25 Pfund kostet, ist sicher verlockend, aber für 25 Pfund womöglich eine Nacht mit Fußballfans zu verbringen, die bis in die Puppen feiern? Der örtliche Club hatte ein Heimspiel.

So steht die Zeit still, es ist fast 20 Uhr Ortszeit, die Nacht naht, Herr Irgendlink fasst den wahnwitzigen Entschluss, hinauszuziehen in den Sturm. Notfalls ein Campingplatz – in Whitburn gäbe es einen, fünf Meilen nördlich, sagt der Host. Er ist mir nicht böse. In seinem Blick lese ich, dass er weiß, wo er steht, dass das Leben es nicht gut gemeint hat mit ihm und seinem Hotel und der Frau und dem Hund und der Katze und der Gesamtsituation.

Der Sturm umzaust mich. Es ist halb drei tagsdrauf. Ich treibe fotografierend über die Strandpromenade Richtung Hafen und philosophiere über das Leben. Ein Hauch Nordseeluft erinnert mich an meine ersten Ferien am Meer, zusammen mit meiner Schwester und den Eltern auf der Insel Föhr. Das muss 1976 gewesen sein, oder früher, und ich habe dort meinen Ekel vor Krebsen erlernt und vor allem anderen Getier, das keine Knochen hat. Sandburgen gebaut. Ein glückliches Kind. Wie vielleicht auch mein gestriger Host einst eins war. Wie konnte es so weit kommen? Wieso sind nicht alle Menschen von Geburt an glücklich und bleiben es für immer, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwachen? Naiv kindlich und sentimental treibt mich der Wind vorbei an Anglern, die in voller Regenuniform am Hafenbecken stehen und auf den großen Fisch warten. Ich fabuliere an einer Bloggeschichte, in der ich ein fiktives Sunderland entwerfe, in dem es genau zwei B&B-Häuser gibt, und die nie voll ausgebucht sind. Das heißt, sie dürfen es sich nicht erlauben, auch nur einen Gast zu verpassen, müssen froh sein, um jede Seele, die an ihre Tür klopft, und der sie Herberge geben können. Ein hanebüchenes Bild. Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. Beide Häuser sind gleich ausgestattet zum Zeitpunkt Null, irgendeinem Jahr soundsoviel, die genaue Zeit ist unerheblich. Dem Gast kann es zum Zeitpunkt Null vollkommen egal sein, in welches Haus er einkehrt. Weder ist das eine schmutziger, als das andere, noch ist es billiger, noch ist die Aussicht aufs Meer besser oder schlechter. So mag man einige Jahre wirtschaften in den beiden Häusern, ohne dass irgendetwas sich verändert, bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird, an dem es mit dem einen Haus wirtschaftlich den Bach runter geht und mit dem anderen Haus geht es aufwärts. Fast schon ein Bild, mit dem, man die Welt erklären könnte mit ihrer sozialen und materiellen Ungerechtigkeit: der Reichtum der einen bedingt die Armut der anderen. Die Armut der einen macht die anderen reich. Und alles nur, weil die gesamte Welt, ja, sogar unser Organismus, nach diesem Kräftegleichgewichtsprinzip funktioniert. Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder. Das Gästehaus “Villa” wird nicht mehr so oft gebucht wie das Gästehaus “Areldee”. Somit ist sein Host finanziell schlechter gestellt, kann nicht mehr renovieren, was wiederum weniger Gäste anlockt, was zur Frustration führt, weshalb der Host zu Trinken anfängt, um sich zeitweilig dem Frust zu entziehen und so weiter und so fort. In Areldee hingegen weht ein ganz anderer Wind.

Völlig perplex von meinen windzerzausten Gedanken, die ich in dem Moment, in dem ich durch die Hafenanlage zwischen Roker und Sunderland laufe, für ein grundlegendes Welterklärungsmodell, ach was, für ein Modell zur Erklärung allen Seins halte, stehe ich vorm Glasmuseum der Stadt. Trete ein. Wärme. Cafeteria. Essensduft. Griff zur Brusttasche. Schwer wiegt der Geldbeutel, geschmeidig die Kreditkarte. Der Sturm ist vergessen. Mein Alkoholiker-Host von gestern verblasst. Ich bin froh, auf dieser Seite des Lebens zu sein. Kaufkräftig, fähig, sich Wärme zu leisten, ein Essen, etwas Besseres, nicht das Beste, Mittelstand.

Nachdem ich die “Villa” verlassen hatte, stehe ich nur einen halben Kilometer weiter vorm Areldee. In der Tür hängt ein Schild „Vacancies”, Zimmer frei und gleich daneben bleckt ein Schild mit einem Fahrrad darauf und “C2C”. Der Coast to Coast Radweg führt über 140 Meilen von der Irischen See bis zur Nordsee und er endet feierlich in Sunderland. Es gibt sogar eine Stempelstation und die letzten Kilometer des C2C radelt man auf einem Planetenweg, auf dem die Planteten maßstabgerecht von der Sonne bis zum Pluto aufgereiht sind. Im Areldee, ganz in der Nähe des C2C-Finals, sind Radler willkommen. Peter, der Host, ist ein drahtiger, freundlicher Kerl, erzählt von seinem Schwager, der den C2C in einem Tag geradelt ist, teilt mir Zimmer 9 zu. Das letzte freie Zimmer. Nach mir dreht er das Vacencies-Schild im Fenster um und auf der Rückseite ist No Vacencies zu lesen.

Im Glasmuseum, in dem der Eintritt frei ist, betrachte ich eine äußerst spannende Ausstellung, die sich mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt. In einem völlig dunklen Raum sind zwei sensible Röhren wie Gegenpole aufgestellt, wie guter Host, böser Host, wie gescheiterter und erfolgreicher Host, und zwischen den Röhren, die mit elektromagnetischen Sensoren ausgestattet sind, wird jede Bewegung der Besucherinnen registriert und ausgewertet. Je nachdem, was man tut, fängt einmal die eine Röhre an zu leuchten und zu summen, einmal die andere und so schaukeln sich die Kräfte hoch, entstehen wie aus dem Nichts, aus der Leere des Raums. Ein weiteres Kunstwerk ist ein Sechzehnmillimeter-Film aus dem Jahr 1967, der von dem kanadischen Künstler Michael Snow geschaffen wurde. Das ursprünglich fünfundvierzig Minuten dauernde Material hat er digital zerlegt und den Film übereinander gelegt – wenn ich es recht verstehe, wurde das erste Stück des ursprünglichen Films überlagert mit den rückwärts laufenden Bildern des letzten Filmspulenstücks, so dass eine fünfzehnminütige, konfuse Masse bewegter Bilder entsteht, die sich in der Mitte des remixten digitalen Films treffen.

Meine Lieben, dies mag ein konfuser Artikel sein, aber das Thema der Kräfte und deren Entstehung, und wie man sie ableitet, verändert, kanalisiert, auflöst, ist kein leichtes Lullifulligeblogge, glaubt mir. Seit Belgien arbeite ich an einem Artikel wie diesem, wusste bisher nur nicht, wie ich ihn aufzäume.

Es wird nicht der letzte sein.

Der gefiederte Seemannsknoten der Blogosphäre

Aufpäppeln! So steht es in einer Mail oder in einem Kommentar, den Hanne vor zwei drei Wochen geschrieben hat. „Aufpäppeln werden wir dich in Cley next the sea”. Damals war ich noch frisch. Das Wetter war gut, übermütig schrieb ich von zu überquerenden Zweibrücker Kreuzbergen, links stehn Bäume, rechts stehn Bäume und daneben Weidezäune, ich selbstgebastelter kleiner Reiseheld. Als ich vor drei Tagen in Cley angekommen bin, war das Wetter schlecht, meine Moral gut, der Körper in Ordnung. Trotzdem heilfroh, endlich aufgepäppelt zu werden.

Mein Englandbild, das immer noch höchst subjektiv ist, und das fast so schnell umschlagen kann wie das Wetter, hat langsam Kontur angenommen. Wie ein Maler, der die Technik der „Suchenden Linie” anwendet, um sich mit jedem unexakten Strich, den er seinem Bild hinzufügt, an das Endergebnis heranzutasten, kritzele ich an meinem virtuell fotografisch-literarischen Reiseblog.

Ich bin heilfroh, nun schon den dritten Tag in Cley zu verbringen. Körperlich geht es mir zwar bestens, aber wir haben gnadenloses Aprilwetter, mit Hagelschauern, Starkwindböen, und das Thermometer will partout die 12-Grad-Marke nicht überklettern. Das Sternenzimmer, in dem ich bei Klausbernd einquartiert bin, ist ideal für mich. Im Wintergarten schlafe ich so gut wie unter freiem Himmel, bin aber wind- und regengeschützt. Das Sternenzimmer ist im Tibet das beste Zimmer des Hauses, hat mir einmal Schauspieler M. erzählt. Es hat riesige Fenster, nach einer bestimmten Himmelrichtung und es wird eigentlich nur an besondere Gäste vergeben. Im alten Tibet hohe Mönche, heutzutage aber auch an Touristen.

Dienstags spaziere ich zum Strand. Es ist das erste Mal, dass ich “so richtig” Meer zu sehen und zu spüren bekomme. Salzluft, Himmel, Wasser und eine von Wellen gesäumte Linie dazwischen. Von Rhua Sila – Klausbernd hat in den Kommentaren schon erwähnt, dass die feineren Häuser in England Namen haben, Hausnummern sind verpönt – von Rhua Sila dauert es zwanzig Minuten durch Cley vorbei an Pub und Windmühle bis zum kilometerlangen Strand. Der Blick hinaus aufs offene Meer wird eingeschränkt durch einen Off-Shore-Windpark und im Westen sieht man einen riesigen Pott liegen, der sich überhaupt nicht vom Fleck bewegt. Es ist ein Wohnschiff, das nördlich von Wells die vielen Arbeiter beherbergt, die an dem im Aufbau befindlichen Windkraftwerk in der Nordsee schuften. Meine erste Amtshandlung am Meer: Muscheln sammeln. Im Kies schimmert ein Stück Perlmutt, paar Meter weiter ein Fetzen Tau, von dem nur noch der Knoten übrig ist, und das mit ein wenig Phantasie als Meeresspinne durchgehen könnte. UV-Licht und Salzwasser haben ihm arg zugesetzt. Steine hier, Steine dort, die, wenn sie frisch aus dem Wasser kommen, wunderbar glänzen. So laufe ich Richtung Westen über eine Kiesdüne, die zum Blakeney-Point führt. Der Blakeney-Point ist eine Art Halbinsel, die das kleine Haff abschließt, ein Vogelparadies. Und es gibt Robben dort.

Taschen voller Strandgut. „Und das willste alles aufm Rad mitnehmen?”, flüstere ich in den Wind. Ich bin alleine zwischen Haff und See, unter Himmel und über Erde, bin selbst auch nicht viel mehr als ein Stück Strandgut, wenn man die Szene vielleicht mit den Augen eines Außerirdischen beobachtet. „Auf die paar Gramm kommt es ja nicht an“, beruhige ich mich. Wenn ich eine extra Flasche Wasser aufs Rad packe, wiegt das ein Vielfaches. Das Bloggen kommt mir in den Sinn. All die Weblogs da draußen im Netz sind wie Strandgut. Man findet sie unter all den anderen nur, weil sie einem als etwas Besonderes scheinen, aber in ihrer Gesamtheit ist die Blogosphäre wie dieser Strand eine homogene, sich unmerklich verändernde, vibrierende Szene. Es ist unmöglich, sie so eindringlich zu studieren, dass man jedem einzelnen Stein, Tang, Muschel, Stück Betonmauer, Seestern, was-auch-immer, ungeteilte Aufmerksamkeit widmen kann. Du pickst dir die Dinge heraus, über die du zufällig stolperst. Ich finde einen kugelrunden schwarzen Stein, dem die Nässe einen eigenartigen Glanz verleiht. Halte ihn gegen die Sonne. Im Trocknen verliert er jeglichen Glanz. Das Neue ist oft nur deshalb so attraktiv, weil es mit der feuchten Patina des Ungewohnten überzogen ist. Ich feuere den Stein ins Meer. Wenn man verschiedene Menschen hier über den Strand schiclken würde mit der Aufgabe, zehn verschiedene Fundstücke einzusammeln, wie würde wohl ihr „Warenkorb” aussehen? SoSos Sammlung sähe ganz anders aus, als meine. Sie hätte den Seemannsknoten bestimmt nicht eingepackt und das Stück Knochen von-was-auch-immer vermutlich auch nicht.

Schon wieder die Blogosphäre in ihrer bunten, strandhaften Vielfalt. Ich leere meine Taschen, weil die Hose mittlerweile am Gürtel zerrt. Spätestens in Schottland, wenn ich mit dem Flugzeug nach Norwegen übersetze, kommt es auf jedes Gramm an. Dann fliegt sowieso alles weg und dann werde ich alles, wovon ich mich trenne, umsonst geschleppt haben. Ich hab noch einen Rucksack in Boulogne-sur-Mer. :-) Keinen einzigen Gegenstand, den ich dort gelassen habe, habe ich vermisst.

Die Kies gewordene Blogosphäre knirscht unter meinen Füßen, während die Wellen ständig neues Strandgut heranspülen. Längst kann ich nicht mehr unterscheiden, ob ich virtuell spaziere, und das, was mich umgibt sind Steine und Muscheln, oder Blogs. Menschenstimmen, Menschenmeinungen, die Geschichten der Mitstreitenden im engen Zeitfenster des eigenen gelebten Lebens. Muscheln sind Technikblogs, Knoten sind Reiseblogs, Krebsscheren sind Politblogs usw. Neben einem riesigen Stück Ziegelsteinmauer, das von einem Haus stammen muss, das sich das Meer wohl irgendwann einmal geholt hat, bleibe mich stehen. Sieht es nicht aus, wie ein deutsches Alphablog, ein Zehntausend-Klicks-am-Tag-Rüde voller Hormone? Ich bin verrückt. Die Sonne brennt. Meine Lippen sind verkrustet. Ich komme mir vor wie Clint Eastwood in dem Western, boa, wie hieß der noch, dieser Schinken mit den tollen Liedern, in dem er und zwei andere, Lee van Cleef spielt auch mit, nach einem Schatz suchen und sich gegenseitig durch die Wüste jagen und immer wieder gibt es Henkerszenen, in denen einer den Anderen vom Galgen befreit, indem er den Knoten zerschießt. Nach und nach werfe ich alle Steine, die ich zuvor gesammelt habe, wieder ins Meer.

Es ist utopisch, den Blakeney-Point noch zu erreichen. Das wird nix mit Robben heute. Zudem hat mich Klausbernd gewarnt, dass Ebbe und Flut an dieser Küste, von der man theoretisch bis zum Nordpol schauen könnte, wenn die Erde eine Scheibe wäre, im Jahr ungefähr fünfundzwanzig Menschen das Leben kostet, weil sie unachtsam den Gesetzen der Natur trotzten. Meine Taschen sind fast leer, als ich zurücklaufe. Ungewöhnlich lange „brennt” nun schon die Sonne zwischen zwei eiskalten Hagelschauern. Dieser Strand ist die Gesamtheit der menschlichen Gesellschaft im chaotischen Modell. Das sind wir, du, du, du und ich. Stein an Stein, Muschel an Muschel, Knoten an Knoten, undefinierbares Stück Etwas an undefinierbarem Stück Etwas liegen wir nebeneinander und geben von außen ein homogenes Bild ab. Wir durchwandern uns gegenseitig, begegnen einander, nehmen uns ein Stück mit, unsere Wege kreuzen sich, führen parallel, trennen sich wieder. Mal wird jemand geboren, mal stirbt jemand.

So ist das im Leben, rekapituliere ich, in einer Hütte sitzend, die letzten Stücke, die mir von meinem Strandgut geblieben sind, in den Händen haltend. Ich lege sie auf den Boden und mache Fotos davon.

Clint Eastwoodesk packe ich den Goldschatz in meine imaginären Satteltaschen auf dem imaginären Gaul meiner Literatur, binde dem Halunken, der mir das Leben so schwer gemacht hat, einen Strick um den Hals und heiße ihn, auf ein wackeliges Holzkreuz zu steigen, kehre ihm den Rücken, reite in den Sonnenuntergang und gewiss, ich bin ja kein Unmensch, werde ich den Henkersknoten mit einem Schuss durchtrennen.

Tausend Sklaven der Freiheit

Nachts wälze ich mich im Halbschlaf hin und her. Im Kopf spukt etwas von der Titanic, wohl, weil ich am Abend im Klausbernd Vollmars Blog einen äußerst interessanten Bericht über die Titanic gelesen habe: die Betrachtung des auf der Jungfernfahrt havarierten Luxusliners aus psychologischer Sicht. 100.000 Bruttoregistertonnen auf der Couch von C.G. Jung und Si(e)gmund Freu(n)d. Und auf der von Klausbernd Vollmar. Lest selbst (Link).

Die Titanic war eine stahlgewordene Menschenidee, genauso wie vielleicht meine Nordseerunde eine durch Muskelkraft in Bits und Bytes umgesetzte Menschenidee ist. Etwas, was dem Gehirn Einzelner oder Weniger entspringt, und sichtbar wird. Genau wie die Realisierung der Titanic, braucht die Realisierung jeder Menschenidee ihre Unterstützer. Ich habe das einmal die „Tausend Sklaven der Freiheit“ genannt. Um etwas großes in Gang zu setzen, eine Pyramide zu bauen, ein Autobahnnetz, ein Luxusschiff, braucht es immer die Unterstützung vieler Einzelner, die die Idee ebenso gut finden, wie der „Erfinder“. Im günstigsten Fall unterstützen die „Tausend Sklaven der Freiheit“ eine Idee aus freien Stücken, meist jedoch sind sie tatsächlich Sklaven, die durch wirtschaftliche Zwänge oder mit purer Gewalt von einer Idee überzeugt sind.

Nun hat es zu regnen begonnen. Den Zeltabbau um 7:30 Ortszeit, als es noch nicht geregnet hat, habe ich leider verpasst, trödele stattdessen bei Kaffee und Orangenmarmeladenbrot herum, schreibe diese Zeilen. Der Tag wird kompliziert. Ich will Abbey Wood Camping erreichen, nähe Greenwich, ein Katzensprung von London entfernt. Bin aber nicht sicher, ob ich an diesem Ostersonntag dort noch einen Platz finde. London beunruhigt mich. Der Alternativ-Zeltplatz im Lee Valley nördlich von London, dürfte 130 km entfernt sein.

Wildzelten: Gestern habe ich nördlich von Canterbury ein prima Wildzeltgebiet durchquert. Man weiß nie, wie sich die Gegend entwickelt. Ist sie offen und frei oder eng und eingezäunt? Vielleicht klammere ich den Tag Aufenthalt in London aus, da sich mein Kontakt von der Orange Dot-Gallery noch nicht gemeldet hat. Es ist ohnehin besser, von zu Hause via Paris in vier Stunden mit der Bahn nach London zu fahren Abends wieder zurück. :-)

(entfipptehlert, mit Links bestückt und gepostet von sofasophia)